Das Vibrato in der Barockmusik

  • Zum Vibrato gibt es hier schon den einen oder anderen Thread. Mir geht es hier aber um etwas Spezielleres.


    Es war einmal, dass sich das, was sich heute als hiP bezeichnen lassen muss, unter anderem durch eine gerade, vibratofreie Tonerzeugung auszeichnete. Heute halten sich die meisten Instrumentalisten daran. Bei den Sängern sieht es anders aus. Da wird gejodelt, dass man den notierten Ton nur noch raten kann – und das auf aber auch jeder Note.
    Und dann werden hier solche Darbietungen auch noch von solchen bejubelt, deren Ohren vom vielen Barock eigentlich Akanthusornamenten gleichen müssten. Warum ist das so?


    Um es den Gegenrednern nicht zu leicht zu machen:
    Wer sich einmal durch „Das Vibrato in der Musik des Barock“ von Greta Moens-Haenen geackert hat, wird weder Argument noch Beleg für diese jammervolle Praxis des Dauerschwankens gefunden haben.
    Daraus ergibt sich auch: Beim Einsatz des Dauervibratos begibt man sich einer starken Verzierung. Denn das Vibrato gab es schon, es wurde aber bewusst und in vielen Abstufungen als affekt- und rhetorikbezogene Verzierung und Verstärkung eingesetzt.


    Also: Warum werden hier Aufnahmen beklatscht, bei denen man beständig an Fliegeralarm denken muss? ?(

  • Hallo Hildebrandt,
    ich weiß ja nicht, wie alt Du bist,aber der Fliegeralarm
    war völlig ohne Vibrato.
    Ich denke eher bei einem vibratolosen Ton an "Entwarnung". :D


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Lieber Hildebrandt,


    was Du schreibst, klingt interessant und überzeugend. Das Problem ist nur, dass ich dieses von Dir monierte sängerische Dauervibrato bei HIP-Aufnahmen nicht so ohne weiteres heraushören kann. Wenn Du also ein oder zwei Beispiele hättest, wäre das sehr hilfreich.


    Mit Gruß von Carola

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    aber der Fliegeralarm
    war völlig ohne Vibrato.
    Ich denke eher bei einem vibratolosen Ton an "Entwarnung". :D



    Hallo Herbert,


    natürlich hast Du Recht, nur hat bei mir offensichtlich eine Bedeutungsübertragung stattgefunden: Heulton = jetzt wirds schrecklich :D

  • Zitat

    Original von Carola
    Wenn Du also ein oder zwei Beispiele hättest, wäre das sehr hilfreich.


    Hallo Carola,


    stimmt, Beispiele fehlen noch.
    Ein Name, der mir sofort einfällt, ist
    Barbara Schlick,
    die mir trotz wunderbarer Stimme die ersten Kassetten von Koopmans Kantaten-Gesamtaufnahme mit Permanentvibrieren verleidet hat.


    Sowie mir eine weitere Heulboje vor die Ohren kommt, was garantiert eher früher als später der Fall sein wird, werde ich sie hier entlarven. :D

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  • Hallo Hildebrandt,


    vielen Dank für das Beispiel. Barbara Schlick also.


    Ich habe mir daraufhin aus dieser Koopman-Box



    eine Sopranarie aus BWV 152, "Tritt auf die Glaubensbahn" mit Barbara Schlick angehört, und zwar die wunderschöne Arie "Stein, der über alle Schätze". Daraufhin zum Vergleich in der selben Box aus BWV 41, "Jesu, nun sei gepreiset" die Sopranarie "Laß uns, o Höchster Gott", gesungen von Sybilla Rubens.


    Auch, wenn ich den Unterschied im Einsatz des Vibratos (nach Deinem Hinweis) nun hören kann, gestört hat es mich eigentlich nicht, weder Fliegeralarm noch Entwarnung noch Heulboje kamen mir beim Hören in den Sinn. Unabhängig davon, wie es zur Entstehungszeit geklungen haben mag (das war ja ohnehin ein Knabensopran), finde ich Schlicks Gesang jedenfalls nicht unpassend für diese konkrete Arie.


    Mit Gruß von Carola


    PS. Gibt es eigentlich auch männliche Sänger mit dem von Dir beanstandeten Dauervibrato in der Barockmusik?

  • Mir hat mal eine Sängerin erzählt, dass Vibrato insofern etwas "Natürliches", weil jede Stimme (im Alter übrigens stärker) dazu neigt. Teil des Gesangsunterrichts ist also die Erzielung eines "geraden" vibatolosen Tons, den mit kann man/frau sozusagen von selbst. In den meisten Folkloremusiken (in der kurdischen z.B., mit der ich berufsmäßig z.Zt. viel zu tun habe), wird noch weitaus heftiger vibriert, da kommt nur belcanto mit.
    Das Vibrato hat den Nachteil, dass es fast jede andere tonbildende Verzierung unmöglich macht. Also muß man es kontrollieren, in der Stimme wie im Instrument, und andere Möglichkeiten trainieren. Reinhard Goebel hat mal klug geäußert, dass die Mahnung zur Zurückhaltung in fast allen älteren Musiktraktaten auf vieles hinweist:
    1. dass es praktiziert wurde
    2. dass wahrscheinlich auch damals schon übertrieben wurde und
    3. dass es eine Notwendigkeit war es zu beherrschen, um die Vielfalt der Tongebung zu steigern


    Ich persönlich habe nichts gegen Vibrato, wenn es gezielt und nicht zu heftig eingesetzt wird, und nicht um Intonationsschwächen zu verdecken. Im Ensemble (z.B. Streicher) finde ich es sehr problematisch, weil es die intonatorischen Probleme nur verstärkt. Schön finden kann ich Dauervibrato bei aller Bemühung einfach nicht. Ich esse ja auch nicht alles mit der gleichen Soße ...

  • Zitat

    Original von Carola
    und zwar die wunderschöne Arie "Stein, der über alle Schätze".


    Daraufhin habe ich die Arie in derselben Aufnahme angeworfen, aber nach den ersten Takten wieder gestoppt. Das ist genau das, was meiner Meinung nach schon mal gar nicht geht: Ausgerechnet auf dem Wort "Stein" ein solches Vibrato. Das lässt sich auch nicht mit der Methode begründen, dass es auf längeren Noten statthaft sei, ein Vibrato anzubringen. Wohlgemerkt "anbringen", nicht die ganze Notendauer durchvibrieren. "Stein" ist fest, und auf diesen hier wird "über alle Zeit" der Glauben als "Grund der Seligkeit" gesetzt. Wozu dann so ein Tongewackel?
    Für mich wäre die Exegese dieses Textes Anlass gewesen, der Sängerin bei Vibratowiederholung mit der Narrenkappe zu drohen.


    Es geht mir ja nicht um Vibratoverbot, sondern um Dauervibratoverbot bei alter Musik. Dort ist das Vibrato ein starkes Mittel, aber wieviel Stärke besitzt ein Mittel, das ich bis zur Abnutzung und zum Überdruß immer und überall einsetze?


    Zitat

    PS. Gibt es eigentlich auch männliche Sänger mit dem von Dir beanstandeten Dauervibrato in der Barockmusik?


    Jede Menge. Sobald mir wieder einer begegnet, werde ich ihn hier verpetzen. :D

  • Als Saengerin sage ich dazu Folgendes: Vibrato ist der freien (!), gutausgebildeten Stimme natuerlich, wichtig und sollte nicht unterdrueckt werden. Vibratolos ist festgehalten und damit mit Vorsicht zu geniessen. Gerade Anfaengerstimmen sind oft relativ vibratolos, also genau das Gegenteil von dem, was hier behauptet wird.


    Im Barockgesang haengt es aber davon ab, WIE stark das Vibrato augepraegt ist, und es gibt auch Stimmen, die eben groesser sind und daher nicht unbedingt fuer den Barockgesang geeignet, da ihr Vibrato in aller Regel ausladender ist.
    Das sollte aber nicht dazu fuehren, dass solche Stimmen sich kastrieren und zurueckhalten, sondern eher dazu, dass sie vielleicht ihren Schwerpunkt auf das ihnen angemessene Repertoire legen.


    Nun hat trotzdem jede Stimme aber eine Bandbreite, und es ist durchaus moeglich, Haendel anders zu singen als Verdi. Aber eben nur zu einem gewissen Grad. Und das unterscheidet die menschliche Stimme von allen anderen Instrumenten ...

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  • Zitat

    Original von Eponine
    Als Saengerin sage ich dazu Folgendes: Vibrato ist der freien (!), gutausgebildeten Stimme natuerlich, wichtig und sollte nicht unterdrueckt werden. Vibratolos ist festgehalten und damit mit Vorsicht zu geniessen. Gerade Anfaengerstimmen sind oft realtiv vibratolos, also genau das Gegenteil von dem, was hier behauptet wird.


    Ein Naturvibrato wird in den Quellen durchaus gutgeheißen. Nur wird es verglichen mit dem Ausschwingen einer tiefen Cembaloseite oder dem Klang einer großen Glocke; es geht also mehr um ein Oszillieren als um ein Vibrato im heutigen Sinn.


    Zitat

    Im Barockgesang haengt es aber davon ab, WIE stark das Vibrato augepraegt ist, und es gibt auch Stimmen, die eben groesser sind und daher nicht unbedingt fuer den Barockgesang geeignet, da ihr Vibrato in aller Regel ausladender ist.
    Das sollte aber nicht dazu fehren, dass solche Stimmen sich kastrieren und zurueckhalten, sondern eher dazu, dass sie vielleicht ihren Schwerpunkt auf das ihnen angemessene Repertoire legen.


    Dann wirds möglicherweise manchmal schwierig, denn wenn noch Brahms grummelte "Vibrato gehört ins Caféhaus" wird das Repertoire möglicherweise schmaler als gedacht. Aber bleiben wir lieber im Barock.


    Zitat

    Nun hat trotzdem jede Stimme aber eine Bandbreite, und es ist durchaus moeglich, Haendel anders zu singen als Verdi.


    Das hoffen wir alle, manche SängerInnen halten sich bloß nicht daran.


    Zitat

    Aber eben nur zu einem gewissen Grad. Und das unterscheidet die menschliche Stimme von allen anderen Instrumenten ...


    Wenn ich die vielen ausführlichen und hochdiferenzierenden Anleitungen für die unterschiedlichsten Arten des Vokalvibratos als Verzierungstechnik lese, muss ich davon ausgehen, dass ein durchgängiges starkes Vibrato – im heutigen Sinn, im Barock wäre es wohl dem Tremolo zugerechnet worden – diese Differenzierungen von vornherein unmöglich macht, folglich auszuschließen ist.
    Was z. B. Barbara Schlick singt, lässt sich nicht mit dem Begriff Naturvibrato umschreiben. Da ein Verzierungsvibrato anzubringen würde ein Zurücknehmen des Dauertremolierens bedeuten.

  • Lieber Hildebrandt,


    Ich möchte Dich einmal vorsichtig fragen ob Du die Dirigentin


    Nadia Boulanger, oder die Dirigenten und Chorleiter: Günther


    Ramin, Karl Forster, Karl Münchinger, Karl Richter, Wolfgang


    Gönnenwein, Nicolaus Harnoncourt u.v.a. für inkompetent hältst,


    weil sie Barockmusik nicht ohne Vibrato aufführen, oder


    aufgeführt haben ?


    Was ist mit Sängerinnen wie Cecilia Bartoli oder Vivica Genaux,


    die sich vorwiegend der Barockmusik verschrieben haben ?


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.



  • Lieber Herbert,


    wer wäre ich, auch nur den Geringsten unter ihnen die Schuhbänder zu lösen?


    Fangen wir einmal vorne an: Als ich zum ersten Mal hörte, wie Harnoncourt und Leonhardt ihre Sänger ohne Vibrato amtieren ließen, habe ich mich gefragt, wie kommen die dazu? Meine bisherige Kost waren ja auch die Aufnahmen, die von Richter über Mauersberger bis zu Wenzinger reichten und mit dem Vibrato so umgingen, wie ich das gewohnt war.
    Also stieß ich beim Suchen auch auf Quellen, las die eine oder andere Äußerung der damaligen hiP-Avantgardisten und fand es einsichtig genug, um mich umzugewöhnen.


    Das dicke Buch von Moens-Haenen erschien erst 1988 und ist eine aktualisierte Neuauflage ihrer Dissertation, die von Harnoncourt angeregt und mitbetreut wurde.
    Sie hat so viele Quellen zusammengetragen und ausgewertet, dass die Lage durch und mit ihrer Arbeit sehr übersichtlich geworden ist. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass mehr als die eine oder andere marginale Textstelle dazu noch auftauchen kann. Sine ira et studio: Das Blatt wird sich nicht zugunsten eines Dauervibratos wenden lassen.


    Das ist das eine. Die andere Seite betrifft den Vorsprung, die die Musikwissenschaft immer vor den Ausführenden hat, wobei es nicht nur um die vokale Aufführungspraxis geht. Das ist ja etwa bei der Instrumentenkunde und selbst bei der Auffindung und Editierung unbekannter oder verschollener Kompositionen nicht anders. Was jetzt manchmal ersteingespielt und anschließend oft zu Recht gefeiert wird, steht in irgendwelchen Monumenta-Bänden vielleicht schon seit bald 100 Jahren in jeder Institutsbibliothek. Ähnlich sieht es mit spezielleren Themen aus, die allerdings manchmal in irgendwelchen apokryphen Tagungsberichten und Jahresgaben veröffentlicht werden.


    Nun kann das Tagwerk eines Ensembleleiters sich nicht immer auch darauf erstrecken, aufwändige Literaturrecherchen zu betreiben, mit dem Erscheinen der Moens-Haenen-Arbeit sieht die Sache allerdings anders aus.
    Wenn ich jetzt noch den Anspruch erhebe, der historischen Aufführungspraxis verpflichtet zu sein und trotzdem eben so etwas wie Dauervibrato zulasse – es gibt ja noch andere Felder, auf denen anders gehandelt wird als es die derzeitige Forschungslage ermöglichen würde –, dann stimmt etwas nicht.


    Alle von Dir genannten Dirigenten haben ihre Einspielungen und Aufführungen entweder z. T. weit vor Bekanntwerden der Ergebnisse der "Vibrato-Forschung" begonnen bzw. schon lange hinter sich und sind damit völlig aus der Diskussion. Oder sie gehören dem traditionellen Lager an und pfeifen auf hiP. Dann kann man sie ebenfalls nicht als inkompetent schelten.
    Anders sieht die Sache bei Harnoncourt aus, der als Vorreiter der vibratolosen Zunft gestartet war, in seinen jüngeren Aufnahmen wie dem Messiah aber wieder mit Vibrato singen lässt. Möglicherweise hat er dafür gute Gründe. Die hat er aber bisher für sich behalten.


    Was ich nicht möchte: Dass hier wieder eine Diskussion um hiP oder nicht-hiP entbrennt. Mir geht es bei dem Thema ausschließlich um diejenigen Sänger, aber auch Instrumentalisten und Ensembleleiter, die sich der historichen Aufführungspraxis verschrieben haben. Eine Herabsetzung der Aufführungspraxis alter Schule will ich nicht damit verbunden wissen.


    Hoffentlich konnte ich Deine Bedenken ausräumen.
    Hildebrandt

  • Lieber Hildebrandt,


    dann sind wir uns ja noch einig geworden.


    Ich liebe Barockmusik mit Vibrato, und akteptiere


    Barockmusik ohne Vibrato,( wenn ich sie nicht hören muß)


    und bei Dir ist es genau umgekehrt. Ist das nicht toll ?


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Ist das nicht toll ?


    Na sicher. :D


    Mich interessieren aber noch weitere Meinungen von PraktikerInnen wie Eponine.
    Wie weit lässt sich ein natürliches Vibrato durch Ausbildung beeinflussen? Und beim Singen kontrollieren?
    (Wobei mir im Hinterkopf auch die – zugegeben seltsame – Frage herumgeht, ob die Menschen vor 300 oder 400 Jahren andere Kehlen und Stimmbänder als heute gehabt haben?)
    Fehlt vielleicht bei der Gesangsausbildung manchmal der Aspekt der alten Praxis?
    Lernt man die alten Vibratotechniken?
    Welche Gründe kann es geben, in hiPen Aufführungen/Einspielungen Dauervibrato-SängerInnen zu beschäftigen?

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  • hallo hildebrandt!
    also,ich habe die erfahrung gemacht mein vibrato gut kontrollieren zu können wenn die stimme "perfekt sitzt" und eigentlich frei und natürlich schwingen kann! das vibrato stellt sich wie von selbst ein und ich kann intensität und amplitude beeinflussen, bzw. das vibrato einstellen.das gefühl des "festhaltens" stellt sich zwar immer dabei ein, ist aber eigentlich nicht unangenehm oder schädlich für die stimme!
    die ganze sache mit dem vibratolosen singen ist aber mehr ein nebenprodukt der gesangsausbildung. es klingt wunderbar wenn die stimme diese art derv tonerzeugung zuläßt, der vibratolose ton kann aber nicht hauptziel der ausbildung sein. für meine geschmack sind dann solche stimmen zu ausdrucksarm, gerade für barockmusik.
    bei italienischen madrigalen oder schütz und buxtehude mögen diese stimmen berechtigt sein. auf der barocken opernbühne, egal ob händel , vivaldi oder lully erwarte ich etwas anderes...

  • Ich moechte da Orlando zustimmen und noch Weiteres zu bedenken geben: "Vibratoforschung" hin oder her: Wir wissen ja gar nicht, wie stimmen vor 300 Jahren geklungen haben. Wir nehmen gewisse Dinge an, weil wir irgendwelche Zeitzeugenueberlieferungen lesen. Was selbige als "vibratolos" oder "mit Vibrato" bezeichen, ist aber doch relativ nur schwer festzumachen. Und ich moechte auch dringend davor warnen, relativ vibratolose Kinder/Knabenstimmen zum Ideal fuer die erwachsene Stimme zu erheben.
    Und wer behauptet, dass Barockgesang blutleer und unerotisch war, gerade auf der Buehne? Eine vibratolose Stimme ist sehr aetherisch und sicher auch im geistlichen Gesang vielleicht eher angemessen als im Buehnengesang. Sie aufgrund dieser Tatsache jedoch zum Ideal fuer eine ganze Epoche zu erheben, halte ich ganz persoenlich fuer grundsaetzlich falsch.


    Selbst jemand wie Emma Kirkby hat ein (wenn auch sehr kleinamplitudiges) Vibrato. Sie haelt hin und wieder fest, aber das ist ja kein Dauerzustand, und ansonsten laesst sie ihre Stimme ja auch frei laufen. Das, was die meisten als unangenehm oder zu gross fuer den Barockgesang empfinden, sind ja Vibrati mit grosser Amplitude, also entweder langsam schwingend oder von groesserer Frequenz (schon in Richtung Quintenschaukel gehend ;) ).


    Ein Vibrato laesst sich beeinflussen, keine Frage. Es sollte aber nur im gesunden Rahmen beeinflusst werden. Groessere und schwerere Stimmen haben in aller Regel ein natuerliches Vibrato mit groesserer Amplitude als kleinere, eher leichte Stimmen, deren Vibrato schneller und enger schwingt. Das ist physiologischer Fakt und sollte nicht manipuliert werden.


    Zur Frage, ob Menschen vor 300 oder 400 Jahren andere Kehlkoepfe hatten: Ich glaube, es gilt als allgemein erwiesen, dass Menschen damals kleiner waren. Das koennte bedeuten, dass auch die Kehlkoepfe kleiner und die Stimmbaender kuerzer waren. Das wiederum KOENNTE heissen, dass die Stmmen allgemein etwas hoeher und leichter waren als heute, wobei ich mit dem leichter schon vorsichtig waere, weil das noch von anderen Faktoren abhaengt als nur dem Stimmapparat.
    Und da stossen wir dann heute auch an die Grenzen: Ich kann ja den heutigen Koerperbau nicht aendern, egal, was vor 300 Jahren war. Ein Mensch ist nun mal keine Violine ...


    In der Gesangsausbildung kommt der Barockgesang sicher nicht wirklich zu kurz, allerdings ist es so, dass man in einer "normalen" Gesangsausbildung ja nicht spezialisiert und alle Epochen singt. Man lernt aber schon, die Stimme (im Rahmen seiner persoenlichen Moeglichkeiten, und das ist wichtig) unterschiedlich zu fuehren. Will man nur Alte Musik machen, muss man sich eben gleich spezialisieren und an einer entsprechenden Uni studieren, die das anbietet. Mir persoenlich waere das zu langweilig gewesen, nicht, weil ich Barock nicht mag, sondern weil ich gerne viele verschiedene Dinge mache. Ist wie in jedem anderen Beruf auch: Breit oder spezialisiert, wobei das Eine nicht immer gut und das Andere nicht immer schlecht sein muss. Wobei jeder Gesangsstudent oder Saenger schon seinen Schwerpunkt hat, bei mir war das z.B., als ich noch schwerpunktmaessig klassischen Gesang praktiziert habe, das romantische und moderne Kunstlied. Und meine Stimme ist weder besonders gross, noch hat sie ein ausladendes Vibrato, daher fuer den Liedgesang recht gut geeignet - die Epochen waren mehr Interessegruende.


    Warum setzt man in der hiP SaengerInnen mit vermeinlich zu grossem Vibrato ein? Keine Ahnung. Vielleicht ist das Vibrato aber gar nicht so gross wie angenommen, denn das hat auch mit Geschmack und aesthetischem Empfinden zu tun. Die hier erwaehnten Damen Bartoli und Genaux z.B. haben beide ein deutliches Vibrato, was ich aber trotzdem passend finde.


    Was ich auch noch mal betonen moechte: "Vibrato anbringen" finde ich schwierig von der Wortwahl, daran sieht man eigentlich, dass die Definition des Wortes Vibrato allein schon ein Minenfeld ist. Wenn ich etwas anbringe, ist das kein Naturvibrato mehr, sondern eben mehr ein Tremolo oder ein Effekt, Ornamentik. Wir koennen uns vielleicht einigen, dass man kein Vibrato "machen" sollte, auch nicht in die Wobblerichtung. Wenn der Ton aber von Natur aus mit groesserer Amplitude schwingt, gibt es nur zwei Moeglichkeiten: So lassen (auf die Gefahr hin, einigen nicht zu gefallen, aber auch vibratolose Stmmen gefallen ja nicht jedem) oder aber sich stimmlich anderem Repertoire zuwenden ...

  • Zitat

    Original von orlando


    bei italienischen madrigalen oder schütz und buxtehude mögen diese stimmen berechtigt sein. auf der barocken opernbühne, egal ob händel , vivaldi oder lully erwarte ich etwas anderes...


    Danke, da kommen wir doch schon weiter.
    Nur mit diesem Satz sind wir wieder in einer Wertung gelandet, die sich mir nicht erschließt. Warum erwartest Du auf der barocken Opernbühne etwas anderes als von der Empore einer Kirche?
    Die Quellen machen fast nie Unterschied zwischen geistlich und weltlich und wenn, geht es um andere Dinge. Dabei stammen sie von Praktikern, die mit der Materie Umgang hatten.
    Und wieder kommt auch die Frage ins Spiel: Wie soll ich bei Dauervibrato noch die vielen verschiedenen Vibratovarianten anbringen, die ausführlich als Verzierungen beschrieben werden?
    Und gerade für England, Italien und Frankreich werden zum Teil sehr unterschiedliche Vibratoarten beschrieben.

  • Eponine hat das Wichtigste ja schon gesagt, aber da Hildebrandt gerne noch mehr Stimmen aus der Praxis hätte, gebe ich gerne meine Einschätzung und Erfahrung wieder...


    Das Vibrato ist ein natürlicher Bestandteil der frei agierenden Gesangsstimme. Die Anlage sollte vorhanden sein und ein stabiles, die Tongebung unterstützendes Vibrato bildet sich im Verlauf des Gesangsunterrichtes normalerweise heraus. Hierzu muss nichts separat gelehrt werden - es bildet sich eben, oder - bei manchen Stimmen - bildet es eben nicht oder nur sehr schwach. Wobei hierbei sicher auch psychologische Gründe eine Rolle spielen können, wenn jemand sich dagegen sperrt, weil er/sie vielleicht schon mal mit dem Begriff "Quintenschleuder" konfrontiert wurde und auf KEINEN FALL so werden will.


    Vibrato unterdrücken ist auf jeden Fall auf Dauer schädlich für die Stimme, das wäre, als ob man einem Läufer ständig ein Bein hochbindet...
    Als Stilmittel sollte es allerdings jeder Sänger beherrschen.
    Normalerweise "holt" sich die Musik auch die Stimme, die sie braucht - sofern Sänger/in annähernd musikalisch sind :D . Dann klingt Barock automatisch nicht wie Verdi - und das ist auch gut so....


    Ich persönlich mag vibratoarme Stimmen nicht, weil sie oft scharf oder gar "quäkig" klingen.


    Auch sollte man - da bin ich ganz bei orlando - nicht alle Barockwerke über einen Kamm scheren. Die wunderschönen Alt-("Liebes-")Arien in Bachs WEihnachtsoratorium oder auch die dramatische Rolle der Storgè in Händels Jephtha kann ich mir mit einer vibratolosen Stimme überhaupt nicht vorstellen. Da fehlt Klang, Wärme, Farbe, Wut, Schmerz usw. usw.


    LG
    Rosenkavalier

  • Haaalt! Stopp!


    Tiefsten Dank, aber das geht mir jetzt zu schnell.


    Zwischendurch nur ein Zitat zum Naturvibrato aus der von mir öfter schon genannten Arbeit:
    "Die hier besprochenen Quellen deuten daraufhin, daß es keineswegs sicher ist, ob in der Barockzeit der Sänger einen Klang anstrebte, der völlig frei von jeglichem Vibrato war. Man erfährt nur, daß ein in der Natur der Stimme liegendes Vibrato in einigen Fällen positiv bewertet wurde. Dieses Vibrato war, wie schon gesagt, wahrscheinlich sehr klein, und vielleicht sollte man es angesichts unserer modernen Hörgewohnheiten – die beim Sänger doch deutlich hörbares, kontinuierliches Vibrato einschließen – mehr oder weniger als vibratofrei bzw. als reine Klangqualität betrachten."


    So jetzt lese ich weiter und ringe mit Euren Antworten. :D

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  • Hallo Hildebrandt,
    steht denn in der Arbeit auch irgend etwas zu dem Thema, ob es sich dabei überhaupt um ausgebildete Stimmen handelte bzw. über die damaligen "Gesangsschulen"?


    LG
    Rosenkavalier

  • lieber hildebrandt,
    es geht mir dabei nicht so sehr um eine trennung von weltlicher und geistlicher musik. im barocken oratorium bzw. in der passion finde ich solche stimmen ebenso unpassend.
    die deutschen komponisten des 17.jahrhunderts haebn für mich so eine gewisse nüchternheit und akademischen ausdruck. möglichst klare und vibratolose stimmen scheinen mir dafür doch recht angebracht.
    die vom rosenkavalier zitierten oratorienpartien (z.b. die storgé in jephte) sind von solche stimmen wirklich nicht zu realisieren!!
    nochmal zu den stimmtypen im barock:
    es ist wahrscheinlich völlig richtig das wir nicht mit "wagnerischen schlachtrössern" zu tun haben !
    so weit ich es mitbekommen habe, gibt es etliche beschreibungen die davon berichten wie das stimmideal damals war: klangvolle mittellage, gute tiefe und vor allem eine leichte höhe!
    nun gibt es aber auch berichte über bestimmte sänger, ich denke da an anna strada die z.b. die titelpartie in händels alcina sang, deren stimmen genau anders aufgebaut waren. sie entwickelten mit zunehmender höhe an intensität, volumen und sicher auch an vibrato.
    wenn man die partien der alcina und ihrer schwester morgana vergleicht wird das in händels schreibweise ganz offensichtlich. es sind genau diese entgegengesetzten stimmtypen.
    ich denke, diese anna strada war so etwas was wir heute als dramatischer sopran bezeichnen würden. es würde mich wundern wenn diese stimme ein kleines , schnelles vibrato gehabt hätte.

  • Zitat

    Original von Eponine
    Ich moechte da Orlando zustimmen und noch Weiteres zu bedenken geben: "Vibratoforschung" hin oder her: Wir wissen ja gar nicht, wie stimmen vor 300 Jahren geklungen haben. Wir nehmen gewisse Dinge an, weil wir irgendwelche Zeitzeugenueberlieferungen lesen. Was selbige als "vibratolos" oder "mit Vibrato" bezeichen, ist aber doch relativ nur schwer festzumachen.


    Völlig uneindeutig ist es aber nun auch wieder nicht. Lediglich mit einem riesigen Haufen von Differenzierungen und Unsicherheiten befrachtet. Am Schluss steht aber dann schon der Satz:
    „...ein deutliches Tonhöhenvibrato, das heute bei vielen Sängern üblich ist, wird in fast jeder älteren Schule aufs schärfste verurteilt.“
    Bleibt zu ergänzen: Es gibt auch keine, in der es gelobt wird.

    Zitat

    Und ich moechte auch dringend davor warnen, relativ vibratolose Kinder/Knabenstimmen zum Ideal fuer die erwachsene Stimme zu erheben.


    Das tut auch niemand, hoffe ich. Moens-Haenen betrachtet die gesondert.
    Kommt dazu, dass der Stimmbruch früher viel später einsetzte. Bach konnte mit bis zu etwa 17 Jahre alten Knabensopranen arbeiten


    Zitat

    Und wer behauptet, dass Barockgesang blutleer und unerotisch war, gerade auf der Buehne?


    Blutleere und Unerotik waren bis jetzt nicht Gegenstand der Betrachtung. :D
    Ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, denen es nicht leicht fällt, Dame Kirkby sofort mit dem Begriff Erotik in Verbindung zu bringen. Bei ihrer Stimme werden jedoch die Verhältnisse anders aufgeteilt sein – vor allem wohl deshalb, weil man den Pendelhub eines Vibratos nicht unbedingt als Äquivalent zur Erotik nehmen muss. Dann wären amerikanische Polizeisirenen die Verheißung schierer Wollust. :D


    Zitat

    Eine vibratolose Stimme ist sehr aetherisch und sicher auch im geistlichen Gesang vielleicht eher angemessen als im Buehnengesang.


    Eine Einschätzung, die man aber nicht unbedingt teilen muss und bei der ich den Verdacht bekomme, dass sie einfach einer anderen Tradition verpflichtet ist, was – bittebitte – nicht als Herabsetzung zu verstehen ist.


    Zitat

    Sie aufgrund dieser Tatsache jedoch zum Ideal fuer eine ganze Epoche zu erheben, halte ich ganz persoenlich fuer grundsaetzlich falsch.


    An ein Ideal für eine ganze Epoche glaube ich auch nicht, aber eine differenzierte Betrachtungsweise, die etwa zwischen Seicento und Rameau Unterschiede zulässt, würde ja auch niemandem schaden.


    Zitat

    Selbst jemand wie Emma Kirkby hat ein (wenn auch sehr kleinamplitudiges) Vibrato. Sie haelt hin und wieder fest, aber das ist ja kein Dauerzustand, und ansonsten laesst sie ihre Stimme ja auch frei laufen. Das, was die meisten als unangenehm oder zu gross fuer den Barockgesang empfinden, sind ja Vibrati mit grosser Amplitude, also entweder langsam schwingend oder von groesserer Frequenz (schon in Richtung Quintenschaukel gehend ).


    Dazu das Zitat aus der Arbeit im vorigen (oder so) Fensterchen.


    Zitat

    Ein Vibrato laesst sich beeinflussen, keine Frage. Es sollte aber nur im gesunden Rahmen beeinflusst werden. Groessere und schwerere Stimmen haben in aller Regel ein natuerliches Vibrato mit groesserer Amplitude als kleinere, eher leichte Stimmen, deren Vibrato schneller und enger schwingt. Das ist physiologischer Fakt und sollte nicht manipuliert werden.


    Manche Autoren scheinen aber gerade das zu verlangen.


    Zitat

    Zur Frage, ob Menschen vor 300 oder 400 Jahren andere Kehlkoepfe hatten: Ich glaube, es gilt als allgemein erwiesen, dass Menschen damals kleiner waren. Das koennte bedeuten, dass auch die Kehlkoepfe kleiner und die Stimmbaender kuerzer waren. Das wiederum KOENNTE heissen, dass die Stmmen allgemein etwas hoeher und leichter waren als heute, wobei ich mit dem leichter schon vorsichtig waere, weil das noch von anderen Faktoren abhaengt als nur dem Stimmapparat.
    Und da stossen wir dann heute auch an die Grenzen: Ich kann ja den heutigen Koerperbau nicht aendern, egal, was vor 300 Jahren war. Ein Mensch ist nun mal keine Violine ...


    Sagen wir einfach mal, weil mir genaue Zahlen fehlen, die Deutschen seien damals so groß geworden wie der Durchschnittsitaliener heute, dann waren die damaligen Italiener... das wird albern. :D
    Aber im Prinzip könnte es schon so hinkommen, was bedeuten würde, dass Unterschiede vorhanden sind, aber keine ganzen Welten dazwischen liegen.


    Zitat

    In der Gesangsausbildung kommt der Barockgesang sicher nicht wirklich zu kurz, allerdings ist es so, dass man in einer "normalen" Gesangsausbildung ja nicht spezialisiert und alle Epochen singt. Man lernt aber schon, die Stimme (im Rahmen seiner persoenlichen Moeglichkeiten, und das ist wichtig) unterschiedlich zu fuehren. Will man nur Alte Musik machen, muss man sich eben gleich spezialisieren und an einer entsprechenden Uni studieren, die das anbietet.


    Ab nach Basel. Sag ich ja. :D


    Zitat

    Mir persoenlich waere das zu langweilig gewesen, nicht, weil ich Barock nicht mag, sondern weil ich gerne viele verschiedene Dinge mache. Ist wie in jedem anderen Beruf auch: Breit oder spezialisiert, wobei das Eine nicht immer gut und das Andere nicht immer schlecht sein muss.


    So isses.


    Zitat

    Warum setzt man in der hiP SaengerInnen mit vermeinlich zu grossem Vibrato ein? Keine Ahnung. Vielleicht ist das Vibrato aber gar nicht so gross wie angenommen, denn das hat auch mit Geschmack und aesthetischem Empfinden zu tun. Die hier erwaehnten Damen Bartoli und Genaux z.B. haben beide ein deutliches Vibrato, was ich aber trotzdem passend finde.


    Was, wenn andere das aber nun echt ätzend finden? :wacky:
    Da sind wir wieder beim Geschmacksurteil. Ich möchte aber lieber zu der Frage zurück, wie setzt man dann denn noch Verzierungsvibrati ein?


    Zitat

    Was ich auch noch mal betonen moechte: "Vibrato anbringen" finde ich schwierig von der Wortwahl, daran sieht man eigentlich, dass die Definition des Wortes Vibrato allein schon ein Minenfeld ist. Wenn ich etwas anbringe, ist das kein Naturvibrato mehr, sondern eben mehr ein Tremolo oder ein Effekt, Ornamentik. Wir koennen uns vielleicht einigen, dass man kein Vibrato "machen" sollte, auch nicht in die Wobblerichtung. Wenn der Ton aber von Natur aus mit groesserer Amplitude schwingt, gibt es nur zwei Moeglichkeiten: So lassen (auf die Gefahr hin, einigen nicht zu gefallen, aber auch vibratolose Stmmen gefallen ja nicht jedem) oder aber sich stimmlich anderem Repertoire zuwenden ...


    Genau darum geht es ja. Naturvibrato mit möglichst kleiner Amplitude als Klangfarbenqualität und willkürliches Vibrato als Verzierungssahnehäubchen obendrauf.

  • Zitat

    Original von Rosenkavalier


    steht denn in der Arbeit auch irgend etwas zu dem Thema, ob es sich dabei überhaupt um ausgebildete Stimmen handelte bzw. über die damaligen "Gesangsschulen"?



    Ja, da wird fein differenziert, und die Liste der zitierten Literatur ist mindestens einen Kilometer lang. :D
    Jedenfalls zu lang, um sie hier reinzutippen.
    Insgesamt macht die Arbeit einen sehr seriösen Eindruck.


    Bei gezielten Wünschen kann ich Scans einzelner Stellen auch gerne mal per Mail verschicken.

  • Mir fällt gerade ein mal eine Stelle über einen der berühmten Kastraten gelesen zu haben, vielleicht Farinelli, er habe einen "schönen Triller" gehabt.
    Klar wurde auch im Barock mit Vibrato gesungen, nur wann und wieviel an welcher Stelle, das ist die Frage.
    Es geht doch um die ästhetische Frage: soll man auf jeder Note, die lang genug ist, um es zuzulassen, ein Vibrato anbringen, oder eben nicht, und mehr differenzieren. Mich stört es nur, bei Sängern wie Instrumentalisten, wenn es im ersteren Sinne unreflektiert verwendet wird.


    Und dann gibt es ja noch den nicht unwesentlichen Unterschied zwischen Tonhöhen- und Amplitudenvibrato - ersteres finde ich besonders scheußlich.

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    Original von orlando
    es geht mir dabei nicht so sehr um eine trennung von weltlicher und geistlicher musik. im barocken oratorium bzw. in der passion finde ich solche stimmen ebenso unpassend.
    die deutschen komponisten des 17.jahrhunderts haebn für mich so eine gewisse nüchternheit und akademischen ausdruck.


    Um Jottes Wellen! Dann würde ich sie mir aber nicht anhören wollen. :D
    Wieso kommt es zu dieser Assoziation „nüchtern, akademisch = vibratofrei“ einerseits und „erotisch, Oper = Vibrato“?
    Bzw. wieso hält sie sich so hartnäckig?


    Zitat

    möglichst klare und vibratolose stimmen scheinen mir dafür doch recht angebracht.
    die vom rosenkavalier zitierten oratorienpartien (z.b. die storgé in jephte) sind von solche stimmen wirklich nicht zu realisieren!!


    Warum nicht?


    Zitat

    nochmal zu den stimmtypen im barock:
    es ist wahrscheinlich völlig richtig das wir nicht mit "wagnerischen schlachtrössern" zu tun haben !
    so weit ich es mitbekommen habe, gibt es etliche beschreibungen die davon berichten wie das stimmideal damals war: klangvolle mittellage, gute tiefe und vor allem eine leichte höhe!
    nun gibt es aber auch berichte über bestimmte sänger, ich denke da an anna strada die z.b. die titelpartie in händels alcina sang, deren stimmen genau anders aufgebaut waren. sie entwickelten mit zunehmender höhe an intensität, volumen und sicher auch an vibrato.


    Und ausgerechnet Alcina kenne ich nicht, aber das klingt sehr interessant. Für genaue Quellenangaben wäre ich dankbar, da würde ich gerne weiterlesen.


    Zitat

    wenn man die partien der alcina und ihrer schwester morgana vergleicht wird das in händels schreibweise ganz offensichtlich. es sind genau diese entgegengesetzten stimmtypen.
    ich denke, diese anna strada war so etwas was wir heute als dramatischer sopran bezeichnen würden. es würde mich wundern wenn diese stimme ein kleines , schnelles vibrato gehabt hätte.


    „Entgegengesetzte Stimmtypen“ impliziert aber doch bei keiner der beiden ein Gummiband-Dauervibrato (nicht ein natürliches, kleines Naturvibrato – das mag immer als gegeben gelten).


  • Ne, lass mal... 8o. Mich würde lediglich die Essenz interessieren... Spielte das Vibrato bei der damaligen Sängerausbildung ein Rolle? Hat man es gefördert oder eher versucht zu unterdrücken? Oder wird es gar nicht thematisiert?


    zu Storgè: Die Rolle erfordert eine extreme Zerissenheit, Verzweiflung pur, die Frau ist völlig am Ende, erst zieht ihr Mann in den Krieg und dann soll ihre Tochter geopfert werden (mir wurde damals gesagt, ich soll mir beim Singen nicht Händels Storgè sondern Strauss' Klytämnestra vorstellen...). Ich kann mir diesen Ausdruck bei einer geraden Stimme schwer vorstellen...
    Und was die Altpartie im WO angeht - da fehlt mit bei einer geraden Stimme die Wärme. Aber - das sind natürlich alles nur persönliche Empfindungen.


    LG
    Rosenkavalier


    Kurz OT, aber die Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen:

    Zitat

    Dann wären amerikanische Polizeisirenen die Verheißung schierer Wollust.


    Manchen Uniformierten scheint es so zu gehen........

  • Zitat

    Original von miguel54
    Klar wurde auch im Barock mit Vibrato gesungen, nur wann und wieviel an welcher Stelle, das ist die Frage.


    Wenn wir das Naturvibrato als zwischen toleriert und erwünscht ansiedeln. Mir kommt das, was ich heute als Dauervibrato oft zu hören bekomme, als zu ausufernd vor, als dass ich es unter Naturvibrato so einfach abbuchen könnte.


    Zitat

    Es geht doch um die ästhetische Frage: soll man auf jeder Note, die lang genug ist, um es zuzulassen, ein Vibrato anbringen, oder eben nicht, und mehr differenzieren.


    Und jetzt kommt das Verzierungsvibrato ins Spiel. Davon werden zig Varianten – neben allen anderen vokalen Verzierungen – beschrieben und für die unterschiedlichsten Anwendungen empfohlen.
    Die wären doch für die Katz, wenn sie das Dauervibrato schon nicht mehr überlagern könnten.


    Zitat

    Mich stört es nur, bei Sängern wie Instrumentalisten, wenn es im ersteren Sinne unreflektiert verwendet wird.


    Das stört hoffentlich alle. :pfeif:


    Zitat

    Und dann gibt es ja noch den nicht unwesentlichen Unterschied zwischen Tonhöhen- und Amplitudenvibrato - ersteres finde ich besonders scheußlich.


    Den Definitionen und Unterscheidungen widmet Moens-Haenen eine ziemliche Strecke in ihrem Buch.
    Eine Lieblingsliste ihrer persönlichen Scheußlichkeitsfavoriten hat sie sich verkniffen. :D

  • Zitat

    Original von Rosenkavalier
    Mich würde lediglich die Essenz interessieren... Spielte das Vibrato bei der damaligen Sängerausbildung ein Rolle? Hat man es gefördert oder eher versucht zu unterdrücken? Oder wird es gar nicht thematisiert?


    Es spielte eine Rolle. Das Naturvibrato wurde als gegeben akzeptiert, wenn es möglichst klein war. Nur wenige Quellen (Deutschland, 17. Jh.; meistens auf Knaben bezogen) möchten es verhindert wissen.
    Das Verzierungsvibrato spielt eine ungewöhnlich große Rolle, nicht nur in der Vokalabteilung. Es gibt viele Spielarten, die gleichzeitig gelehrt wurden, aber auch von Region zu Region, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Komponist zu Komponist sehr unterschiedlich gehandhabte.
    So sollen die Gamben etwa sich an den Vibrati der Sänger orientieren und sie per Bogen nachahmen, während die Lauten das gefälligst zu unterlassen hätten und sich auf ihr Fingervibrato konzentrieren sollten, sie hätten ja sowieso keinen Bogen (Frkr., mittleres 17. Jh.). (Der Schluss ist vielleicht etwas frei wiedergegeben. :D )


    Zitat

    zu Storgè: Die Rolle erfordert eine extreme Zerissenheit, Verzweiflung pur, die Frau ist völlig am Ende, erst zieht ihr Mann in den Krieg und dann soll ihre Tochter geopfert werden (mir wurde damals gesagt, ich soll mir beim Singen nicht Händels Storgè sondern Strauss' Klytämnestra vorstellen...).


    Stanislavsky auf der Händel-Bühne? Auch nicht schlecht.
    "Nun verinnerlichen Sie mal, dass Ihr Mann gerade eines grässlichen Todes gestorben ist! Nein! Nicht lächeln!" :D


    Zitat

    Ich kann mir diesen Ausdruck bei einer geraden Stimme schwer vorstellen...


    Vielleicht auch eine Frage der Gewöhnung? Öfter mal so anhören?


    Zitat

    Und was die Altpartie im WO angeht - da fehlt mit bei einer geraden Stimme die Wärme. Aber - das sind natürlich alles nur persönliche Empfindungen.


    Da ham wirs wieder: Dauervibrato = Wärme. Wieso, weshalb, warum?


    Zitat


    Kurz OT, aber die Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen:


    Manchen Uniformierten scheint es so zu gehen........


    :D :D :D

  • Nein, nicht "Dauervibrato = automatisch Waerme". Ich wuerde eher sagen: "Null Vibrato = Kaelte". :D
    Ich glaube auch nicht, dass Rosenkavalier mit einem "warmen Vibrato" ein kuenstliches Gewobble meint, sondern einfach das voellig natuerliche Vibrato einer Stimme (und es ist natuerlicher MIT Vibrato zu singen denn ohne)
    Ich mag auch keine Quintenschaukeln oder Wobbles. Ich muss einfach das Gefuehl haben, das Vibrato passt zur Stimme. Und klingt gesund. Natuerlich gibt es ausgeleierte Stimmen mit Massivwobble, nein danke! :kotz:


    Ich habe aber kein Problem damit, wenn jemand mit einem gesunden, angemessenen (da kommen wir schon in den Bereich der Interpretation) Vibrato Bach singt, das ist mir im Zweifelsfall lieber als ein kuenstlich festgehaltenes Stimmchen, und da hoert man bisweilen Schlimmes.
    Ein natuerliches Vibrato ist der Stimme eigen und gibt ihr das spezifische Timbre. Vibratolose Stimmen werden m.E. zurecht als "weiss" bezeichnet, denn ihnen fehlt das Menschliche. Wer das nicht hoeren will, dem sei das unbenommen, eine Frage des Geschmacks. NATUERLICH ist es fuer die menschliche Stimme aber nicht.


    Mir draengt sich hier der Verdacht auf, dass aktive Saenger Vibrato doch anders definieren als Instrumentalisten (wer hier was ist, weiss ich auch nicht so genau, bin noch nicht lange dabei, nur die aktiven Saenger sind offensichtlich ;) ) . Unterdrueckung des natuerlichen Vibratos macht die Stimme muede und ist schaedlich. Punktum. Und ich glaube nicht, dass da vor 300 Jahren andere Gesetzmaessigkeiten galten. Dafuer gibt es m.W. nach auch keinerlei Beweise.


    Das erste Missverstaendis: Hier wird oefter angefuehrt, Vibrato in alter Musik sei ein Ornament gewesen. Nein, Vibrato war immer schon Naturvibrato (Frequenzvibrato), das "Ornament-Vibrato" ist nach strenger Definition ein Tremolo (Amplitudenvibrato). Nur: Gerade Saenger benutzen den Begriff nicht so gern, da er fuer sie was Unschoenes impliziert, naemlich einen "Meckerton", der oft durch mangelnde Stuetze verusacht wird. Tremolo rein musikpraktisch angewandt ist aber ein Ornament.
    Wenn ich also von einem Vibrato als "Verzierungsvibrato" spreche, meine ich strenggenommen ein Amplitudenvibrato bzw. Tremolo. Das kann das Naturvibrato, das per definitionem ein Frequenzvibrato ist, doch eigentlich gar nicht ueberlagern, zumindest nicht so wie es hier befuerchtet wird?


    Das die Begrifflichkeit nicht mehr sauber benutzt wird, ist ein Problem heutiger Zeit und auch ein Problem nicht akkurater Uebersetzungen aus mindestens vier verschiedenen Sprachen.


    Saenger haben m.E. immer schon mit Naturvibrato gesungen, das macht umso mehr Sinn, da z.B.die Violinen nicht umsonst in ihrem Vibrato die menschliche Stimme imitieren (warum sonst sollten sie das tun, wenn das "Vorbild" nicht vorhanden waere?). Warum gibt es in Orgeln die Voce Umana (oder Vox Humana), die das menschliche Vibrato durch Schwebung nachahmt? Und das schon lange vor dem Barock? Warum wurde das von Orgelbauern als schoen und nachahmungswert erachtet? Sicher nicht, weil vor der Romantik alle Stimmen vibratolos gefuehrt wurden.


    Mir scheint viel eher, dass das als unschoen empfundene "Dauervibrato" als etwas empfunden wird, das "gemacht" ist. Ich behaupte aber mal ganz dreist, dass das nicht so ist, sondern in den meisten Faellen die Stimme einfach freigelassen wird. Ob einem das gefaellt, ist ja wieder eine andere Frage, aber dem Problem werden wir vermutlich auch nicht beikommen ;)

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