Wo liegt die Grenze zwischen MA und Renaissance in der Musik?

  • Hallo!


    Ich hätte da einmal eine Frage, die ich mir nicht klar beantworten kann. Bei der Erstellung einer Art Zeitleiste für die Musik bin ich auf das Problem der Abgrenzung von Mittelalter und Renaissance gestoßen. In Brockhauspremium fängt die Renaissance in der Zeitleiste und im dazugehörigen Beitrag mit ca. 1350 an. Wenn ich dieser Einteilung folge, so wären der Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein oder Janus von Nikosia Renaissance. Wobei der Artikel darauf verweist, dass der Begriff Renaissance für die Musik problematisch sei, da in der Musik mangels praktischer Musikbeispiele keine Wiedergeburt erfahren konnte.
    In einer anderen Quelle wird als Renaissance die Zeit des 15. Jh. und des 16.Jh. genannt und diese Zeit als Kernzeit der Renaissance bezeichnet. Im Harembergs Kompaktlexikon lässt die Renaissance wiederum für die Musik mit 1430 beginnen. Folgt man dieser Sicht wären Oswald von Wolkenstein und Janus von Nikosia Grenzfälle.


    Wie würdet Ihr die Grenze ziehen? Wer fällt an der Grenze wo hin?


    Danke für die Mühe im Voraus.


    lg,
    Franz

    Sagt nicht:"Ich habe die Wahrheit gefunden", sondern:"Ich habe eine Wahrheit gefunden." (Khalil Gibran; Der Prophet, dtv, 2002)

  • Grenzfälle entstehen, weil man Grenzen zieht ;)


    Aber ernsthaft - das ist doch ein überholtes Denkmodell, diese lineare Entwicklung, in der alles schön aufeinander folgt. Die Merkmale, die man mit Renaissance verknüpft, tauchten am frühesten in Italien auf und wurden dann sozusagen nach Norden exportiert. Das kann man in der Malerei ebenso verfolgen wie in der Musik. Das Mittelalter dauerte im deutschen Sprachraum in manchen Regionen eben etwas länger.


    Stile können durchaus parallel existieren - Bach hat ja auch an der Widmungspartitur der sog. Brandenburgischen Konzerte geschrieben, als Durante in Neapel schon im galanten Stil komponierte - es gäbe da viele Beispiele: die sog. Romantik, die in Malerei, Literatur und Musik zu verschiedenen Zeiten blüht und in der Musik als Epochenbegriff über Gebühr ausgedehnt wird etc. etc.


    Die Grenzen ziehen wir in unserer Betrachtung der Vergangenheit - die Wirklichkeit ist viel komplexer.

  • Hallo Miguel!


    Im Prinzip hast du recht mit deiner Aussage, aber man tut sich leichter, wenn man eine Grenze, sei es eine geographische oder eine epochale, durch einen gewissen Punkt bzw. eine Zeitangabe definieren oder zumindest verbinden kann. Es gibt ja auch keine genau definierte Grenze zwischen der Antike und des MA, genauso wie zwischen MA und Neuzeit...


    Ich finde Franz´ Ansatz eine Grenze zu ziehen höchst interessant und werde dies auch sicherlich noch tun. Zuerstmal für mich, dann werde ich meine Erkenntnisse hier kundtun.


    Grenzen sind fließend, eine allgemeingültige Grenze, die für die komplette europäische Musik des MA zählt, ist nicht machbar. [Anm.: Wie sah das Mittelalter Europa selbst? Wo waren da die Grenzen zwischen Asien, Afrika und Europa; müssen geographische Grenzen auch mit kulturellen übereinstimmen?]
    Daher muss man, wie du sagtest, unterscheiden. Ich bin mir sicher, es wird sehr spannend, auf welche Ergebnisse wir kommen.


    LG joschi

  • Zitat

    Original von miguel54
    Die Grenzen ziehen wir in unserer Betrachtung der Vergangenheit - die Wirklichkeit ist viel komplexer.


    Stiimmt, trotzdem stellt sich die Frage. Ich bin derzeit auch mit der Erstellung einer Übersicht beschäftigt, wie Franz sie offenbar auch erstellt. Ich gehe - als Grundlage - von Pahlens "Die Große Geschichte der Musik" aus. Bei seiner Zeittafel überschneidet sich die Spätgotik in D zeitlich mit der Frührenaissance in I.


    Er rechnet - und ich folge ihm - zB Binchois, Dufay, Ockeghem usw., die ganze erste niederländische Schule, zur Renaissance. Den Minnegesang rechne ich dem Mittelalter zu, also auch Wolkenstein (sein Lebensalter hin oder her, und auch ungeachtet der Tatsache, daß er zwei- und dreistimmige Kanons komponiert hat).

  • Nun ja.
    Ich denke man kann das MA ab dem 8. Jahrhundert, mit dem Beginn der Gregoriranischen Choräle einordnen, weil ab diesem Zeitpunkt die schriftliche Fixierung erfolgte.
    Vorher wurden die Choräle in Neumen, also mit Zeichen und Gebärden interpretiert.
    Die Renaissance würde ich ins 15-16 Jahrhundert verlegen.
    Gruß
    Padre

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  • Zitat

    Original von Robert Stuhr


    Stiimmt, trotzdem stellt sich die Frage. Ich bin derzeit auch mit der Erstellung einer Übersicht beschäftigt, wie Franz sie offenbar auch erstellt. Ich gehe - als Grundlage - von Pahlens "Die Große Geschichte der Musik" aus. Bei seiner Zeittafel überschneidet sich die Spätgotik in D zeitlich mit der Frührenaissance in I.


    Er rechnet - und ich folge ihm - zB Binchois, Dufay, Ockeghem usw., die ganze erste niederländische Schule, zur Renaissance. Den Minnegesang rechne ich dem Mittelalter zu, also auch Wolkenstein (sein Lebensalter hin oder her, und auch ungeachtet der Tatsache, daß er zwei- und dreistimmige Kanons komponiert hat).


    Das entspricht auch meines Wissens etwa dem Üblichen. Die musikalische Renaissance schon im 14. Jhd. beginnen zu lassen wie oben referiert, habe ich noch nirgends gesehen. Machaut und auch die jüngeren Ars-Nova-Komponisten zählen noch zum MA.
    Die 6-CD-Mittelalterbox der harmonia mundi nennt ihre letzte CD "Morgendämmerung der Renaissance"; da ist als frühester Komponist Ciconia
    (ca. 1335-1414) drauf, sonst Musik des 15. Jhds., u.a. Ockeghem. Letzteren finde ich eigentlich immer zur Renaissance gerechnet.
    Binchois und Dufay liegen zeitlich an der Grenze, da traue ich Ahnungloser mir kein Urteil zu, ob schon frühe Renaissance oder späteste Ars Nova (?). Man müßte sich eben auch die musikalischen Formen ansehen.
    Mir schieint aber jedenfalls weitaus üblicher ab ca. der ersten Hälfte des 15. Jhds von Musik der Renaissance zu sprechen als das schon in der zweiten Hälfte des 14. zu tun.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Padre
    Nun ja.
    Ich denke man kann das MA ab dem 8. Jahrhundert, mit dem Beginn der Gregoriranischen Choräle einordnen, weil ab diesem Zeitpunkt die schriftliche Fixierung erfolgte.
    Vorher wurden die Choräle in Neumen, also mit Zeichen und Gebärden interpretiert.


    Hallo Padre, aber das ist einfach falsch! So wars:


    Schon in der Antike wurde Musik notiert. Es gab hier zwei verschiedene Schriftarten, die vokale und die instrumentale Schrift.


    Grobe Zeittafel:
    vor 700-Gregorianische Choräle entstehen


    800-1050-Neumennotation & erste Gesangsbücher
    Paläofränkische Notation (ohne Linien), aus der Paläofränkischen Notation entwicklen sich die Metzer, die St.Gallener und die Aquitanische Neumennotation.
    Wichtige Gesangsbücher:


      Codex 484 St.Gallen um 830/840
      Codex 359 (St.Gallen) um ca.920; hier werden nicht nur Neumen (die spezielle St.Gallener Notation verwendet, man findet auch sogenannte "litterae signicativae" (Buchstaben, die z.B. Tonhöhe, Tempo uä angeben). Die Neumen sind adiostematisch notiert, d.h. die Tonhöhen werden nur in etwa angegeben.
      Codex 390/391 (St.Gallen) auch Hartker-Codex genannt; um 990-1000 vom Mönch Hartker geschrieben. Er enthält das Officium in 2 verschiedenen Arten. Codex 390-Winterteil; 391-Sommerteil. Besonders an diesem Codex ist, dass die Gesänge nach Tonarbuchstaben (Tonart) geordnet sind.
      Codex 121 St.Gallen um 970
      Codex Laon (in der Metzer Notation)


    um 900 entstehen weitere Neumenfamilien, die man unter dem Begriff "Bretonische Neumen" zusammenfasst.


    um 1050 wird die Metzer Notation mit Linien erfunden, bekanntes Beispiel. Codex 807 aus Klosterneuburg (heute in Granz)
    Die Aquitanische Neumennotation gibt erstmals einzelne Töne an, und keine Sammeltöne. Codex Yrieix


    Hier befinden wir uns immer noch in der einstimmigen Notation!


    Die Neumenschrift existiert eigentlcih (dedicated to FQ :D) bis heute.
    Allerdings gibt es verschiedene Neumenfamilien:
    Die Paläofränkischen Neumen (ohne Linien) sind die Urneumen, die im 8.Jhdt entwickelt wurden, um eine einheitliche Liturgie zu schaffen.


    Die bretonischen Neumen (um 900 entstanden) gliedern sich wiederum in verschiedene Familien:


      Spanische (sterben bald aus)
      Zentralfranzösische
      Italienische
      Deutsche


    ab 1050 übernehmen alle Neumenfamilien die Metzer Notationsart und setzen Linien darunter.


    Die Neumenfamilien existieren bis 1200 weiter und werden auch häufig verwendet.


    ab 1200 gibt es die Mehrstimmigkeit (Leonin und Perotin) und die Modalnotation.
    Quellen: Wolfenbüttel 1 & 2, Florenz, Winchester Tropar (Sonderform; Mehrstimmigkeit in Neumen)


    Die Neumen werden nicht mehr verwendet, aber es gibt sie weiter! Sie werden (die 4 überlebenden Neumenfamilien) in die Quadratschrift umgewandelt und dann für die Mensuralnotation verändert. Die zentralfranzösische Neumenfamilien wird für Liturgie noch bis ins 20.Jhdt. verwendet, also immer dann wenn es einstimmig zugange geht.


    Ich denke, dass sollts mal gewesen sein.


    LG joschi

  • Joschi,
    ich habe damit keine Probleme, du hast gewiss mehr Ahnung. Habe deswegen auch geschrieben "ich denke mal".... Ich habe schon davon gehört, dass frühere Handschriften mit Neumen aus dem 8/9 Jahrhundert stammen ,paläo-frankisch.
    Gut, aber da will ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, und lieber das verfolgen ,was du schreibst. Eigentlich ging es ja garnicht Neumen, sondern um den Beginn von zwei Musikepochen. Ich hatte Neumen nur erwähnt, weil ich irgendwo mal gelesen habe, dass da das musikalische Ma begonnen haben soll.
    Aber wie gesagt, ich bin immer gerne bereit etwas dazu zu lernen
    Gruß
    Padre :hello:

  • Ich denke Robert Stuhr hat das ganz gut zusammengefasst.


    Ich halte vor allem das Requiem von Johannes Ockeghem für ein regelrechtes Schlüsselwerk.
    Gut die Polyphonie gab es auch schon früher (z.B. im 12. Jahrhundert in Aquitanien) , aber hier beginnt eben diese Kunstvolle "Franko-Flämische-Tradition" die ganz klar zur Renaissance gehört und auch ganz anders gestaltet ist.



    Noch eine Ergänzung zu Joschis Stellungnahme.


    Vor dem gregorianischen Choral gab es auch schon festetablierte "Gesangkulturen" die eindeutig schon zum Mittelalter gehören.


    An erster Stelle die Gesänge der Oströmischen Kirche, auch Arabo-byzantinische Tradition genannt.
    Hört sich auch sehr arabisch an für mein Empfinden.


    Dann ab dem 4. Jahrhundert kommen weitere Strömungen hinzu, die Gesänge der Melchiten (ebenfalls noch orientalisch geprägt, )


    ab dem 5. Jahrhundert der reine "Ambrosianische Gesang" der schon an die Gregorianik durch seine viel größere Schlichtheit erinnert.
    Aber eben auch noch orientalisch geprägt ist, bzw. an griechische Musiktraditionen anknüpft.


    Und im 7. und 8. Jahrhundert entwickelte sich dann wohl in Italien, die Vorläufer der reinen Gregorianik.
    Die Gesänge der römischen Kirche sind kaum noch von den orientalischen Vorläufern geprägt.
    Man strebte wohl einen möglichst einfachen, von so wenig Verzierungen wie möglich, erfüllten Musikstil an.


    Dagegen sind die Gesänge der frühen Christen fast Kolloraturexplosionen :D


    :hello: