Jens Malte Fischer - Gegenpapst zu Kesting oder Nachfolger auf dem Heiligen Stuhl?

  • Liebe Taminos,


    weil der Kesting-Thread drohte, aus dem Ruder zu laufen, hier die Parallele zu Jens Malte Fischer, dessen "Große Stimmen" mittlerweile ein ähnliches Standardwerk für Gesangsfetischisten sein dürften wie das Opus magnum Jürgen Kestings. Verständlich und vor allem gut lesbar geschrieben, bietet es viel und kompetente Hilfe zur Orientierung und zum Nachhören.


    Was haltet Ihr von Fischer? Orientiert er sich tatsächlich zu stark an Kesting (würde ich so nicht unterschreiben)? Wie beurteilt Ihr seine anderen Werke (Mahler-Biographie, Kleiber-Gedenkessay etc.)?


    Gruß an alle,



    Christian

  • Ich schätze Prof. Dr. Jens Malte Fischer außerordentlich wegen seiner sachlichen Art, Zusammenhänge für Nichtfachleute verständlich zu machen. Seine Veröffentlichungen sind eine wahre Fundgrube für Musikliebhaber und gleichermaßen lehrreich wie unterhaltsam.
    Besonders aufmerksam wurde ich auf ihn durch seine 1998 vom Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlte Sendereihe in 20 Folgen (= 20 Stunden) Fritz Wunderlich - die unvergessene Stimme. Ein Zeitdokument mit vielen zuvor unveröffentlichten Aufnahmen des Künstlers, die seinen Werdegang sehr deutlich machen.
    Seine "Große Stimmen" von 1993 sind nicht mehr ganz aktuell, geben aber viele Detailinformationen namhafter Stimmen wieder.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Hallo Christian,


    zu den "Großen Stimmen" kann ich nur wenig sagen - reingeschaut habe ich mal, aber sonst wurde von mir doch eher Kesting (in der dreibändigen Ausgabe) konsultiert. Allerdings bin ich auch kein Gesangsfetischist. :D


    Umso mehr begeistert bin ich von Fischers Mahler-Biographie, die hier im Forum auch schon des öfteren gelobt wurde. Sie erscheint mir fast als das Ideal einer Komponistenbiographie: tiefe Liebe zum behandelten Gegenstand, ohne unkritisch zu sein, vorbildliche Seriosität in der historischen Darstellung (soweit von mir nachprüfbar), stupende Kenntnis und Darstellung des kulturgeschichtlichen Kontextes, Ausgewogenheit zwischen biographisch nacherzählenden und thematisch vertiefenden Kapiteln, bei heiklen biographischen Fakten absolute Offenheit ohne Voyeurismus, dafür aber mit großer Sensibilität. Wenn man sich näher mit Mahlers Werk beschäftigen will, muss man andere Literatur (Floros, Eggebrecht etc.) konsultieren - dafür ist eine Biographie nicht da. Trotzdem sind auch die Kapitel zu den Liedern und Symphonien Mahlers sowie die abschließende Diskographie überaus lesenswert. Beispielhaft das kurze, aber sehr informative Kapitel über "Mahler und die Nachwelt". Die (nur auf Französisch und z.T. auf Englisch vorliegende) Biographie von La Grange ist sicher wesentlich ausführlicher und detailfreudiger - ob sie "besser" ist, sei mal dahingestellt (ich habe nur einen Band auszugsweise gelesen).


    Den Carlos-Kleiber-Essay wollte ich immer aus der Bibliothek ausleihen. Das werde ich demnächst wirklich mal tun.


    Vorbildlich übrigens auch die kommentierte Edition von Wagners "Judentum in der Musik" bei Insel.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Ob Kesting oder J.M. Fischer - wer sich für Vokalmusik interessiert, muss in ihren Werken lesen. Aber ich muss mich auch stets ärgern, wenn ich in solchen Büchern lese, weil aus rein praktischen Gegebenheiten oft kein rechter Gewinn aus dem Gelesenen zu ziehen ist.
    Beispiel:
    Da schreibt J.M. Fischer über den Sänger Karl Erb "sein Timbre war von seltener reizlosigkeit" und empfiehlt zum Vergleich sich mal den Heinrich Hensel anzuhören.
    Nun, von Karl Erb habe ich vermutlich alle Aufnahmen, aber wie komme ich zu einer Aufnahme von Heinrich Hensel? Es war mir bisher nicht möglich, eine solche Aufnahme zu erwerben, also kann ich mit solchen Empfehlungen nichts anfangen. Oder gehört eine Aufnahme mit Heinrich Hensel einfach zu jedem gut geführten Haushalt?

  • Lieber Hart,


    ob Aufnahmen mit Heinrich Hensel in jeden gut geführten Haushalt gehören, kann ich nicht beantworten. Deine Neugier aber mögen folgende CDs stillen:



  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Sowohl Kesting als auch Jens Malte Fischer sind hoch renommierte Fachautoren und erfahrene Kritiker. Kesting war immer stark auf Gesang, Stimmen und Oper konzentriert. Fischers Arbeiten und Veröffentlichungen decken ein breiteres Feld der Musik ab.
    Die angeführten Standardwerke für Sänger von Fischer und Kesting sind beide lesenwert, besonders im Vergleich der Aussagen über einzelne Künstler. So anregend und erhellend diese Lektüre ist, sie erspart die Reflexion des eigenen Erlebens und das kritsche Hinterfragen der Kritikemeinungen nicht.
    Wir sollten jetzt nicht der Versuchung erliegen, Fischer und Kesting gegeneinander auszuspielen - Päpste und Gegenpäpste und vielleicht noch "Kaiser" zu krönen - sondern uns sachlich mit den Gesamtwerken oder den Aussagen über einzelne Sänger auseinandersetzen, wie im Falle von Fischers Urteil über Karl Erb bereits geschehen.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Zum Thema des Threads:


    Ich hatte das Buch "Große Stimmen" von Jens Malte Fischer lange bevor ich mir Kestings Standardwerk schenken ließ. Ich habe viele Anregungen daraus erhalten. Ich gehe nicht mit allen seinen Wertungen konform, z. B. konnte ich seine Bewertungen von Mario del Monaco als Otello (Cleva - de los Angeles - Warren, 1958 live) oder Ramon Vinay als Tristan (Karajan, Mödl, Bayreuth live 1952) anhand der empfohlenen Aufnahmen nicht so recht nachvollziehen - und dies sind sicher zentrale Rollen im jeweiligen Repertoire und Sänger mit herausragender Bedeutung in ihrem Fach.


    Es wird auch einiges nicht abgedeckt. So fehlen mir z. B. ein paar Sätze über den Liedsänger Hans Hotter, der nur als Wagnersänger gewürdigt wird.


    Trotzdem ein sehr lesenswertes Buch, das hohe Folgekosten in Form von CDs nach sich ziehen kann und in der Regel auch wird.


    Operus hat natürlich vollkommen recht: Es ist kein Gesetzbuch, das man so hinnehmen sollte/muss wie es ist, sondern gewinnt seinen Wert erst in der kritischen Auseinandersetzung mit den darin getroffenen Aussagen.


    Doch kann ein solches Buch durchaus den Blick weiten und die Wahrnehmung auf Details lenken, die man vorher überhört hat. Das heißt, die kritische Auseinandersetzung findet nach der Lektüre und dem Hörvergleich auf einer anderen Basis statt.


    Wegen des stattlichen Preisunterschiedes ist es vielleicht die sinnvollere Anschaffung vor dem Kesting-Buch (trotz dessen Neuausgabe als Taschenbuch) - nach dieser Lektüre weiß man genauer, ob man sich wirklich durch den vierbändigen Koloss zu wühlen bereit ist.

  • Ich hatte das Buch "Große Stimmen" von Jens Malte Fischer lange bevor ich mir Kestings Standardwerk schenken ließ. Ich habe viele Anregungen daraus erhalten. Ich gehe nicht mit allen seinen Wertungen konform, z. B. konnte ich seine Bewertungen von Mario del Monaco als Otello (Cleva - de los Angeles - Warren, 1958 live) oder Ramon Vinay als Tristan (Karajan, Mödl, Bayreuth live 1952) anhand der empfohlenen Aufnahmen nicht so recht nachvollziehen - und dies sind sicher zentrale Rollen im jeweiligen Repertoire und Sänger mit herausragender Bedeutung in ihrem Fach.

    Mir ging es ebenso. Trotzdem freue ich mich, dass ich beide habe. "Kaiser" brauchen wir nicht mehr zu krönen, die haben wir überall (Franz; Joachim) usw.
    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Verglichen mit Jürgen Kesting ist mir Jens Malte Fischer, was seine formulierungen anbelangen entschieden zu schwammig
    Zitat:" die Wahrheit liegt wohl irgentwo dazwischen "und ähnliches.


    Auch sein Kommentar über Serge Lemeschev, 5 Zeilen !?!.
    Dort erfährt man lediglich :" .. eine männliche attraktive Stimme auch in Partien, in denen man einen leichteren, säuselnderen Stimmklang erwartet, ein Sänger der vielleicht am ehesten mit Peter Anders zu vergleichen ist."
    Zwei Fragen nötigen sich mir hier auf.
    1. Was ist eine männliche Stimme, wann klingt eine Stimme männliche.
    Hatte Mario del Monaco eine männliche Stimme?
    Wenn ja, klang dann etwa die Stimme von Jussi Björling weiblich, oder liegt etwa auch hier die WAhrheit wieder irgentwo dazwischenm, also androgym !?!.
    2. Frage
    In welcher Rolle möchten wir denn bitte schön eine säuselnde Stimme hören?
    Welche Rolle verlangt nach einer säuselnden Stimme?
    Vielleicht ist meine Sammlung ja doch zu bescheiden, verglichen mit der die Jens Malte Fischer haben muß, aber mir ist bis heute nicht eine einzige Rolle bekannt, die nach einer säuselnden Stimme verlangt, geschweigeden wo ich erleben möchte
    Aber ich erwarte gern Gegenvorschläge.


    Auch der Absatz über Georgie Nelepp ist unergiebig, in dem gesamten 8 Zeiler erfährt man etwas über die unarten anderer russischer Tenöre und lediglich ( 1904-1957 gelebt ) und das Atlantov seine Rollen seit den sechzigern übernommen hat.
    Da erfährt ja in der Galina Vishnevskaya Biographie mehr über beide Sänger oder zählen beide nur weil sie Russland gelebt und gesungen haben deshalb nicht zu den wichtigen Sängern.
    Einspruch aber ganz entschieden.

  • Hallo Sven,


    ich bin ganz Deiner Meinung.


    Das Werk "Die großen Sänger" - die neueste, überarbeitete Ausgabe - von Jürgen Kesting ist phänomenal. Meiner Meinung nach analysiert Jens Malte Fischer die Stimmen nicht annähernd so kompetent und fundiert wie Kesting. Man muss mit Kesting nicht immer einer Meiniung sein, aber er erkennt sofort Gutes und Schlechtes und bringt es auf den Punkt. Ich persönlich hätte den Vergleich Jens Malte Fischer - Jürgen Kesting erst gar nicht gezogen. Kestings Werk ist momentan einzigartig, monumental und wird auch in den nächsten Jahrzehnten von einem anderen Kritiker in diesem Umfang wohl nicht vorgelegt werden können.


    LG
    Manfred

    "Menschen, die nichts im Leben empfunden haben, können nicht singen."
    Enrico Caruso


    "Non datemi consigli che so sbagliare da solo".
    ("Gebt mir keine Ratschläge, Fehler kann ich auch allein machen".)
    Giuseppe di Stefano

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Lieber Wolfram,
    besten Dank für Deinen Tipp vom 19. Januar 2011. Das war jetzt für mich die erste "heiße Spur" auf der Suche nach dem Lied-Sänger Heinrich Hensel. Leider ist auf dieser blauen Schubert-CD nur "Frühlingsglaube" von Hensel gesungen drauf. Zudem soll diese CD 45.- Euro kosten, aber dafür kannst Du ja nichts ...
    Und noch einen weiteren Gewinn konnte ich aus diesem Tipp ziehen - die Bekanntschaft mit dem Sänger George Henschel, wegen der Namensähnlichkeit ... dieser ist auf YouTube zu hören.