Liebe Schellackfreunde,
wer die Aufnahmen des italienischen Tenors Fernando de Lucia (1860-1925) zum ersten Mal hört, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt: ein Singen voll mit Ornamenten und Kunstfiguren, Temporückungen, Mezzavoce und messa di voce - und ein Sänger, der bereits zu Lebzeiten mit seinem Singen stark polarisierte, und mit seinen Aufnahmen eine noch zwiespältigere Nachwelt zurückließ. Für die einen steht vor dem Auge des Ohrs ein zärtlicher „Rokoko-Kavalier“ (ein Wort, das Kesting gern für ihn verwendet), andere hören nur enervierende Manierismen, wie z.B. Toscanini, der einige Aufnahmen des Neapolitaners aufhob, um einmal am Tag lachen zu können.
Dann die Stimme: Sie war relativ klein und dunkel getönt; er musste seine Aufnahmen häufig um einen halben oder gar einen ganzen Ton transponieren. Charakteristisch war ein ausgeprägtes enges, schnelles Vibrato, das manchmal zum Tremolieren neigte.
Und außerdem sticht beim Forte-Singen manchmal ein grelles „eee“ hervor, das wohl dazu diente, die Stimme nach vorne zu bringen.
Wer das alles liest, ohne de Lucia gehört zu haben, mag sich fragen, warum dieser Sänger seinerzeit als „Gloria d´Italia“ bezeichnet wurde.
Ich habe ihn zum ersten Mal in Duetten mit der französischen Sopranistin Josefina Huget gehört – und war plötzlich im Fin-de-siècle gelandet. Ich hörte einen nicht mehr jungen Sänger, der seinen stimmlichen Zenit vielleicht schon überschritten hatte, aber als wirklicher Tenore di Grazia mit einer Eleganz, Zärtlichkeit und Delikatesse sang, die mich über die oben schon erwähnten Schwachpunkte hinweghören ließ. Und Josefina Huget ist in diesen Duetten eine kongeniale Partnerin.
Es gibt Aufnahmen, in denen auch ich seine Verzierungen und Rubati als maniriert empfinde: „Parmi veder le lagrime“ aus „Rigoletto gehört z.B. dazu, auch mit „De’ miei bollenti spiriti“ mag ich mich nicht so recht anfreunden.
Sein „La donna é mobile“ zeigt jedoch keinen zynischen Macho, sondern einen sanften, höfischen Hedonisten. Sehr gut gefällt er mir auch in der Musik Rossinis. Seine Aufnahmen von „Se il mio nome“ und „Ecco ridente“ sind meiner Meinung nach wunderbar poetisch gesungen.
Einiges zu seiner Biographie (aus Kutsch-Riemens: Unvergängliche Stimmen)
geboren am 11. 10. 1860 in Neapel;
studierte Gesang bei Benjamino Carelli und bei Vincenzo Lombardi;
debütierte 1885 am Teatro San Carlo als Faust (Gounod);
danach Gastspiele in vielen europäischen Opernhäusern;
Wenn er auch wie das Relikt aus einer vor-veristischen Zeit klingt, so hat er doch in Uraufführungen einiger veristischer Opern Mascagnis mitgewirkt: 1891 in „L’ Amico Fritz“, 1895 in „Silvana“, 1898 in „Iris“. Große Erfolge hatte auch er an der Oper Covent Garden als Turiddu und Cavaradossi, und an der Met sang er den Canio.
1910 erhielt er eine Professur am Konservatorium San Pietro a Majella (Neapel);
1921 sang er bei der Trauerfeier für Caruso Stradellas „Pietà, Signore“.
Besitzt ihr Aufnahmen dieses Sängers? Könnt ihr euch mit seinem Stil anfreunden, oder lehnt ihr ihn als selbstgefälligen Manieristen ab? Eue Meinung würde mich interessieren.
Petra