Die Liedinterpretationen des Dietrich Fischer-Dieskau - Zeitlos gültig oder modisch vergänglich ?

  • Liebe Forianer


    Es gibt viele Möglichkeiten sich einem Thema, einem Werk oder (in diesem Falle) eine Künstlerpersönlichkeit zu nähern, bzw sich damit auseinanderzusetzen.


    Eigentlich gibt es ja schon zumindest zwei Dietrich Fischer-Dieskau Threads.
    Und eigentlich gehört ein Sängerthread ja ins Stimmen - bzw Sängerforum.


    In diesem neuen Thread jedoch soll das Phänomen DFD jedoch in Bezug auf das Kunstlied beleuchtet werden - also habe ich das Thema hier angelegt - im Kunstliedforum.


    Hört man heute - vor allem die jüngere Generation - Aussagen zu diesem Sänger treffen, dann hört man immer wieder das Adjektive "manieriert" - und es schwingt gelegentlich ein abwertender Unterton mit dabei....
    Insgesamt gesehen jedoch muß Fischer Dieskau jedoch etwas mehr gehabt haben als eine erstklassige Stimme und einen (angeblich) manirierten Vortrag.


    Was hat er nicht alles an Liedern aufgenommen, viele öfter.
    Schubert, Schumann, Brahms, Mendelssohn, Loewe, Richard Strauß. Mahler und sicher noch einige mehr. Wo immer Lieder vorzutragen waren (DFD sang nicht nur - er trug vor !! Wobei sich sein Vortragsstil im Laufe der Jahre geändert hat. Er galt neben einige wenigen anderen als Monolith des Kunstliedes.


    In diesem Thread soll beleuchtet werden WARUM, es können maßstäbliche LIEDaufnahmen genannt werden, Vergleiche mit anderen Größen seiner Zeit gemacht werden- bzw der Unterschied zu HEUTIGEN Sängern herausgearbeitet werden.


    Alles in allem könnte das ein interessanter Thread werden, wenn er auf Gegenliebe stösst - ohne daß er sich mit den bereits bestehenden wesentlich thematisch überschneidet


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zu Fischer-Dieskau gibt es für mich zwei HERAUSRAGENDE Aufnahmen.


    Die Erste: Mahler - Des Knaben Wunderhorn. (Wo die Goldnen Trompeten
    blasen sehe ich als unvergleichbares Highlight dieser Aufnahme an!
    FIDI's Stimme schwingt MIT der Musik zusammen. Sie ist klar
    und DEUTLICH. Selbst mit seinem samtig-dunklen Timbre in jener
    schon recht "späten" Zeit versteht man alles, darf das Beiheft
    getrost beiseite legen und kann ungestört geniessen.


    Die Zweite: Schubert - Schwanengesang. Im Vergleich zur Winterreise aus
    der selben Zeit (mit Moore ca. 1952) eine Offenbarung.
    Nicht das Klavier begleitet die Stimme (wie in jener von mir
    kritisierten Winterreise mit Reutter), sondern die Stimme ist im
    Klavier und das Klavier in seiner Stimme und in Beiden schwingt
    das Sprachgewaltige der Texte.


    Ein Problem stellt für mich sein Solopart der 9. Beethoven's unter Fricsay dar. Da passt mir sein Timbre nicht rein. Es klingt hier zu zart.
    Demnach mag ich seine Stimme wohl eher in den "balladesken" Bereichen hören wollen. Wer weiß?
    Ich mag seine Aufnahmen. Neu und Alt (Jeder hat einmal schlechte Aufnahmen - und so auch FiDi. Seine Guten überwiegen jedoch)


    Ein Vergleich mit den seelenlosen Stimmen von Heutzutage verbietet sich bei Dieskau. Seine Stimme stellt ein Unikat dar. Und vorallem ein VERSTÄNDLICHES Unikat.
    Es gilt der Satz, den Max Ophüls über Goehte sprach, nachdem er dessen Novelle vertonte und hebt Dieskau gleichsam in die Reihe unvergessbarer Stimmgewalt hinan -


    Vor Dieskau sollte man nicht reden. Vor Dieskau solllte man schweigen


    Selbst die (von mir oben Beschriebene) "mit Manko's besamte" Winterreise von 1952 lässt Neuaufnahmen mit Quasthoff eiskalt da stehen.


    Gruß Jan


    :hello:

  • Zunächst: Interpretationen sind m.E. immer zeitgebunden, für die Ewigkeit ist nichts gemacht. Denn sonst hätte gerade FiDi nicht immer wieder neue Aufnahmen z.B. der "Winterreise" gemacht, die seine sich im Laufe der Zeit wandelnde Auffassung des Werkes widerspiegeln.


    Niemand, der sich auch nur entfernt mit dem Kunstlied beschäftigt, wird an FiDi und seinen Aufnahmen vorbeikommen, selbst, wenn er es wollte. Die von ihm eingesungene Liedliteratur dürfte mehrere CD-Regalmeter füllen. Außerdem hat er sich als cantor doctus auch mit der Geschichte des Liedgesanges auseinandergesetzt und ist als Buchautor hervorgetreten. Eine wahrhaft enzyklopädische Lebensleistung.


    Was nun die Aufnahmen betrifft: Mir sind die am liebsten, in denen die von FiDi gesetzten Akzente weitgehend in die Gesangslinie eingebunden sind. Weniger schätze ich die vor allem in den späteren Aufnahmen auftretende Neigung, dem Wort den Ton gleichsam "von außen" hinzuzufügen, auch wenn sich FiDi diesbezüglich auf den Schubert-Freund Vogl beruft. Von den "Winterreisen" schätze ich daher die Demus-Aufnahme (DG) am höchsten ein, noch vor den Möore-Einspielungen (EMI und DG) und weit vor der intellektuell stimulierenden, aber gesanglich enttäuschenden Brendel-Produktion bei Philips. Die Mahlerschen "Wunderhorn"-Lieder sind bei ihm m.E. nur teilweise in guten Händen. Bei "Wo die schönen Trompeten blasen" kann mit seiner wirklich immer noch außergewöhnlich schön schimmernden Kopfstimme den Zuhörer verzaubern, bei "Revelge" aber stößt er an die Grenzen seines nicht sehr großen lyrischen Baritons und kann die vokalen Ausbrüche nicht gestalten, da er hörbar Mühe hat, gegen das Orchester anzusingen. Außerdem fehlt seiner Interpretation (das gilt in noch höherem Maße für seine Partnerin Elisabeth Schwarzkopf) das notwendige Mahlersche Janusgesicht von Künstlichkeit und Natürlichkeit, da er zuviel von ersterer und zuwenig von letzterer zeigt.


    FiDi singt manchmal überdeutlich, wie ein Lehrer, der seinem Schüler mittels Übertreibung eine Lektion beibringen will. Als Zuhörer bekommt man aber immer ein deutlich herausgearbeitetes Interpretationsprofil. Das kann einem gefallen oder nicht, kalt lässt es einen nur selten. FiDi liefert damit so etwas wie akustisches "Regietheater". :stumm: :pfeif:


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Lieber Giselher, ich finde, du hast es hervorragend auf den Punkt gebracht und ich sehe das ganz ähnlich wie du.
    Zeitlos vorbildlich ist FIDI insofern, als dass er den Liedgesang aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat und ihm dem Rang und die Bedeutung gegeben hat, die dieser kostbaren kammermusikalischen Gattung zusteht. Nachfolgende Musiker- Sänger- und Zuhörergenerationen profitieren davon in gleicher Weise wie etwa von Mendelssohns Ausgrabung der Matthäus-Passion. FIDI kann in dieser Hinsciht gar nciht überschätzt werden! :jubel:
    Hier in Frankreich IST FidI zusammen mit Elisabeth Schwarzkopf das deutsche Lied-das wird als Einheit gesehen.
    Ich persönlich mag seine Stimme sehr, habe aber wie Giselher meine Probleme mit der Überakzentuierung des Wortes vor der Musik.
    Ich sehe eine ziemliche Gefahr in dieser Art und Weise des Konsonaten-Spuckens für die schöne Gesangslinie und gerade eben auch für eine nciht allzu schwere lyrische Stimme . Aber das ist letztlich auch Geschmackssache und wirft die ewige Frage auf: prima la musica, prima la parola?


    Was mir ebensowenig gefällllt, ist die Tatsache, dass der Liedgesang manchesmal seiner eingeborenen "Schlichtheit" beraubt wird (wobei ich Schwarzkopf diesbezüglich um Klassen schlimmer finde!) und damit eine emotionale Qualität verliert, die ich persönlich besonders schätze. Das is taber serh unterschiedlich je nach Komponbist oder Zyklus und Hugo Wolf verträgt dieses Kaliber deutlich besser als so manches Schubertlied. Das Italienische Liederbuch von Wolf zusammen mit Irmgard Seefried fidne ich z.B. ganz hervorragend. :jubel:
    Mich würden derzeit insbesondere die Mendelssohn-Interpretationen interessieren, denn da kommt es wirklich noch mehr auf eine "edle Einfalt" an und jede deklamatorische Überbetonung ist fehl am Platze. Falls jemand die schon gehört hat und etwas dazu sagen kann, bitte ich, das auch im Mendelssohn Lied-Thread zu tun.


    Ich stimme Jaan im Winterreisen Vergleich mit Quasthoff zu. Ich finde Quasthoff zwar nciht kalt, aber FIDIs Timbre um soviel schöner und eleganter eingesetzt, dass zumindest seine früheren "schlichteren" Versonen des Zyklus einen obersten Platz in meiner Rangliste einnehmen. Heute gefällt mir als Bariton in der Nachfolge auch Matthias Goerne besonders gut .
    Wie schade dass Gioachino derzeit verreist ist-er hätte als grosser FIDI Verehrer und Schüler im Geiste sicher sehr viel zu diesem Thema zu schreiben. :yes:


    F.Q.

  • Sagitt meint:


    Wie kann man einem Sänger gerecht werden, der wie kein anderer enzyklopädisch vorgegangen ist und sicher das grösste Lied-Repertoire hatte. Zu Zeiten, als noch so etwas aufgenommen wurde, hatte Fischer-Dieskau alles eingespielt, was ihm in die Finger kam,nicht nur den kompletten Schubert.
    Natürlich war er als Sohn eines Oberstudiendirektors nicht ohne pädagogische Attitüde, aber manchmal auch Künstler vom Allerfeinsten.
    Vor allem, wenn er seine Stärken ausspielte. die Durchdringung des Liedes - der wissende Sänger- der wirklich lyrische Bariton.
    Wer sich davon überzeugen will,höre die Dichterliebe in der Aufnahme mit Jörg Demus aus dem Jahre 1958. Da kommt Fischer-Dieskauf in sängerischen Höhen, in die ihm auf diesem Gebiet kein anderer nachsteigen kann.

  • Ich finde schon, daß der Liedgesang Fischer-Dieskaus der absolute
    Höhepunkt des Liedgesangs ist. Was er als Lebenswerk hinterlassen
    hat, wird schwerlich übertroffen werden können. Es hat auch alle
    nachfolgenden sängerischen Interpretationen geprägt.
    Ich glaube, solange es Liedgesang gibt, kann man Fischer-Dieskaus
    Einspielungen auf Tonträger als zeitlos gültig bezeichnen.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    ...solange es Liedgesang gibt, kann man Fischer-Dieskaus
    Einspielungen auf Tonträger als zeitlos gültig bezeichnen.


    Herbert, wir mögen ja geteilter Meinung sein, was die Bedeutung dieses aphonen Dingsdums aus Italien, dieses Verdi, angeht, aber prägnanter und zutreffender kann man FiDis Bedeutung nicht zusammenfassen. :hello:

  • .....da wußt`ich nicht, wie das Leben tut,
    war alles, alles wieder gut.
    Lieb und Leid und Welt und Traum.


    Wer je diese Zeilen aus dem letzten der Lieder eines fahrenden Gesellen von Mahler, gesungen, nein : erlebt von Dietrich Fischer - Dieskau gehört hat, wird sie und den Interpreten nie vergessen. Daran hat das Philharmonia Orchestra London unter Furtwängler natürlich beträchtlichen Anteil.
    Wie der Sänger die vier kurzen Einsilber der Schlusszeile zutiefst erschütternd zu deuten versteht, ist m. E. bis heute konkurrenzlos.
    Dies ist e i n Beispiel, das für unzählige andere stehen mag. Der Bariton hat den Liedgesang quasi neu erfunden und ins Bewusstsein der interessierten Öffentlichkeit gerückt, trotz berühmter Vorgänger wie Schiötz, Schlusnus usw.
    Dass er Maßstäbe im Liedgesang gesetzt hat, an denen sich mit ihm wetteifernde ( Prey ) und nacheifernde Baritone ( Goerne, Quasthoff, Gerhaher, Trekel, Henschel u. a. ) meist erfolgreich messen lassen können, kann Fischer - Dieskau nicht hoch genug angerechnet werden.
    Die singuläre Stellung in der Liedgattung hat ihn allerdings hin und wieder zu Ausflügen in Bereiche animiert, die seiner lyrischen Stimme nicht gut getan haben ( Verdi, Wagner ).
    Im persönlichen Gespräch ist der Sänger humorvoll, erstaunlich bescheiden
    ( gar nicht " hohenpriesterlich " ) und mitteilsam. Vielleicht hätte er sich früher doch öfter in Talkshows sehen lassen sollen, um Werbung für seine
    Visionen und Ideen zu machen, wie sein Kollege Hermann Prey, der sich bereitwillig den neuen Medien öffnete.
    Fischer - Dieskau war für mich Anlass, eine Ausbildung zum Konzertsänger zu absolvieren : Ein unermesslicher Gewinn, nicht für die Welt, jedoch für mich.


    Ciao. Gioachino :jubel:

    MiniMiniDIFIDI

  • Lieber Robert,
    was dieses aphone Dingsdums aus Italien, diesen Verdi angeht,
    da war Fischer-Dieskau wohl eher meiner Meinung. Er liebte Verdi
    über alles, und hat von Jugend an fast alle Verdi-Partien gesungen,
    obwohl er eigentlich nicht der "Italobariton"war. Ich glaube, das
    beweist seine große Liebe zu Verdi. Als er selber nicht mehr sang,
    hat er noch mit seiner Frau (Varady) Verdi-Arien als Dirigent eingespielt.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Sagitt meint:


    das Manirierte hängt Fischer Dieskau schon seit Jahrzehnten an.
    Vergleicht man eine Fülle seiner Aufnahmen mit denen von Elisabetz Schwarzkopf, gebührt wohl letzterer die Palme.


    Bei dem Riesenwerk , das Fischer-Dieskau eingespielt hat, gibt es natürlich wenig erträgliche Aufnahmen, aber auch reiche Schätze- maniriert sie diese mit Sicherheit nicht.


    Meine persönliche Erfahrung mit ihm war- gelinge geschrieben-anstrengend.
    Ein Interview für Radio Bremen zu seinem 65ten.


    Wie schön, wenn er auch andere Seiten hatte....

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  • Ein freundliches Hallo an Euch! Ich steige in die schöne Diskussion gleich ein, indem ich die bisherigen Beiträge, die allesamt sehr anregend waren, als gelesen voraussetze.


    Womöglich sollten wir zunächst die Wirkung, die eine interpretatorische Leistung entfaltet, von dieser selbst abtrennen. Es kann schlichtweg kein Kriterium für die (wie auch immer letztlich zu erfassende) Güte und Qualität einer künstlerischen Darbietung sein, daß sie die Plattenläden oder die CD-Regale füllt, ja, nicht einmal, daß „Generationen von Liedinteressierten“ sich mit dieser Darbietung auseinandersetzten oder mutmaßlich noch auseinandersetzen werden. In der Philosophie spricht man an dieser Stelle vom „Primat des Faktischen“. Etwas wird für in Ordnung befunden oder gar als unumgänglich hingestellt (und zwar auch vor der eigenen kritischen Vernuft), bloß weil es „der Fall ist“, weil es das gerade gibt und alle anderen davon sprechen, daran teilnehmen. Ein Sachverhalt zieht seine Legitimation quasi aus der Tasache, daß er besteht. Bei näherem Hinsehen keine gute Argumentationsgrundlage.


    Daran schließt sich ein weiterer Gedanke. Ich möchte ihn etwas ausführlicher darstellen, weil ich der Ansicht bin, daß er unausgesprochen jeder Meinungsäußerung zu diesem oder einem ähnlich gearteten Gegenstand zugrunde liegen wird.


    Wir alle kennen verschiedene Sängerinnen und Sänger und haben uns in der Regel auch mehrere ihrer Interpretationen verschiedener Werke angehört, manchmal auch unterschiedliche Darbietungen des gleichen Werkes. Dabei fallen uns Charakteristica in der – sozusagen – „prinzipiellen“ Herangehensweise eines Künstlers auf. Merkmale ihres Vortrages, die beibehalten werden und als ihre künstlerische Signatur gelten können, Konstanten, die uns – neben der physischen Beschaffenheit einer einzelnen Menschenstimme – den Künstler mehr oder weniger leicht wiedererkennen lassen. Und die eben auch dazu beitragen, daß wir seine Arbeit schätzen oder ablehen. Mit unterschiedlich guten Gründen. Was aber sind eigentlich in dem Zusammenhang hier „gute“ Gründe?


    Man kann die Winterreise mit Fischer-Dieskau kaufen. Mindestens zehnmal. Man kann sie mit Hermann Prey, mit Kurt Moll, mit Peter Schreier, sogar mit Christine Schäfer finden. Es gibt allerdings eine endliche Menge von verfügbaren Interpretationen, selbst wenn wir die Bühnendarbietungen, die niemals mitgeschnitten wurden, und die Proben, ja, jedes grauenvoll laienhafte Trällern in den eigenen vier Wänden mit hinzuzählen wollen. Eine davon wird doch wohl unseren Ansprüchen genügen? Welche ist die beste?


    Das ist die eine Möglichkeit zu fragen. Das läßt sich entscheiden ungeachtet der Tasache, daß es, wie unwirklich oft angeführt wird, die „perfekte Interpretation nicht gebe“! Aber woher wissen wir eigentlich, wie die (für uns) „perfekte Interpretation“ zu klingen hat, wenn wir sie noch nie gehört haben und sicherlich auch selbst nicht herstellen können werden? Eben, durch Abstraktion der denkbaren und realisierbaren Vortragsmöglichkeiten, die ein Mensch nach den physischen und intellektuellen Beschränkungen, von denen wir wissen, günstigstenfalls hervorbringen könnte! Und woher wissen wir, was möglich ist? Durch das, was schon da war, besonders deutlich wird uns das am Beispiel von Extrema (dazu gleich mehr). Und doch: Allein durch das, was da ist oder war?


    Die andere Art der Fragestellung, auf die sich denn auch hier (und gewöhnlich ebenso an allen andern gleichangelegten Stellen im Forum) die Beiträge beziehen, ist die nach der Beurteilbarkeit eines bestimmten Vortragsmusters. Das ist etwas völlig anderes.
    Während die Suche nach einer bravorösen einzelnen Interpretation durchaus Erfolg versprechen konnte, ist hier nach so etwas wie einer Summe oder einem „musikgeometrischen Mittel“ aus mehreren Interpretationen desselben Künstlers gefragt. Wie aber soll ein solches Muster erstellt werden, wenn wir nicht auf die generell vorhandenen Darbietungsmöglichkeiten Zugriff nehmen können, die allen einzelnen Darbietungsweisen, die wir wahrnehmen, zugrundeliegen müssen? Entscheidend ist hier, was überhaupt an Darbietungen denkbar ist.


    Ein leicht verändertes Beispiel aus der (praktischen) Philosophie Immanuel Kants: Auch wenn wir noch nie einen Menschen gefunden hätten, der sein ganzes Leben lang ohne irgendein böses Wort zu einem seiner Mitmenschen auskam, so ist es selbstverständlich völlig im Bereich des Möglichen, daß ein solcher Mensch existieren könnte.
    Das Beispiel möge nicht verwirren. Es kommt hier nicht auf die „Unantastbarkeit“ jenes Menschen an, sondern auf die Denkmöglichkeit seines Verhaltens. Es ist einfach sehr leicht vorstellbar, das es so jemand geben könnte, ob es nun schon der Fall ist (und war) oder nicht. Und auch, wenn es nicht leicht vorstellbar wäre, daß es überhaupt vorstellbar ist, genügt.
    Ebenso gibt es, wieder zurück bei der Musik, vielleicht eine – sicher ebenso endliche, wenn nicht noch „endlichere“ – Palette an scharf abgrenzbaren unterschiedlichen Darbietungsmöglichkeiten von Kunstliedern. (Die Vielfalt und die teils gravierenden epochenspezifischen Charakteristica seien hier der Bequemlichkeit halber außenvor gelassen). Paradigmatisch jede Darstellungsmöglichkeit für sich, aber immer gerade so und nur so abstrakt, daß sie für einen überschaubaren Bereich von wirklichen Darbietungsweisen zum diese zusammenfassenden Begriff dienen kann. Begriffe sind dazu da, Einzelfälle nach ihren wesentlichen Eigenschaften und Merkmalen zusammenfassen zu können. Solche Begriffe brauchen wir, um die Einzelfälle überhaupt benennen zu können, die wir erleben. Deutlich wird uns dies meist erst, wenn ein besonders extremer Einzelfall oder ein besonders extremes Muster von Einzelfällen vorkommt, das uns auf den zugehörigen Begriff nicht nur verweist, sondern das den Begriff mit kleinen, aber entscheidenden Abstrichen (kein Einzelfall kann einen Begriff vollständig abbilden) zu repräsentieren scheint. Ich denke in unserem musikalischen Interpretationszusammenhang beispielsweise an die „Dirigate“ Furtwänglers oder Toscaninis, die beide in gewisser Hinsicht ein Extrem(muster) bildeten, weil sie relativ kompromißlos eine gut erkennbare „Möglichkeit“ (des Dirigierens) umzusetzen unternahmen.


    Der Liedsänger Fischer-Dieskau hat nun, wenn wir von dieser Prämisse einer „Palette von ausreichend abstrakten Möglichkeiten“ ausgehen, eine bestimmte (zu Beginn seines Wirkens noch leerstehende) „Stelle“ im Bereich aller nur realisierbaren Möglichkeiten der Liedinterpretation belegt, und er hat diese „Stelle“ mit der nötigen Präzision und Deutlichkeit nach außen repräsentiert. Begriffe wie „hohe Textverständlichkeit“, „Vorzug des gesprochenen Wortes“, „distanzierter Vortrag“ oder „informierte, studiengestützte Herangehensweise“ fallen immer wieder. Sie umschreiben aber nicht allein sein (Dieskaus) Anliegen, sondern charakterisieren auch die verhältnismäßig große Ausdehnung, die die von ihm gewählte „Interpretationsstelle“ auf der Palette der denkbaren Möglichkeiten einnimmt. Mit einem Wort, Dieskau hat sich, so scheint es mir, für ein im Vergleich zu anderen wählbaren Möglichkeiten „bedeutendes“ und zur miterlebenden Auseinandersetzung anregendes Konzept entschieden, und zwar, wie wir zuversichtlich annehmen dürfen, aus Gründen, die ihm nahelagen und auch einleuchteten. Denn er hat drüber nachgedacht, aber haben das auch alle seine Konkurrenten, seine Kritiker? Nur andeutungsweise will ich hier erinnern, daß „Kunstlied“ eben nicht „Volkslied“ oder einfach „Lied“ meinen kann, der terminologische Unterschied (der ja im Idealfalle auf einem der Phänomenebene beruht) sollte nicht als erste Amtshandlung gleich mal bedenkenlos eingeebnet werden, um dann die „Künstlichkeit“ mancher Lieder (und wohl der überwiegenden Zahl) zu beargwöhnen und für sie eine „entschlackte“ und „angenehm unterbetonte“ Darbietung zu fordern. Das würde eine äußerst vereinfachte Erwartungshaltung dokumentieren. Dann hätte sich so mancher Tonsetzer so manche Mühe sparen können.


    Die unausgesetzte Arbeit an seinem einmal für „richtig“ erachteten künstlerischen Weg hat im Verein mit außerordentlich günstigen publikationstechnischen Umständen der Zeit, in der Herr Dieskau wirkte, nur ein Paradigma prominent gemacht, das auch bestanden hätte (und bestehen würde), wenn es bis zum heutigen Tage noch niemand Realität hätte werden lassen.
    Man darf Dieskau ferner nicht zur Last legen, daß er, anders als die Vielzahl der auch an dieser Stelle so oft gelobten „natur-naiven“ Sänger, sein gewähltes und von ihm dann ausgestaltetes, gleichsam in der Arbeit mit detallierten Konturen versehenes Konzept auch sprachmächtig neben der Bühne und dem Aufnahmestudio darzustellen wußte. Man müßte letztlich schon irgendwie außerhalb der unexplizierten persönlichen Neigung (die ja auch einer Sozialisation unterlag und nicht aus dem „reinen Geschmacksurteil als solchem“ entstanden sein wird), man müßte letztlich außerhalb solcher Neigungen einen Weg von den von mir so betonten „Möglichkeiten“ zu bestimmten (und in aller Regel dann auch in Mischformen dieser erst einmal als rein und damit exemplarisch gedachten Möglichkeiten bestehenden) realen Darbietungsweisen eines Akteurs, einer Künstlerin allererst anlegen. Das wäre, wie mir sehr deutlich ist, der leichtesten Geschäfte eines nicht. Aber das Kränzchen der „Liedfreunde“ geriert sich ja auch gern recht elitär, weit häufiger zumindest, als die meisten andern „klassischen“ Gemeinden. Da kann man das schonmal von sich verlangen, nicht?


    Wollte man sich allerdings des Kriteriums der (zumindest in der Abstraktion angestrebten) deutlichen Erkennbarkeit und Beispielhaftigkeit und scharfen Abgrenzbarkeit jeder nur denkbaren Möglichkeit von Darbietung begeben, so entzöge man sich auch die Grundlage, intersubjektiv über die bekannten Darbietungsweisen zu kommunizieren (die ja ihrerseits wieder aus einer Abstraktion vieler im Grunde ebenfalls unreduzierbarer Einzelvorträge des in Rede stehenden Künstlers gewonnen sind). Aber womöglich ist genau das am Ende unumgänglich? Ich weiß es nicht.


    Vielleicht kann man immerhin das Pardigma, für das Fischer-Dieskau steht, weil er sich bewußt dafür entschieden hat, vielleicht kann man „sein“ Paradigma, das das Paradigma eines jeden sein kann und auf das er kein copyright besitzt, er hat lediglich eine allerdings stark vernehmbare Duftmarke gesetzt, vielleicht also kann man dies Paradigma doch bei aller Schwierigkeit auf der postulierten „Palette aller Möglichkeiten“ ausfindig machen und benennen. Bewerten wird man es nur können, indem man einmal die dominierenden Eigenschaften des Paradigmas möglichst exakt herausarbeitet und expliziert, und es danach von ebenfalls durch solch ein Verfahren geklärten alternativen Darbietungsmöglichkeiten (nicht: Darbietungsweisen) absetzt, erläutert und erst dann im „technischen“ Sinne evaluiert.


    Also: Viele völlig unterschiedliche Darbietungsweisen eines (und desselben) Stücks durch einen (und denselben) Künstler werden in einem ersten Schritt von uns allen zu einem ersten Paradigma verdichtet, abstrahiert und damit auf zulässige Weise reduziert. Denn wenn wir diese Reduktion bestimmter wesentlicher Eigenschaften und Merkmale eines Vortrages nicht vornähmen, wäre jeder einzelne Vortrag selbst nicht zu fassen und sprachlich auch nicht mitteilbar. Mir scheint nun, daß in einem zweiten Schritt die grundlegenden Möglichkeiten eines solchen Vortrags überhaupt abgesteckt, überblickt und geordnet werden müssen, um danach in einem dritten Schritt wieder zurück zum mittleren Paradigma, der aus Einzeldarbietungen abstrahierten generellen Vortragsweise eines bestimmten Künstlers (wovon ja auch in diesem Thread die Rede sein soll), in diesem „mittleren“ Paradigma also jene Bewertungen vornehmen zu können, um die es uns zu tun ist und nach denen wir uns gegenseitig fragen.


    Doch weg vom „Allzuernsten“ und Abstrakten. Ich gehe abschließend, ohne schon über ein solches „mittleres“ Paradigma mit der nötigen Genauigkeit in unserm Falle zu verfügen, in lediglich sehr kurz hingeworfne Auszüge einer eigenen und auch nur oberflächlichen Kritik.
    Meines Erachtens entbehrt Dieskau nicht der Kantabilität, wenn er auf Endkonsonaten gesteigerten Wert legt. Die Kunst besteht vielmehr darin, beides unangestrengt und, wenn eben möglich, auch unmerklich zu verbinden. Erst hier darf Einzelkritik einsetzen, etwa indem sie behauptet, daß ihm das nicht gut gelungen sei. Ich finde jedoch, es ist ihm gelungen. Ich möchte verdammtnochmal keinen Lautbrei haben, wenn ich ein Schumannlied kennenlerne oder mir die x-te Interpretation eines „Brahmssongs“ gespannt vor Ohren führe. Abgesehen davon, daß es eine gewisse Höflichkeit erkennen läßt, wenn der Sänger sich bemüht, daß auch nicht vorinformierte Hörer am Textinhalt teilhaben können, ist jener Text einfach so integraler Bestandteil des Liedes, daß es schlicht von künstlerischer Sorglosigkeit zeugte, würde dieser Bestandtteil irgendwie unnötig vernachlässigt.


    Kritiker werden sagen, Dieskau trenne aber ja gerade Text und Musik, wenn er überartikuliere! Hier werde die Einheit des Werkganzen preisgegeben! Ja, hieße denn das im Gegenzug, daß das instrumentale Material im Vortrag auch nicht stark akzentuiert werden dürfe, um der „Symbiose nicht zu schaden“? Das wird wohl niemand ernsthaft verlangen. Was soll denn dann überhaupt noch akzentuiert werden dürfen? Ich mutmaße eher (aber dunkel), hier steht ein unausgesprochenes Vorverständnis von Musik als Wortersatz im Raume, als etwas, das jede sprachliche Aussagemöglichkeit per se überbietet und aus diesem Grunde auch nicht mit ihr kontaminiert werden dürfe! Sollte dem so sein, so bin ich genau gegenteiliger Auffassung und würde eher dafür plädieren, daß Liedsänger sich mal mit Metrik und sprachlicher Stilistik auseinandersetzten, bevor sie sich denn selber auf die kunstvollsten Gedichte loslassen.


    Es gibt ja den Begriff der „Kontrafaktur“, der, komplementär zu dem der „Vertonung“, einer einmal gefaßten Melodie einen ständig neuen Text zu unterlegen gestattet. Hier steht das musikalische Material als das „wertvollere“ und erhaltenswerte im Vordergrund. Umgekehrt gibt es von vielen als wertvoll erachteten Textvorlagen mehrere Vertonungen. Signalisiert dies nicht schon eine gewisse Bedeutsamkeit des Sprachvorkommens? Müssen denn alle Sänger und Sängerinnen möglichst mit einer Jahrhundertstimme, aber ebenso möglichst ohne nachzudenken loslegen? Und muß man denn immer dezidierte Prioritäten ausarbeiten, nach denen alle, die kleine Pamela in der Schulaula ebenso wie der große Fischer-Dieskau auf dem Podium der Philharmonie, vorzugehen hätten? Eine moderne Form von normativ gefaßter musikalischer Poetik scheint mir dies. Und zwar eine, bei der der Rezensent, wie Lessing sagt, „nicht besser machen können muß“, was ihm sein Liedersänger vorsetzt. Ungleiche Voraussetzungen. Und unnötige Restriktion einer wünschenswerten Vielfalt. Doch war das nicht die Ausgangsfrage…


    Ich bin mir recht gewiß, daß dieser Beitrag, der durchaus viel theoretischer und damit länger geworden ist, als er geplant war, (falls ihn jemand liest) belebenden Widerspruch erfahren wird. Darauf freue ich mich schon. Denen, die sich selbst bereits einige Gedanken zu den angerissnen Sachverhalten gemacht haben, wird aufgefallen sein, daß auch der Status des „Werks an sich“ (im Gegensatz zu seiner Interpretation) noch berücksichtigt werden müßte.
    Wir sollten die „Ich finde…“-Debatten, die stets in der Überzahl bleiben werden und an denen ich mich gern mit dem nötigen subjektiven Verve beteilige, nicht abschätzig betrachten; aber manchmal ist einem Sujet eher beizukommen, wenn vielleicht nicht ganz ohne einen gewissen Aufwand an „Grundlagenmaterial“ gefuhrwerkt wird. Dies gehört dazu. Oder was meint Ihr?


    Alex.

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Meines Erachtens entbehrt Dieskau nicht der Kantabilität, wenn er auf Endkonsonaten gesteigerten Wert legt. Die Kunst besteht vielmehr darin, beides unangestrengt und, wenn eben möglich, auch unmerklich zu verbinden. (...) Abgesehen davon, daß es eine gewisse Höflichkeit erkennen läßt, wenn der Sänger sich bemüht, daß auch nicht vorinformierte Hörer am Textinhalt teilhaben können, ist jener Text einfach so integraler Bestandteil des Liedes, daß es schlicht von künstlerischer Sorglosigkeit zeugte, würde dieser Bestandtteil irgendwie unnötig vernachlässigt.


    Kritiker werden sagen, Dieskau trenne aber ja gerade Text und Musik, wenn er überartikuliere!


    Hallo Alex,


    Wie ich Dieskau gegenüber stehe, habe ich öfter gezeigt und gesagt. Nicht umsonst habe ich ihm eine mini-Biographie gewidmet (Schau mal hier und hier)


    Ich beurteile ihn anders, wo es sich um Worddeutlichkeit handelt. Denn für mich, Ausländer, war seine "Diktion" :D eine große Hilfe. Wo bei Euch undeutliche Klänge oft reichen, um dennoch als "Aha-Erlebnis" verarbeitet zu werden, gilt/galt das für mich nicht.
    Und ganz sicher nicht, als ich noch kaum eine Ahnung von der Deutschen Sprache hatte.


    LG, Paul

  • Sagitt meint:


    DFD hat seit 1948 Aufnahmen gemacht und dies über vierzig Jahre. In dieser langen Zeit haben sich seine Interpretationsansätze natürlich gewandelt, eine Zeit lang durch Überpointierung des Textes.
    Irgendwann hing ihm das Etikett an, aber es wird diesem grossen Sänger bestimmt nicht gerecht, weil es nur ein Aspekt ist. Einer.

  • Hallo Alex,


    Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl: Nur andeutungsweise will ich hier erinnern, daß „Kunstlied“ eben nicht „Volkslied“ oder einfach „Lied“ meinen kann, der terminologische Unterschied (der ja im Idealfalle auf einem der Phänomenebene beruht) sollte nicht als erste Amtshandlung gleich mal bedenkenlos eingeebnet werden, um dann die „Künstlichkeit“ mancher Lieder (und wohl der überwiegenden Zahl) zu beargwöhnen und für sie eine „entschlackte“ und „angenehm unterbetonte“ Darbietung zu fordern.


    wenn ich als ein Paradigma die durch Fischer-Dieskau verwirklichte starke Akzentuierung des Wortes ansetze, als Gegenstück dazu die quasi volksliedhafte Behandlung des Kunstliedes , die man z.B. bei einigen Aufnahmen von Heinrich Schlusnus feststellen kann, so sehe ich einen Mittelweg in den Aufnahmen von Peter Pears: weder entschlackt noch unterbetont, sondern auch eher "sophisticated", aber doch auf eine Art, welche die Worte in "Klangfiguren" bettet (ich kann es leider nicht besser beschreiben) und in meinen Ohren dadurch doch eine stärkere Einheit von Musik und Text herstellen kann. Diese Art der Darbietung gefällt mir persönlich am besten, ohne dass ich damit die Bedeutung Dietrich Fischer-Dieskaus für das Kunstlied, die ich ebenfalls als sehr groß ansehe, herabsetzen möchte.


    :hello: Petra

  • Erst jetzt stoße ich auf die gräfliche Theorie (wir wissen es: grau, lieber Freund) und kann mich nicht enthalten, ein paar Kleinigkeiten ein- und hinzuzuwerfen, die mir bei aller Tiefe des Zugangs noch fehlen.
    Ich kann von dem, was ich verstanden habe, das meiste schlicht unterschreiben, bewahrt es in seiner praktischen Konsequenz ja die größtmögliche Varianz denkbarer und folglich zunächst legitimer Interpretationen. Die Frage, die fundamental subjektiv, asymptotisch jedoch unter Zuhilfenahme objektiver Elemente zu beantworten ist, lautet daher nicht "Was sei gestattet?" bzw. "Was ist richtig?", sondern in unserem speziellen Fall "Was ist hörenswert?"
    Das Kunstlied unterscheidet sich vom gesprochenen Wort durch eine schlichte Kleinigkeit, ungeachtet der Hierarchie von Wort und Musik: Es folgt den Regeln des Gesangs. Nun sind diese bekanntlich und zum Glück erweiterbar, formbar, umwertbar. Die Problematik entsteht für mich zuallererst auf diesem Gebiet: Wie ist die jeweilige Darbietung gesanglich zu bewerten? Welchen Effekt erzielt sie damit? Und erst an dritter Stelle: Sagt mir diese Interpretation zu?
    Und hier also setze ich die Parameter, die bei aller interpretatorischen Leistung erfüllt sein sollten, um von hervorragendem Gesang, ergo auch Liedgesang sprechen zu können. Wie behandelt der Künstler die Passagen stimmlich? Wie ist die mezza voce ausgebildet, vermag er subtil zu phrasieren, Rubati, Schwelltöne, Pianissimi und Sprünge kunstfertig und beherrscht in seine Linie zu integrieren? Wie angenehm ist das Timbre, und was tut der Singende dazu, Defizite zu optimieren? Wie gut färbt der Vortragende seine Stimme ein?
    Erst nach Bewältigung solcher Hürden frage ich nach der Diktion, der adäquaten Stimmung etc.


    Abschließend erwähne ich gern, daß Fischer-Dieskau Pioniertaten vollbracht und gewaltige Verdienste für die Positionierung des Kunstlieds hat. Ein zentraler Liedsänger ist er natürlich. Ob ich seine Interpretationen höher schätze als andere, entscheide ich gern von Fall zu Fall, ich ziehe mich allerdings (wie auch sonst) mit Vorliebe auf Liedsänger/innen älterer Provenienz zurück.


    LG,


    Christian

  • Am 5. September 2004 sah und hörte ich (wenn man die Meisterkurse nichr mit rechnet) Fischer-Dieskau letztmals auf der Bühne - als Sprecher; es wurden verschiedene Melodrame aufgeführt (Hartmut Höll am Klavier). Es war beeindruckend, was der Sprecher Dietrich Fischer-Dieskau bot.
    Erstmals hatte ich Fischer-Dieskau etwa vierzig Jahre vorher als Liedsänger gehört. Die 7.(!) Zugabe war noch so makellos wie das erste Stück des Abends.
    Man kann nur staunend zuhören, alles andere ist zuviel...

  • Liebe Forianer


    Heute hatte ich vor einen neuen Thread über den LIEDERSÄNGER Dietrich Fischer Diskau zu starten (Arbeitstitel: Dietrisch Fischer Dieskau aus Liedersänger - Der "Überinterpret" (???) ) -da fand ich diesen und hatte den Eindruck daß er durchaus fortsetzenswert wäre. Ich fand auch einen weiteren - fast namensgleichen, den Hart gestartet hatte, aber noch keine Antworten für sich verbuchen konnte. Daher legte ich die beiden Threads zusammen und setze an dieser Stelle mit Schwerpunkt "Überiinterpretation" fort.
    Fischer Dieskaus Karriere ist ja beinahe einzigartig, wenn man in Betracht zieht, daß er als Liedersänger wesentlich bedeutender ist, als in seiner Eiogenschaft als Opernsänger, wobei er auch hier auf Tonträger sehr präsent war, jedoch nicht so beinahe kritiklos anerkannt war wie als Liedersänger. Letzteres traf natürlich nur auf seine Glanzzeit zu, gegen Ende seiner Karriere wurde er von diversen Kritikern und Gegnern gerne wergen seiner "Überinterpretation" "getadelt", aber wie heißt es schon im Sprichwort: viel Feind- viel Ehr.
    Man mag Fischer-Dieskauim Bereich der Oper manche Kleinigkieten "vorwerfen", wie seine angeblich nicht ideale italienische Aussprasche, seinen allzu intellektuellen und zu wenig wienerischen Papageno in der Böhm-Aufnahme (ich finde beide Punkte unerheblich) - jedoch im Bereich des Liedes galt er in seiner Glanzzeit als unübetroffen.
    Manchen behagte der volksnähere Hermann Prey mehr, aber das waren wohl geschmackliche Unterschiede beim Publikum - keine der Qualität.
    Im Gegenzug wurde FIscher Dieskaus intellektuelle Ausdeutung der Schubert- (und andererer) Lieder gerühmt und gepriesen. Kaum eine Rundfunkübertragung von den Salzburger Festspielen, wo nicht der Name Dietrisch Fischer-Dieskau im Vorspann oder Abspann genannt wurde. Es sng und sang, machte Tonaufnahmen en masse, ohne daß je die Qualität darunter litt. In den letzen Jahren seiner Karriere, als die Stimme merkliche Verschleißerscheinungen zeigte, versuchte er dieses Manko - es muß ihm als erster schmerzlich bewusst geworden sein, durch besonders intellektuellen Vortrag zu kompensieren, was von einigen mit Jubel begrüßt, von anderen kritisch kommentiert wurde.


    Er bekam irgendwann- auch in Bezug auf das Lied den Ruf als "Überinterpret", der allzu manieristisch seinen Vortrag gestaltete.
    Das mag sein - indes - mich persönlich stört das nicht.
    Wenn ich diesem hervorragenden Liedersänger, der so viel für das Image des Liedes getan hat, gerecht werden will, dann muß ich die Lebensleistung - die Over-All - Performance in die Waagschale werfen.
    Und wenn man das tut, wird man feststellen müssen, daß Fischer-Dieskau im Fach Liedersänger nicht nur in seiner Epoche zur absoluten Spitzenklasse zählt, sondern im gesamten 20, Jahrhundert.....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es ist doch überhaupt keine Frage, das Fischer-Dieskau ein phänomenaler Liedersänger ist, der den Vortrag des Kunstliedes geradezu revolutioniert hat. Nach Schlusnus, Rehkemper, Hüsch und weiteren leitete er eine Ära der intelligenten, das Wort in den Vordergrund stellenden Interpretation ein.
    Nur, wenn man wie Fi-Di. Jahrzehnte lang gezwungen ist, dieselben Liedzyklen immer und immer zu wiederholen und damit bei dem Maßstab den Fischer-Dieskau bei sich selbst anlegt, immer Neues gestalten will, dann stößt auch der Größte an Grenzen. In den späten Jahren ist tatsächlich eine Art "Überinterpretation" festzustellen. Einzelne Phrasen werden nicht mehr genügend Legato gesungen und dadurch manchmal direkt quälend zerdehnt. Bei der Artikulation gibt es im Bemühen um Ausdruck oft manierierte Überbetonungen.
    Die Ära Schwarzkopf und Fischer-Dieskau muss ebenfalls weiterentwickelt, überwunden und abgelöst werden. Einige der jungen Liedersängerinnen und Liedersänger sind dabei auf einem sehr hoffnungsvollen Weg.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Dem kann ich sicher kaum etwas Neues hinzufügen. Wenn man alleine seine vielen "Winterreisen"-Aufnahmen betrachtet, so braucht jede, auch die späte mit dem kongenialen Alfred Brendel, keinen Vergleich mit allen anderen Winterreisen zu scheuen, höchstens, dass man seine Winterreisen untereinander vergleicht und sagt: Hier war die Stimme noch am besten, oder hier war sein sprachlicher Ausdruck optimal, oder hier hat er sich am besten in Schubert hineinversetzt.


    Mit einem Wort. als Liedsänger ist er zeitlos und top, und was er als Opernsänger alles zuwege gebracht hat, wird sicherlich anderswo gewürdigt. Ein Wort noch zu der unterwähnten, wie ich finde, revolutionären Anlage des Papageno: sie war einer der beiden Gründe, warum ich mir diese Aufnahme zur bestandenen Matura gewünscht habe, der andere hieß Fritz Wunderlich.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

    Einmal editiert, zuletzt von William B.A. ()

  • Was ist zeitlos gültig?


    Wäre eine Aufnahme von Monteverdis Orfeo unter Leitung/Mitwirkung des Komponisten zeitlos gültig?


    Sind die Aufnahmen Brittens seiner eigenen Werke zeitlos gültig?


    Sind die Aufnahmen Bartoks seiner Klavierwerke zeitlos gültig - insbesondere dort, wo er gegen seine eigenen Vortragsbezeichnungen verstoßen hat?


    FiDis Einspielungen wurden ja selbst zur Zeit ihrer Veröffentlichung als mangelhaft bezeichnet: Überdeutliche Diktion, dadurch Vernachlässigung der vokalen Linie, zu wenig Schönklang, zu viel Intellekt, zu wenig Gefühl ... die Liste der Vorwürfe ist lang.


    Ist Schnabels Beethoven zeitlos? Ist Tibbetts Boccanegra zeitlos? Sind die Beethoven-Einspielungen des Busch-Quartetts zeitlos? Ist Furtwänglers Tristan zeitlos? Ist Klemperers Eroica zeitlos? Sind Schwarzkopfs "Vier letzte Lieder" (mit Ackermann) zeitlos - oder doch eher mit Lisa della Casa? Wo wir dabei sind: Böhms Daphne?


    Ich hoffe, dass in hundert Jahren noch jemand da ist, der klassische Musik per Medium (welches auch immer) hört. Aber wer weiß, ob dann noch jemand FiDi hören will, und sei es als interpretatorisches Kuriosum?


    Ich meine schon, dass sich in hundert Jahren jemand für FiDis Interpretationen interessieren wird. Aber ob die Einspielungen dann höher oder geringer geschätzt werden als heute - keine Idee ...

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  • Vorab eine Anmerkung zum Aspekt "Zeitlosigkeit", der hier auf dem Forum diskutiert wird. In einem Gespräch mit Eleonore Büning, das das ZdF im Jahre 2000 aufzeichnete, wurde Fischer-Dieskau gefragt, was nach seiner Meinung wohl von seinem "Schaffen" bleibe. Nach kurzem Nachdenken gab er zur Antwort:
    "Es wird nicht viel bleiben. Darüber bin ich mir klar. Wenn die Schallplatten einmal eingestampft sind, dann kommt das Vergessen, ob man will oder nicht. (...) Solange die Schüler noch leben, ist ein gewisses Weiterleben möglich. Der Rest ist Schweigen."


    Was die historische Bedeutung Fischer-Dieskaus anbelangt, so dürften aus meiner Sicht mindestens zwei Fakten unstrittig sein:


    1. Er hat dem Kunstlied im deutschen und internationalen Konzertleben nach dem Krieg den Rang und die Bedeutung verliehen, die ihm als musikalischer Gattung zukommt. Die Zeit der Potpourris aus Kunstlied-Highlights verschiedener Komponisten ging mit seinem Auftreten zu Ende.
    Wer einmal einen Fischer-Dieskau-Liederabend erlebt hat, konnte den Anspruch, den dieser Sänger an das Kunstlied und seine Interpretation stellte, hautnah spüren. Die Atmosphäre war von der Art, wie sie jedem Augenblick der Begegnung mit ganz großer Kunst innewohnt, die dem Menschen etwas zu sagen hat.
    Fischer-Dieskau hat einmal davon erzählt, wie ihm nach einem Liederabend in Chicago Leontyne Price entgegenkam und gestand: "Sie hatten nicht nur einen strengen Smoking angehabt, sondern auch ein strenges Programm geboten. Wir mussten uns erst langsam daran gewöhnen."


    2. Fischer-Dieskau hat das Liedrepertoire gewaltig erweitert und Komponisten erschlossen, die dem "normalen" Liedfreund bislang unbekannt waren, - weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein. Das ist eine Pionierleistung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sie erfolgte freilich vorwiegend auf Schallplatte (was nicht seine Schuld war!).
    Das Werk Othmar Schoecks, um nur einen Namen zu nennen, wurde durch ihn erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit seiner Lp-Kassette "Stilwandlungen des Klavierliedes" ermöglichte er es dem Liebhaber des Kunstliedes, sich einen Überblick über dessen Entwicklung bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu verschaffen und sich dann in Einzelveröffentlichungen zu diesen Komponisten zu vertiefen.


    3. Die folgende These mag umstritten sein, sie sei dennoch guten Gewissens hier vertreten. Fischer-Dieskau ist, wenn auch vielleicht nicht der erste, so doch derjenige Liedinterpret, der auf herausragende und höchst eindrucksvolle Weise hörbar und bewusst gemacht hat, dass der Sprache im Kunstlied eine besondere Bedeutung zukommt.
    Dieses unterscheidet sich eben von anderen musikalischen Gattungen, in denen Sprache mit Musik eine Verbindung eingegangen ist, dadurch, dass es sich hierbei um ein Werk handelt, in dem ein Gedicht, ein autonomes (!) sprachliches Kunstwerk also, in eine (wenn gelungen!) adäquate musikalische Struktur übergeführt worden ist.
    Dem muss bei der gesanglichen Interpretation Rechnung getragen werden. Die schöne und gut geführte Stimme allein reicht dafür nicht.
    Das, was Fischer-Dieskau immer wieder einmal als "Manierismus" und "Über-Interpretation" - womöglich gar mit pädagogischer Absicht - angekreidet wurde, markiert genau diesen Sachverhalt. In den meisten Fällen (es gibt Ausnahmen, vor allem aus der Spätzeit) lag keine "Über-Interpretation" vor, sondern der Sprache wurde genau das Gewicht gegeben, das ihr im Kunstlied zukommt und das bei der Interpretation hörbar werden muss.


    VORSCHLAG und BITTE:
    Vielleicht kann mir ja ein Forianer, bzw. eine Forianerin mitteilen, in welchen Punkten ich mich irre und auch ein Beispiel nennen, bei dem die angeblichen "Unarten" Fischer-Dieskaus besonders deutlich zutage treten. Denn es könnte sein, dass ich befangen bin. Ich bin als Liedfreund sozusagen in Realzeit mit dem Sänger Fischer-Dieskau aufgewachsen und habe ihn in vielen Konzerten erlebt. Liedinterpretation hat sich für mich nahezu unlöslich mit den Eindrücken verbunden, die die ersten Fischer-Dieskau-Schallplatten, die nach dem Krieg bei Electrola erschienen, auf mich machten.

  • Lieber Helmut,


    Du hast Deine Meinung ausgezeichnet mit Beispielen begründet. Dabei spürt man aus Deiner "Laudatio" die Begeisterung für den Sänger und das Herzblut.
    Wer wollte und dürfte Dir diesen berechtigten Enthuiasmus nehmen?
    Dies zu tun wäre eine Sünde. Also bleibe dabei und genieße die großartigen Liedinterpretationen Deines FIDI. Das ich in Teilen eine abweichende Meinung habe und diese auch in diesem Thread bereits äußerte ist eine andere Sache.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber Helmut Hofmann,


    Namenskürzel sind zwar sehr in Mode gekommen, ich verabscheue sie trotzdem. Die Krone der Geschmacklosigkeit dürfte wohl die aus Selbstüberschätzung erfolgte Umbenennung eines Möchtegernbaritons in MiniDiFiDi sein. Doch das nur am Rande, es ist modisch-vergänglich.


    Du hast vieles über Dietrich Fischer-Dieskau geschrieben, was rein faktisch richtig und unanfechtbar ist. Auch in meinen Augen hat der Künstler sich große Verdienste um das deutsche Liedgut erworben. Einiges davon wird zeitlos-gültig bleiben.


    Was ich aber bei allem Respekt vor dieser Persönlichkeit auch sagen muß: Seine Art zu singen berührt meine Seele nicht. Das mag verschiedene Ursachen haben, vielleicht liegt es auch an mir selbst, daß der Funke nicht überspringt. Wenn ich ein Lied höre, dann will ich den Inhalt fühlen und nicht einen Lernmodul konsumieren.


    Doch ich will dich tröstlich stimmen, deshalb: Jeder hört mit seinen eigenen Ohren und hat seine eigenen Künstlervorlieben. Das soll auch so bleiben.
    :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Lieber Siegfried,
    über das Wort "Lernmodul" bei Ihnen bin ich regelrecht erschrocken. Was soll dieses Wort bedeuten? Meint es etwa diesen Vorbehalt gegenüber Fischer-Dieskau, seinen Liedinterpretationen hafte zuweilen etwas Pädagogisches an?
    Bitte verstehen Sie mich recht. Ich fühle mich nicht in meiner Hochschätzung Fischer-Dieskaus verletzt. Das kann schon deshalb nicht sein, weil ich nicht das bin, was man heutzutage unter einem "Fan" versteht. Und es kann weiterhin auch deshalb nicht sein, weil ich viele andere Liedinterpreten auch sehr schätze.
    Ich glaube, die Vorbehalte gegenüber Fischer-Dieskau wurzeln auch darin, dass er nicht über das verfügt, was man eine "große Stimme" nennt. Immer, wenn ich mit Sängern über ihn gesprochen habe, meinte ich das zu spüren.
    Sofort, nachdem ich Ihre Einwände gelesen habe, hörte ich mich ganz spontan durch einige Aufnahmen von Schuberts "Nacht und Träume", darunter, neben Fischer-Dieskau, auch Souzay, Prey, Greindl, Prégardien und Bostridge (die Frauen habe dabei mal weggelassen, aus Gründen der Vergleichbarkeit).
    Für mich, lieber Siegfried, geht die Aufnahme mit Fischer-Dieskau und A. Brendel sehr wohl an die Seele. Ich bin, muss ich gestehen, ein wenig ratlos!

  • Meine Lieben, dadurch, daß ich - wie vermutlich auch viele andere auch - Threads oft mit großen Intervallen verfolge, kommt es gelegentlich schon vor, daß ich erst sehr spät auf vorherige Beiträge und ihre Argumente antworte. Das bringt es auch mit sich, daß ich relativ neue Beirträge oft überspringe, was aussieht, als negierte ich sie -was jedoch nicht der Fall ist


    ich möchte hier auf den Apekt "zeitlose" Interpretationen näher eingehen;


    Natürlich ist KEINE Interpretation "zeitlos" - allenfalls "ewig gültig"


    Was wäre darunter zu verstehen ?


    Nun - es liegt in der Natur der Sache, daß jede Generation andere Maßstäbe ansetzt, andere Moden begünstigt, gewisse Dinge forciert, anderes hingegen verwirft.
    Die Aussagekraft wird durch die Zeit vermindert, die modische Form im Stil der Ensteheungszeit wird im Gegensatz hiezu sogar betont, es ist nun eines Frage des Standpunkts wie man eine alte Aufnahme einschätzt, als zeitlos gültiges Dokument, natürlich mit zeitlicher Prägung - die für viele ihren Reiz hat - oder als "alten Schinken" der im besten Falle zum Lachen reizt.


    Ich will versuchen , es an einem Beispiel zu erläutern.
    Caruso, eher Opern- als Liedersänger ist heute nach wie vor anerkannt,
    obwohl kaum jemand beahupten wird, Carusos Aufnahmen seien "zeitgemäß"
    Im Gegenteil, völlig antiquiert in vielerlei Hinsicht kommt es aus den Lautsprechern, dennoch wird wohl niemand behaupten wollen, Carusos Stimme käme gröhlend, plärrend aus dem Trichter....
    Caruso ist in gewisser Hinsicht ein "Klassiker" - man schätzt - trotz schlechter Aufnahmetechnik, seine Stimme noch heute trotz - oder gerade wegen seines antiquierten Gesangsstils.


    Kommen wir zurück zu Fischer Dieskau: Auch er wurde verehrt wie selten ein deutscher Bariton vor ihm - und das völlig zu Recht.


    Dereinst hätte ich gesagt, ein Platz in der schmalen Welt der "Unsterblichen" sei ihm sicher. Wenn ich mir heute dessen nicht mehr so sicher bin, so liegt das nicht an seiner Leistung, sondern an der derzeit aufkeimenden Tendenz alles in Frage zu stellen, Altes durch (meist schlechteres) Neues ersetzen zu wollen um um jeden Preis "zeitgemäß" zu sein. Dies lässt naturgemäß die Frage offen, inwieweit diese Tendenz eine vorübergehende, oder eine sich weiterentwickelnde, stabile ist.
    Einzig und allein davon wird es abhängen ob Fischer-Dieskaus Größe (und das gilt auch für andere Koryphäen unserer und seiner Zeit) von künftigen Generationen als solche erkannt und geschätzt wird.


    Als radikaler Pessimist verschrien, bin ich dennoch in dieser Hinsicht optimistisch - die unangenehm bohrende Zeitströmung wird dem Staub der Geschichte anheimfallen - nicht die Vortragskunst eines Dietrich-Fischer Dieskau. Das hoffe ich zumindest.- denn wenn diese vielleicht nicht "zeitlos" sein mag, so ist sie zumindest "unsterblich"


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Helmut Hofmann,


    wenn es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereitet, würde ich bei der hier üblichen DU-Anrede bleiben.


    Ratlosigkeit wollte ich mit meinen Worten nicht erzeugen, sondern nur darauf hinweisen, daß es unterschiedliche Sichtweisen der Dinge gibt. Darauf hat auch Operus schon hingewiesen. Und ich habe nur von meinen Empfindungen geschrieben, die bei diesem Künstler eben so und nicht anders sind. Eine Herabsetzung seiner auch von mir anerkannten Leistung lag nicht in meiner Absicht.


    Der Begriff "Lernmodul" kam mir in den Sinn, als ich mal ausschnittweise einem Meisterkurs von Herrn Fischer-Dieskau lauschte. Die Schüler taten mir so leid, sie wurden regelrecht vorgeführt. "Du holde Kunst...bliebst damals auf der Strecke".
    :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Nein, lieber Siegfried, mit dem Du habe ich kein Problem. Ich kenne mich nur hier auf dem Forum noch nicht so gut aus und dachte, als Neuling sei ich meinen Mit-Forianern den gebührenden Respekt schuldig.


    Leider (und selbstverständlich!) bin ich Fischer-Dieskau nie persönlich begegnet. Ich kenne ihn nur von vielen Konzerten und von den Aufzeichnungen der Gespräche, die andere mit ihm führten. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass er im Umgang mit ihm fremden Menschen sehr kühl, sehr förmlich, ja unnahbar wirkt.


    Von seinen Meisterkursen besitze ich Filmaufnahmen. Die sind natürlich gefiltert und regietechnisch bearbeitet. Dennoch lassen sie erkennen, dass er seinen Schüler mit der ausgeprägten Attitüde des "großen Meisters" begegnet. Da ich ja all die Lieder, die sie mit ihm einüben, von seinen eigenen Interpretationen so genau kenne, dass mir jeder winzige Ton geläufig ist (Du weißt, ich bin mit aufgewachsen), kann ich förmlich miterleben, wie er seine Schüler und Schülerinnen dazu bringen will, das anstehende Lied in der Handhabung der Stimme und der Sprache möglichst genau so zu interpretieren, wie er selbst das in diesem Augenblick getan hätte.


    Ich kenne mich nicht aus in Sachen Sängerausbildung, weiß also auch nicht, welcher Umgangston und welche pädagogischen Methoden da üblich sind. Man sollte aber, denke ich mir als Laie, vielleicht berücksichtigen, dass große Künstler nicht automatisch gute Lehrer sein müssen. Eher scheint es so zu sein, dass ihnen ihr Genie und ihre Größe bei der Tätigkeit als Pädagoge im Wege steht.

    Unbeschadet dessen: Das Erlebnis des Sängers und Liedinterpreten Fischer-Dieskau gehört zu den herausragenden Ereignissen meines nun inzwischen schon reichlich lange währenden Lebens. Ich möchte es nicht missen!

  • Hallo Forianer,


    alles richtig, was bisher geschrieben wurde. Aber: Dieskau war weder kühl, noch unnahbar. Er hat zwar nach Konzerten keine Autogramme gegeben (schade, ich war mehrmals in Konzerten dabei) aber ich möchte ihn doch eher als scheu und introvertiert bezeichnen. Als Liedsänger, auch wenn vielen die frühen Aufnahmen besser gefallen -mir auch - unerreicht. Kaum ein anderer Sänger hat sich so lange und so viel mit Schubert befasst und darüber Bücher geschrieben. Nachzulesen auch in den Partituren für Hohe Stimme Neue Ausgabe Urtext von Fischer-Dieskau und Elmar Budde - Edition Peters Nr. 8300 a und 8301 a. Ein weiteres Hobby von ihm: Das Malen.Auf allen Gebieten, auf denen er mit großer Professionalität tätig war (dirigiert hat er ja auch), gebührt ihm ein Ehrenplatz unter den Sängern.


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Was zeitlos ist, werden wir feststellen können, wenn wir uns einst regelmäßig im Abstand von 100 Jahren auf Wolke 7 treffen und dann darüber diskutieren. Will sagen, es ist einigermaßen müßig, Blicke in die Zukunft wagen zu wollen. FiDi ('tschuldige Siegfried, ich hasse auch Abkürzungen, aber es ist in seinem Fall wirklich bequemer) ist sicherlich zeitloser als andere Künstler, alleine durch die unglaubliche Menge an Veröffentlichungen, die es von ihm gibt.


    Aber ob der Liedgesang in einer schneller, hektischer und lauter werdenden Welt überlebt, wage ich fast zu bezweifeln (nun versuche ich selber, in die Zukunft zu schauen). An der Hamburgischen Staatsoper gibt es schon seit Jahren keine Liederabende mehr, da ist der Stellenwert heute schon gleich null. (Hoffentlich nur da!)


    Ich bin nicht unbedingt der 100%ige FiDi - Liedersänger - Fan, sondern habe oft auch Schwierigkeiten, ihn zu hören. Trotzdem weiß ich, dass ich in der Regel gut bedient mit ihm bin und trotzdem ziehe ich meine Hut vor seiner Lebensleistung und vor seinem Einsatz für moderne Komponisten. Reimann sei hier als Beispiel genannt.


    Was den Lehrer angeht: Hier muss man sich fragen, was man von einem Pädagogen erwartet. Soll er lauter kleine FiDi's oder Schwarzköpfe produzieren oder eher versuchen, die speziellen Eigenarten des Gegenüber zu erkennen, zu fördern und auszubilden? Ich denke, hier sind beide eher gescheitert, aber man kann ja nun auch nicht auf jedem Gebiert ein Meister sein.


    :hello: Gustav

  • Gedanken zum fünfundachtzigsten Geburtstag eines großen Liedinterpreten.


    Immer wieder einmal konnte man ihn hören, jenen Vorwurf, und noch heute wird er zuweilen dem großen Liedsänger, der nun schon seit Jahren verstummt ist, hinterhergerufen: Er sei zwar einer von den ganz Großen, dieser Dietrich Fischer-Dieskau, aber er habe nun einmal diese bedauerliche Schwäche, diesen Hang zur Deklamation, zum Manierismus, zur Überinterpretation.


    Muss man dem Glauben schenken? Man muss nicht, man braucht nur die richtigen Ohren zu haben. Die richtigen Ohren, das sind solche, die nicht nur beim Wohlklang einer perfekten Stimme entzückt mitschwingen, es sind solche, die darüber hinaus zugleich sensibel sind für den feinen Klang von Vokalen und Konsonanten und offen für die Inhalte, die sie tragen, wenn sie kunstvoll zu lyrischen Texten zusammengefügt sind.


    "Pappeln", - dieses Wort kann vielerlei Assoziationen auslösen, Bilder und Gefühle evozieren. Wenn sie "flispern", im Einklang mit dem "rieselnden Quell", wenn sie als "Schlummergeräusch" beim einsam Rastenden Erinnerungen an vergangenes Liebesglück wecken, wie das in dem Gedicht "Der Jüngling an der Quelle" des Poeten Johann Gaudenz von Salis geschieht, dann entsteht die Impression einer heiteren Idylle, weit weg von aller Erdenschwere.


    Ganz ernst nehmen darf man das nicht. Es ist keine große Poesie. Allenfalls einen poetischen Gegenentwurf zur alltäglichen Tristesse der realen Welt kann man darin sehen, - wenn man dem Gedicht wohl will. Schubert, der es in ein zauberisch heiteres Lied verwandelt hat, wusste das. Das schwerelose Auf und Ab der Klaviertöne, das sich über der Quinte entfaltet, macht das schon im Vorspiel hörbar.


    Heinrich Schlusnus entfaltete ehedem bei der Interpretation dieses Liedes die ganze Pracht seines wohlklingenden Baritons. Schwerfällig wirkt das alles. Von flispernden Pappeln nichts zu hören, für die leisen Töne eines rieselnden Quells ist er viel zu laut, und wenn das "Ach" auftaucht, mit dem "Blätter und Bach" der Geliebten "nachseufzen", verfällt der Sänger in einen fast schmetternden Ariengestus. Was der Text sagt, scheint ihm hier, wie überhaupt bei seiner ganzen Interpretation, völlig entgangen zu sein. Er misst ihm jedenfalls keine Bedeutung bei.


    Wie anders Fischer-Dieskau! Allein schon das heitere Timbre seiner Stimme macht deutlich, dass er den Geist dieses lyrischen Textes begriffen hat. Der Ton auf "Quell" wird so lange wie möglich ausgehalten, und bei den flispernden Pappeln stoßen die "P"s hörbar zusammen und purzeln beinahe übereinander.
    Bei "Linderung" darf sich der sonore Konsonant ausleben, und das "ach" schält sich wie beiläufig aus einem großen gesanglichen Bogen heraus, der in "die Spröde" seinen Gipfel erreicht.


    Ja, man kann Anstoß daran nehmen, dass er die "P"s der Pappeln in der Artikulation fast purzeln lässt. Manierismus kann man das nennen. Aber wenn man das tut, hat man vom Geist dieses Schubertliedes nichts begriffen.
    Man hat nicht begriffen, dass sich sein Zauber erst dann entfaltet und nur dann davor bewahrt werden kann, in schieren Kitsch abzugleiten, wenn man die flispernden Pappeln und all das, was hier sonst noch so rieselt und nachseufzt, nicht ganz ernst nimmt.
    So wie jede Idylle nicht ernst genommen werden darf, damit sie sein kann, was sie sein will:
    Raum für die kontrafaktische Macht der künstlerischen Phantasie.


    Manierismus?
    Nein! Ganz großer, weil gescheiter, dem musikalischen Text verpflichteter und sängerisch perfekt gestalteter Liedgesang.

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