Kirchen- und Religionskritik, Atheismus in der Musik?

  • selam aleikum, grüß gott und shalom:


    dass viele komponisten und interpreten sehr gläubige menschen waren, dürfte bekannt sein - und das gilt wohl nicht nur für personen wie bach, haydn usw, sondern auch für komponisten, die in sehr "ungläubigen zeiten" (ich vereinfache) eine tiefe religiösität in sich bewahrten: sei das in form von messiaens katholizismus oder dem esoterik-kitsch stockhausens.


    mich würde aber etwas anderes interessierne: wo in der musik gibt es kirchenkritik? wo gibt es grundsätzliche religionskritik? wo gar durchkomponierten atheismus?
    ich meine: viele moderne komponisten müssten doch vergleichbares gemacht haben? für einen modernen linken musiker aus italien, wie luigi nono, hätte sich das doch geradezu angeboten. oder was ist mit dem komponisten aus sowjetrussland? gibt es da nicht irgendwelche feuerbach-kantaten oder so :D
    tondichtungen über den "tod und charles darwin"? :D

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!

  • Maurizio Kagel: Die Erschöpfung der Welt.
    Dürfte eine großangelegte Verarschung der Schöpfungsgeschichte sein.
    Ich fürchte, dass diesem Thread keine lange Lebensdauer beschieden sein wird.
    :hello:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Ich fürchte, dass diesem Thread keine lange Lebensdauer beschieden sein wird.
    :hello:


    hm, wieso?

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!

  • Wir haben im Arvo Pärt - Thread schon ausführlich über Religon, Glaube, Gläubigkeit diskutiert. Und nach einer heftig, aber fair und - so denke ich - sachlich geführten Diskussion beschlossen, das Thema zu beenden, bevor es angesichts der gegensätzlichen und letztlich unvereinbaren Positionen böses Blut und ernsthafte Zerwürfnisse geben konnte.

  • Also ich weiß nur, dass Richard Strauss und Brahms beides Atheisten (Freidenker) waren. Bei Strauss ist es klar, er hat immerhin ein Werk Nietzsches vertont, bei Brahms könnte man sich schon wundern, da er immerhin ein Requiem komponiert hat. Aber Brahms hat ja eh immer die Musik der Musik wegen komponiert.
    Allgemein denke ich, dass es schwierig ist, den Glauben an nichts in der Musik zu vertonen - wie soll man "nichts" vertonen? Ich glaube generell nicht, dass religiöse Haltung in der Musik wirklich vertont werden kann - wenn jemand ein Werk als religiös empfindet, dann meiner Meinung nach hauptsächlich dadurch, dass Stilmittel, Klangfarben etc. verwendet wurden, die man mit geistlicher Musik und somit der Kirche in Verbindung bringt.


    @Robert: das hier ist ja jetzt eine Frage, die nicht direkt die persönliche Einstellung zur Religion betrifft, deswegen erhoffe ich mir zumindest, hier friedlich diskutieren zu können ;)

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

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  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Wir haben im Arvo Pärt - Thread schon ausführlich über Religon, Glaube, Gläubigkeit diskutiert


    naja, das könnte ich ja verstehen, aber es war ja gar nicht meine absicht, einen thread zu starten, wo es darum geht, ob der papst jetzt doof ist oder nicht, sondern einfach um obige themen in der musik: beim thema "der sturm in der musik" soll es ja auch nicht darum gehen, inwiefern der mensch durch umweltverschmutzungen wirbelstürme verursacht oder nicht.

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!

  • ...mit seiner 45min. Kantate "Novae de infinito laudes" (nach Texten von Giordano Bruno - 1600 als Ketzer verbrannt)
    ...fällt mir da SOFORT ein !!
    gibt`s (auch?) LIVE u.a. mit Edda Moser u. FiDi im Rahmen der Orfeo-Reihe (Salzburg-)"Festspiel-Dokumente"


    ...hab ich tatsächlich schon 2, 3mal eingeschmissen, weils mir draussen zu sehr gehweihnachtet hat...


    bye
    piet

  • Zitat

    Original von pieter.grimes
    ...mit seiner 45min. Kantate "Novae de infinito laudes" (nach Texten von Giordano Bruno - 1600 als Ketzer verbrannt)
    ...fällt mir da SOFORT ein !!
    gibt`s (auch?) LIVE u.a. mit Edda Moser u. FiDi im Rahmen der Orfeo-Reihe (Salzburg-)"Festspiel-Dokumente"


    DIE werd ich mir besorgen! ich bin immerhin mitglied in der giordano-bruno-stiftung *chrchr* :D


    (( und genau wegen sowas, wollte ich den thread gründen ;) ))

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!

  • Vor einiger Zeit habe ich im Forum die Frage aufgeworfen, wie F. Mendelssohn-Bartholdy zu dem von ihm vertonten Goethe-Gedicht "Die erste Walpurgisnacht" gestanden haben könnte, in dem explizit die Missionspraxis der christlichen Bekehrer im frühen Mittelalter verurteilt wird.


    Die "erste Walpurgisnacht"

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Der einzige Fall von vertonter Kirchenkritik, der mir spontan einfällt, ist die Es-Dur-Messe D 950 von Franz Schubert.


    In der Vertonung des Credo, also des Glaubensbekenntnisses, hat Schubert nämlich die Worte Et in unam sanctam catholicam et apostolicam Ecclesiam einfach weggelassen.


    Da lacht mein protestantisches Herz. :)


    Mit Gruß von Carola

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  • Hallo allerseits,


    der bereits genannte Richard Strauss notierte unter dem Eindruck des Todes seines Antipoden Gustav Mahler:
    Ich will meine 'Alpensymphonie' den "Antichrist" nennen, als da ist: Sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen, herrlichen Natur.


    :hello:
    Johannes

  • Zitat

    Original von Carola
    Der einzige Fall von vertonter Kirchenkritik, der mir spontan einfällt, ist die Es-Dur-Messe D 950 von Franz Schubert.


    In der Vertonung des Credo, also des Glaubensbekenntnisses, hat Schubert nämlich die Worte Et in unam sanctam catholicam et apostolicam Ecclesiam einfach weggelassen.


    Da lacht mein protestantisches Herz. :)


    Liebe Carola,


    auf die Gefahr hin, dass es völlig offtopic ist, möchte ich (als Altphilologiesympathisant) trotzdem darauf hinweisen, dass das "catholicam et apostolicam Ecclesiam" im Credo überhaupt nichts mit der katholischen Kirche zu tun hat. "katholikós" bedeutet im Griechischen "allumfassend"; das wurde dann ins Lateinische als "catholicus" entlehnt. Der Gedanke dabei ist, dass die Kirche weltweit (bzw. zumindest in der damals bekannten Welt) eine Einheit ist, eine Gemeinschaft, die das Wirken Jesu und der Apostel (daher das "apostolicam") fortsetzt. Dass die Westkirche dann ausgerechnet diesen Terminus zur Selbstbezeichnung verwendet hat, ist wohl ein bisschen unglücklich, aber nicht mehr zu ändern. Heutzutage könnte man wohl die Worte "Ich glaube an die heilige, katholische und apostolische Kirche" bewusst als Ausdruck eines Glaubens an die Ökumene sprechen - und in der Hoffnung, dass die christliche Kirche wieder eine Einheit wird.
    In der orthodoxen Liturgie heißt es übrigens nach wie vor im Credo "eis mían 'agían katholikèn kaì apostolikèn Ekklesían" - ohne dass sich einer daran stieße.


    Liebe Grüße,
    Martin

  • Bernd Alois Zimmermann:
    "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" (1970)
    Ekklesiastische Aktion für 2 Sprecher, Baß-Solo und Orchester.


    Das Stück verwendet Texte aus dem Prediger Salomo (Kohelet) sowie aus dem Kapitel "Der Großinquisitor" aus "Die Gebrüder Karamasow" von Fjodor Dostojewskij. Aus dem Romankapitel über die Wiederkunft Christi im 16. Jahrhundert in "der südlichen Stadt, in der gerade erst am Tage vorher in "prunkvollem Autodafé" in Gegenwart des Königs, des Hofes, der Ritter, der Kardinäle und der schönsten Hofdamen der Kardinal-Großinquisitor vor der zahlreichen Einwohnerschaft ganz Sevillas fast ein ganzes Hundert Ketzer auf einmal hat ad majorem gloriam Dei verbrennen lassen" (DTV-Ausgabe 1995, S. 335), zitiert die Ekklesiastische Aktion gerade die entscheidenden, besonders schmerzhaften Passagen, so auch das "Wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis!" (DTV-Ausgabe, S. 347), das der Großinquisitor zu dem gefangen genommenen Jesus spricht. Bei Dostojewskij setzt sich die Passage so fort: Vor genau acht Jahrhunderten haben wir von ihm das angenommen, was du entrüstet zurückgewiesen hast, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, als er Dir alle Reiche der Welt zeigte... (vgl. Matthäus 4)


    Zimmermanns Werk endet mit einem Zitat aus Johann Sebastian Bachs Kantate "O Ewigkeit, du Donnerwort" ("Es ist genug..." ) als dem letzten Kommentar. Fünf Tage nach Vollendung des Werkes - am 10. 8. 1970 - nahm sich Bernd Alois Zimmermann das Leben.

  • Weill/Brecht: "Die Sieben Todsünden", "Berliner Requiem", "Dreigroschenoper" u.v.a. üben zwar in erster Linie Gesellschaftskritik und solche an heuchlerischer Doppelmoral, aber das geschieht u.a. auch durch Verfremden religiöser Musik- und Textelemente. Natürlich weil die Doppelmoral und die Rechtfertigung ungerechter Verhältnisse allzu häufig religiös unterstützt wurde.


    Besonders schön ist das bei den Sieben Todsünden zu sehen, die einen äußerst ambivalenten Charakter erhalten (um Geld zu verdienen werden alle Sünden von der Familie sogar erwünscht und gefordert).
    Der Morgenchoral des bigotten Bettlerkönigs Peachum ist allerdings eine recht enge Nachdichtung der Vorlage Gays, sowas ist also nicht ganz neu...


    Wach auf, du verrotteter Christ!/ Mach dich an dein sündiges Leben/ Zeig, was für ein Schurke du bist/ Der Herr wird es dir dann schon geben. usw.


    Through all the employments of life/ each neighbour abuses his brother;/Whore and rogue they call husband and wife:/ Alle professions be-rogue one another. usw.


    Komponisten, die recht berühmte geistliche Werke komponierten, obwohl ein, vorsichtig ausgedrückt distanziertes Verhältnis zu Religion und Spiritualität bestand, sind außer Brahms Janacek und angeblich auch Verdi.
    (ist zwar nicht das Thema hier, m.E. aber hinreichend, um eine der zentralen in jenem seinerzeit geschlossenen Thread Thesen weitestgehend zu entkräften...)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Glaubenszweifel und Kirchenkritik werden auch in Leonard Bernsteins 3. Symphonie "Kaddish" und vor allem in dessen "Mass" thematisiert.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Freundlicher Gruß
    Alexander

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  • Sie bleibt zwar vermutlich in einem Rahmen, der die grundsätzliche Berechtigung der Kirche nicht in Frage stellt, aber schon in den Carmina Burana finden sich ja mitunter derbe Parodien auf kirchliche Ämter und Zeremonien: Der Abt oder Papst der Zecher, die "fratribus perversis", "monachis dispersis", "sororibus vanis", auf die im großen Trinklied angestoßen wird ("sed pro papa et pro rege bibunt omnes sine lege" zeigt allerdings vielleicht, dass zwar Auswüchse und Hierarchien verspottet, aber die prinzipielle Ordnung nicht in Frage gestellt werden).
    Ähnliches gibt es auch in der französischen Musik des Mittelalters und Spätmittelalters (im Roman de Fauvel macht ein Esel Karriere).


    Und die reformatorischen Kampfgesänge nicht zu vergessen. Noch Bach vertonte Luthers "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort/ und steur' des Papst und Türken Mord,/ die Jesum Christum deinen Sohn,/ wollen stürzen von seinem Thron."



    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)