Strauss - Der Rosenkavalier

  • Den Rosenkavalier als beliebt zu bezeichnen, ist wohl noch untertrieben. So war ich sehr erstaunt, hier noch keinen Thread über ihn zu finden. Etwas, das geändert werden muss, finde ich.


    Gesamtaufnahmen besitze ich zwei, beide sind großartig (die Heger-Aufnahme ist historisch und gekürzt):



    Lotte Lehmanns Charakterisierungsvermögen ist einzigartig. Das Wienerische (wie es ein Hamburger sieht) der Karajan-Aufnahme ist grandios, zudem eine fantastische Ensemble-Leistung.


    Wegen der Fülle des Wohllauts (Flemings und Grahams Stimmen lassen mich lächeln) höre ich zudem dann und wann:



    Mir geht es aber weniger um Aufnahmen, mehr um anderes.


    Gestern habe ich in Hamburg der Premiere B der Inszenierung von Marco Arturo Marelli unter der musikalischen Leitung von Simone Young gesehen – und wurde enttäuscht. Die Inszenierung – eine aufgewärmte aus Helsinki und Graz – empfand ich als geistlos, das Dirigat als erschreckend schwach, das Zwischenreich der morbiden, durchaus auch giftigen Beschwingtheit wurde nie betreten, melancholische Walzerseeligkeit blieb aus.


    Trotzdem war mir der Abend Anlass, über die Bedeutung und Funktion der einzelnen Figuren nachzudenken.


    Am Anfangspunkt meiner Überlegungen steht die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg.


    Sie wird weithin als den anderen Protagonisten überlegene Person, mit dem Verweis auf ihre Gedanken zum Wesen der Zeit sogar gern als Weise verstanden.


    Nur, ist sie das wirklich?


    Die auf den ersten Blick tiefgründigen Bemerkungen zum Wesen der Zeit am Ende des ersten Aufzugs sind bei genauerem Hinsehen zwar wohllautend formuliert, doch inhaltlich banal:


    “Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr. Oh, Quinquin! Manchmal hör' ich sie fließen - unaufhaltsam. Manchmal steh' ich auf mitten in der Nacht und lass die Uhren alle, alle stehn. Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten. Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.“


    R. Strauss hat in seinen Erinnerungen geschrieben: „Die Marschallin ist eine junge schöne Frau von höchstens zweiunddreißig Jahren, die sich bei schlechter Laune einmal dem siebzehnjährigen Octavian gegenüber als alternde Frau vorkommt“ (zitiert nach dem Programmheft der Hamburger Aufführung).


    Ich stelle mir eine 32-jährige Frau vor, die das oben Geschriebene sagt, und finde: Das wirkt nicht weise, sondern lächerlich. Mir kommt das vor wie die 29-jährige, die Angst davor hat 30 zu werden, weil sie dann schon so alt ist. Auf mich wirkt dieses Verhalten gerade nicht reif und weise, sondern unreif.


    Ist der Eindruck der Weisheit nur deshalb ins allgemeine Bewusstsein getreten, weil die Rolle der Feldmarschallin nahezu allgemein mit einer Älteren besetzt wird, die – gerade im Vergleich zu Sophie – naturgemäß reifer wirkt? So betrachtet hat die Besetzungsweise große Auswirkungen auf das Verständnis des Stückes.


    Wer also ist die Feldmarschallin?


    Messen wir sie nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten:


    Sie ist höchstens 32 Jahre alt, ist schön, war als junge Frau im Kloster, weshalb man annehmen darf, dass sie gläubig ist, ist eine hohe Adlige – nur eine angeheiratete, frage ich mich; immerhin berichtet sie, ihr sei es früher wie Sophie ergangen.


    Ihre erste Tat ist Ehebruch, zudem noch mit einem Minderjährigen.


    Verlässlich ist sie nicht. Baron Ochs von Lerchenau, ein – wenngleich entfernter – Verwandter schreibt ihr einen Brief und bittet um Hilfe. Die Feldmarschallin liest den Brief nicht einmal (sondern vergnügt sich lieber mit ihrem Liebhaber). Unsozial ist sie also auch.


    Sie unterstützt den Baron bei seiner Geldheirat, obwohl sie das moralisch Korrupte dieses Vorgangs erkennt („Da geht er hin, der aufgeblas´ne schlechte Kerl, und kriegt das junge hübsche Ding und einen Pinkel Geld dazu.“), sogar aus eigener Erfahrung weiß, wie das endet.


    Am Ende des Stückes verzichtet sie auf Octavian. Hoch angerechnet wird ihr dies gewöhnlich. Doch halt! Verzichtet sie denn wirklich? Verzicht setzt voraus, dass es etwas gibt, worauf verzichtet werden könnte. So ist es bei der Feldmarschallin nicht. Sie hat Octavian längst verloren. Sie ist die Geschlagene. Die Feldmarschallin ist nur in Liebesdingen erfahren genug, um zu erkennen, dass sie geschlagen ist. Sie ficht nicht den aussichtslosen Kampf gegen die jüngere schönere, sondern tritt die Contenance wahrend zurück. Darin liegt ihre einzige Reife.


    Resümierend muss ich feststellen: Das Positive an der Feldmarschallin ist Fassade (wie die untergehende Adelswelt nur noch Fassade ist). Nimmt man die Schminke weg, bleibt wenig übrig.


    Das war es erst einmal von mir. Ich bin gespannt, was ihr zur Marschallin zu sagen habt. Den Baron Ochs und Octavian, schlage ich vor, heben wir uns für später auf.


    Hinweisen möchte ich darauf, dass in dem Thread Was wäre wenn? Wie Opern im richtigen Leben weiter gehen könnten
    bereits einige Beiträge zu den einzelnen Charakteren enthalten sind.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Hallo Thomas,
    ich denke, eine Referenzaufnahme ist die, von 1954,
    mit einem hervorragenden Wiener Sängerensemble,
    den Wiener Philharmonikern und dem Dirigenten Erich Kleiber,
    der das Wiener Blut in sich hatte.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Kenne diese Oper bisher leider gar nicht.


    Von wann ist die erwähnte Karajan-Aufnahme? Tippe mal auf 50er-Jahre. Und: Gibt es von ihm auch eine neuere?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Thomas, ich bin ja nun wahrlich kein Strauss-Fan und der Rosenkavalier ist bisher die einzige Oper, die ich kenne, und das auch nur, weil ein echter aktiver Rosenkavalier mir die herrlichen Duette/Ensembles daraus schmackhaft gemacht hat. Immerhin kenne ich aber nun genug von dieser Oper, um zu sagen, dass ich deine Ausführungen zu der Marschallin sehr bemerkenswert und nachvollziehbar finde. Es ist zwar auch eine Weisheit, Dinge anzuerkennen udn zu respektieren, die man nicht ändern kann, aber so besonders verdienstvoll ist das wirklich nicht. Da hast Du Recht! :yes: Was wäre denn ihre Alternative?


    Sie erlebt mit eigenen Augen, wie der Bub hin und weg ist von der Sophie und ncihts Anderes mehr im Sinn hat, als Selbige so schnell wie möglch zu heiraten und endlich....
    Soll sie sich lächerlich machen vor dem deutlich Jüngeren und ihn auf Knien anflehen, bei ihr zu bleiben?????????
    Eine Adlige, die etwas auf sich hält; fällt lieber tot um! Als erfahrene Frau weiss man, dass ncihts so lächerlich ist wie unerwiderte Gefühle, die eingefordert werden. Selbst wenn Octavian nochmal Mitleid haben sollte, ist das doch ncihts mehr wert.
    Dem damaligen Sittenbild entsprechend hat Octavian wahrscheinlich sowieso im Grunde seines Herzens wenig wirkliche Achtung vor einer Frau, die munter die Ehe bricht und will wie alle Macho-Männer seiner Zeit eine liebliche , behütete Jungfrau, die er heiraten und formen kann.
    Eine erfahrene Frau gönnt mann sich zum Vergnügen, aber zur Ehefrau taugt sowas doch nicht! :no:
    Diese Doppelmoral hatte Strauss gewiss auch im Auge und hat vielleciht deshalb ein positives Bild der Marschallin suggeriert.
    Man kann die Dame auch ganz nüchtern betrachten: ihren Mann wird sie kaum lieben, eine erotische Beziehung wird da nur als lästige Pflicht zum Erben zeugen existieren, und man hat eine Convenance getroffen, sich jenseits dessen in Ruhe zu lassen, was die auswärtigen Amouren betrifft. Wie das in Adelskreisen jahrhundertelang eben üblich war. Der romantische Liebesbegriff existierte nur ausserhalb der Ehe. In manchen Kreisen war es geradezu peinlich und ehrenrührig, die eigene Frau zu lieben(den eigenen Mann) und galt gar als schädlich.
    Sie amüsiert sich eine Weile gut mit dem Bub und weiss aber genau dass irgendwann Schluss ist und hoffentlich der nächste Bub kommen wird. Solange sie eben noch 32 und schön ist....
    Irgendwann ist auch das zu Ende und dann tröstet man sich mit heisser Schokolade und vergilbten Briefen. Spätestens dann kann man der Dame nur raten, sich nach deutlich älteren Liebhabern als ihrem Octavian umzusehen, da sind die Chancen, auf Händen getragen zu werden, erheblich grösser.



  • Lieber Thomas,


    Darf ich die Frau Fürstin Feldmarschallin ein wenig verteidigen?


    Erstens: Beim Alter darf man nicht die heutigen Maßstäbe anlegen. Heute gilt eine dreißigjährige Frau als jung, früher einmal war das die Schwelle zum Matronenstadium. Wenn die Marschallin in depressiver Laune also räsoniert, ist das nicht nur zickiges Getue, sondern da steckt sozusagen ein wahrer Kern drin, der von Umwelt natürlich höflich zu leugnen ist.


    Zweitens: Der Ochs ist in der Familie bekannt und berüchtigt. Daß man einen Brief aus solcher Quelle nicht vorrangig oder wichtig behandelt, finde ich mehr als verständlich. Würde der Flegel nicht mit Gewalt hereinplatzen, würde ihn die Fürstin mit Recht ganz ignorieren. Da es aber passiert, und der Baron eine konkrete Bitte stellt, kann sie sich der unangenehmen Konventionspflicht nicht entziehen. Denn Baron bleibt Baron, da hat der Lerchenauer schon recht, leider.


    Drittens: Die Marschallin ist nicht frei. Sie hat nur momentan gewisse Bewegungsfreiheit, weil ihr Herr Gemahl weit weg ist. Aus den Andeutungen kann man schließen, daß das Leben mit diesem ungeliebten Zwangsgatten kein Honiglecken darstellt. Auf jeden Fall muß sie nach außen den Schein wahren. Daß sie versucht, in dieses an sich triste Dasein mit ein paar Affären ein wenig Freude zu bringen, ist moralisch zwar nicht einwandfrei, aber irgendwie menschlich. Zumal ja nicht sie der Flattergeist ist, sondern Octavian. Sie würde ihm schon treu bleiben. Übrigens: Der könnte es ja auch mit Kammermenschern und schlechten Weibern treiben, was dem Brauch vieler seiner Standesgenossen entspräche, aber sicher ziemliches Risiko in vieler Hinsicht bedeuten würde. Bei der Marschallin war er wenigstens in guten, äh, Händen.


    Viertens: Ich stimme Dir zu: Die Marschallin hat Octavian zum Schluß längst verloren. Aber: Sie könnte sich rächen, könnte verletzen (insbesondere Sophie), sie könnte den Wurm in die neue Beziehung bringen und den neureichen Faninal ausgrenzen. Das tut sie aber nicht. Indem sie auf jede Vergeltung verzichtet und die Liebenden vereinigt, nimmt sie eine viel noblere Rache. Damit setzt sie ein Vorbild an Selbstbeherrschung und Edelmut, das Sophie erst einmal erreichen muß. Octavian erkennt sehr wohl, welches Opfer ihm die Marschallin bringt.


    Fünftens: Hofmannsthal ist schon für uns Wiener manchmal schwer zugänglich, weil so viel zwischen den Zeilen schwebt. Für jemanden, der mit beiden Beinen besser im Leben steht, ist da Manches unverständlich oder sogar kitschig, das kann ich ganz gut verstehen, auch wenn ich selbst die subtil-vorsichtige Art mag.


    Lieber Staatsanwalt Thomas, der Verteidiger hat plädoyiert, die Anklage hat wieder das Wort!


    LG


    Waldi

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Ganz klar mein Thema, und ich werde mich noch ausführlich dazu äußern. Im Augenblick geht aber die Installation meines Ersatz-PC vor, und das wird sich wohl noch etwas hinziehen.


    Bei den Referenzaufnahmen wäre ich da nicht so sicher und historisch fixiert.


    Die alte Karajan-Aufnahme ist sicher eine und deutlich besser als die neue, zumal die alte klanglich wie interpretatorisch superb ist. Leider ist die DVD von Paul Czinners Film mit einer etwas anderen, aber fast gleichwertigen Besetzung filmisch sehr schlecht unbd auch vom Ton her mäßig.


    Es gibt aber auch noch die beiden DVD von Carlos Kleiber, die leider den besten Octavian (Brigitte Fassbender) und die beste Sophie (Barbara Bonney) nicht vereinen. Von der Inszenierung her gefällt mir die von John Schlesinger auf der DVD unter Georg Solti am besten, und auch hier brilliert Barbara Bonney. Bei den DVD-Marschallinnen Gwyneth Jones, Felicity Lott und Kiri Te Kanawa fehlt mir naturgemäß das Idiomatische, obwohl sie sich alle bestens schlagen, aber natürlich nicht an die Schwarzkopf im Karajan-Film heran kommen. Wie immer hat man die Qual der Wahl.


    Auf cd kann ich nur Thomas' Begeisterung für den Querschnitt mit Renéé Fleming, Susan Graham und, nicht zu vergessen, Barbara Bonney bestätigen. Auch Christoph Eschenbach wir ihrer Leistung voll gerecht. Zu schade, dass es hier nicht zu einer Gesamtaufnahme gereicht hat. Immerhin kriegt man dafür auch noch ein paar andere Strauss-Schmankerl aus ARABELLA und CAPRICCIO (zu Letzterer fast ein "Best of..." ). Eine höchst lohnende Platte, auch und vor allem für solche, die sich erst einmal in diese Klangwelt einhören wollen. Aber Achtung: wem die gefällt, der wird erst Recht Gesamtaufnahmen haben wollen und feststellen, dass der Stimmenglanz dieser Einspielung unübertroffen ist.


    Was die Gesamtaufnahmen auf cd betrifft, so ist die von Erich Kleiber mehr als lobenswert, aber Maria Reining als Marschallin finde ich suboptimal. Hier würde ich mich für den frühen Karajan entscheiden, wenn es nur eine sein darf, und dann die anderen vermissen, nicht zuletzt Bernsteins unorthodoxe Alternative mit Christa Ludwig als Marschallin (!).


    Wie gesagt: mehr demnächst, dann auch zu den Hauptfiguren.


    Und im Sinne des Verweises von Thomas füge ich noch eine humoristische Eigenwerbung hinzu: Rideamus Kurzopernführer als Limericks: http://www.tamino-klassikforum.at/search.php?searchid=527361


    EDIT: gerade lese ich noch, dass Fairy und Waldi schon viel von dem vorweg genommen haben, was mich auch schon in den Fingern juckte. Ich kann mir also Zeit lassen. Als Sachwalter der Librettisten sollte ich allerdings Waldi insofern beistehen, als ich denke, dass man hier viel mehr als bei anderen Opern auch an Hofmannsthal denken sollte, denn mit Ausnahme der von Hofmannsthal lange abgelehnten Hosenrolle für Octavian steht schon alles im Text, was man zu diesen meisterhaft konzipierten Gestalten sagen könnte. Wie schon bei der ELEKTRA gilt hier: prima le parole, dopo la musica - obwohl die fraglos kongenial ist und dem Text erst wirkliche Dauerhaftigkeit beschert hat.


    :hello: Rideamus

  • Hallo Thomas



    Daran ist überhaupt nichts Banales! Das Bewußtsein der unerbittlichen Vergänglichkeit ist eine Empfindung, die mit dem Alter beständig wächst. Für die Jugend noch kein Thema, ist sie für einen bewusst lebenden Erwachsenen einer der grundlegenden Unterschiede zur noch unbeschwerten Jugend.



    Zitat

    R. Strauss hat in seinen Erinnerungen geschrieben: „Die Marschallin ist eine junge schöne Frau von höchstens zweiunddreißig Jahren, die sich bei schlechter Laune einmal dem siebzehnjährigen Octavian gegenüber als alternde Frau vorkommt“ (zitiert nach dem Programmheft der Hamburger Aufführung).


    Es erhebt sich die Frage, ob Strauss der richtige Ansprechpartner in dieser Frage ist. Immerhin ist das Libretto von Hugo von Hofmannsthal. Dieser war wiederum zur Zeit der Dichtung schon deutlich älter, so dass vielleicht ein wenig mehr Lebensweisheit als üblich in den Mund einer relativ jüngeren Frau gelegt wurde. Aber ist sie es denn wirklich?


    Du hast erwähnt, dass die Inszenierung aus Graz kommt, was darauf schließen lässt, dass es sich um die Marelli-Inszenierung handelt, die im 20. Jahrhundert spielt. Deine Überlegungen fußen also auf Eindrücke, die gerade in diesem Punkt stark verzerrt sind. Denn abgesehen von einigen Gags, die durch die Zeitverschiebung möglich werden, werden gerade grundlegende Zusammenhänge der Handlung durch den falschen Zeitbezug schwer beschädigt.


    Eine 32-jährige Adelige aus dem 18. Jahrhundert hat nichts mit einer Frau gleichen Alters von heute zu tun! Sie wurde als Teenager verheiratet und wird nach einigen Schwangerschaften für heutige Begriffe schon merklich gealtert sein. Umgerechnet kann man sie sich als (durchaus attraktive!) Mitt- bis Endvierzigerin vorstellen, und plötzlich werden auch die inhaltlichen Relationen für uns wesentlich plausibler!



    Zitat

    Ich stelle mir eine 32-jährige Frau vor, die das oben Geschriebene sagt, und finde: Das wirkt nicht weise, sondern lächerlich. Mir kommt das vor wie die 29-jährige, die Angst davor hat 30 zu werden, weil sie dann schon so alt ist. Auf mich wirkt dieses Verhalten gerade nicht reif und weise, sondern unreif.


    Die 32-jährige Adelige im 18. Jahrhundert hat in der Regel wahrscheinlich schon wenigstens 15 Ehejahre hinter sich (also praktisch ihr halbes Leben!), die wahrscheinlich kein reines Honiglecken waren. Für den Rest siehe oben. Lächerlich ist daran aber überhaupt nichts!



    Zitat

    Ist der Eindruck der Weisheit nur deshalb ins allgemeine Bewusstsein getreten, weil die Rolle der Feldmarschallin nahezu allgemein mit einer Älteren besetzt wird, die – gerade im Vergleich zu Sophie – naturgemäß reifer wirkt? So betrachtet hat die Besetzungsweise große Auswirkungen auf das Verständnis des Stückes.


    Die Mehrheit der Besetzungen entspricht für heutiges Empfinden nach zuvor gesagtem also durchaus dem Charakter dieser Figur.



    Zitat

    Sie ist höchstens 32 Jahre alt, ist schön, war als junge Frau im Kloster, weshalb man annehmen darf, dass sie gläubig ist, ist eine hohe Adlige – nur eine angeheiratete, frage ich mich; immerhin berichtet sie, ihr sei es früher wie Sophie ergangen.


    Gewagte Schlüsse! Sie war natürlich nicht freiwillig im Kloster, sondern ist aus irgendwelchen Gründen für eine Zeit lang hineingesteckt worden. Das könnte z.B. aus dem Grund sein, dass sie aus einer eher verarmten Adelsfamilie stammt, die sich auf diese Weise eine Zeit lang oder auch für immer um eine standesgemäße (und daher sehr teure!) Erziehung und Aussteuer drücken konnte.
    Die Parallele zu Sophie ist natürlich nur in der Tatsache zu sehen, dass sie letztlich ungefragt an einen ihr Unbekannten und vor allem Ungeliebten verheiratet wurde.



    Zitat

    Ihre erste Tat ist Ehebruch, zudem noch mit einem Minderjährigen.


    Das ist ein wenig zu sehr aus heutiger Sicht geurteilt. Offenbar glänzt Fürst Werdenberg vor allem durch häufige und jeweils längere Abwesenheiten vom heimatlichen Herd, und dafür ist die Fürstin noch allemal zu jung und knusprig, um dies einfach hinzunehmen. Außerdem ist Quinquin als 17-jähriger Adliger kein Jugendlicher im heutigen Sinn, sondern bereits im heiratsfähigen Alter, und wie die Geschichte ausgeht, wird es nicht mehr lange bis zur Hochzeit dauern. Seine Beziehung zur Fürstin ist für beide gewinnbringend, aber für ihn natürlich sehr viel stärker prägend.



    Zitat

    Verlässlich ist sie nicht. Baron Ochs von Lerchenau, ein – wenngleich entfernter – Verwandter schreibt ihr einen Brief und bittet um Hilfe. Die Feldmarschallin liest den Brief nicht einmal (sondern vergnügt sich lieber mit ihrem Liebhaber). Unsozial ist sie also auch.


    Du bist aber ein ganz strenger! ;)



    Zitat

    Sie unterstützt den Baron bei seiner Geldheirat, obwohl sie das moralisch Korrupte dieses Vorgangs erkennt („Da geht er hin, der aufgeblas´ne schlechte Kerl, und kriegt das junge hübsche Ding und einen Pinkel Geld dazu.“), sogar aus eigener Erfahrung weiß, wie das endet.


    Sie unterstützt ihn keineswegs, sondern macht nur das absolut Nötige, zu dem sie standesgemäß verpflichtet ist. Im Gegenteil demontiert sie den Ochs auf Lärchenau sofort, als sich die Gelegenheit dazu ergibt, was aber einen größeren Faux-Pas seinerseits erfordert, ohne dem ihr die Hände gebunden gewesen wären.



    Zitat

    Am Ende des Stückes verzichtet sie auf Octavian. Hoch angerechnet wird ihr dies gewöhnlich. Doch halt! Verzichtet sie denn wirklich? Verzicht setzt voraus, dass es etwas gibt, worauf verzichtet werden könnte. So ist es bei der Feldmarschallin nicht. Sie hat Octavian längst verloren. Sie ist die Geschlagene. Die Feldmarschallin ist nur in Liebesdingen erfahren genug, um zu erkennen, dass sie geschlagen ist. Sie ficht nicht den aussichtslosen Kampf gegen die jüngere schönere, sondern tritt die Contenance wahrend zurück. Darin liegt ihre einzige Reife.


    Da stimmt für mich gar nichts mehr. Es ist aber nicht ganz leicht zu argumentieren, da naturgemäß in einer Oper die Handlung sehr stark verdichtet werden muss. Erstens hat sie Octavian nicht längst verloren, denn am Morgen diesen einen(!) Tages hat sie ihn noch mit Haut und Haaren! Zweitens wäre ein Kampf gegen die neu aufgekommene Schwärmerei des Octavian sicherlich gewinnverheißend gewesen, denn sie hatte mit Sicherheit noch ein Paar Tricks auf Lager, wo die kleine Sophie noch nichts dagegen zu setzen gehabt hätte. Aber sie erkennt seine Chance auf ein dauerhaftes Glück mit der jungen Frau und stellt sich dem nicht entgegen.



    Zitat

    Resümierend muss ich feststellen: Das Positive an der Feldmarschallin ist Fassade (wie die untergehende Adelswelt nur noch Fassade ist). Nimmt man die Schminke weg, bleibt wenig übrig.


    Dein persönliches Resümee ist dir natürlich unbenommen. Da es aber eine der am schönsten entworfenen Frauenfiguren der Opernwelt auf eine schöne Hülle reduziert und damit zwei Akte der Oper inhaltlich stark entwertet, reduziert sich bei dir der Rosenkavalier auf eine ganz nette, dafür aber viel zu lange Posse mit Gesang. Das war aber sicher nicht die Intention der Schöpfer dieser wunderbaren Oper!

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Herzlichen Dank für diesen thread, lieber Thomas.


    Aus neuerer Zeit möchte ich gerne auf die interessante Inszenierung der Salzburger Festspiele 2004 hinweisen, von der es inzwischen eine DVD gibt, die obendrein bei unserem Werbepartner amazon gerade günstig zu haben ist:


    Richard Strauss (1864-1949)
    Der Rosenkavalier
    2 DVDs
    (Eine Aufführung der Salzburger Festspiele 2004)


    Adrianne Pieczonka, Franz Hawlata, Angelika Kirchschlager,
    Miah Persson, Franz Grundheber, Ingrid Kaiserfeld, Pjotr Beczala,
    Wien PO, Semyon Bychkov


    Sound: DSS 5.1 & DTS 5.1
    Bild: WS
    Sub
    D,E,F,I,Sp
    Laufzeit: 201 Min. Label: TKD , FSKoAB, 2004




    Für mich ganz besonders spannend war in dieser Aufführung der Baron Ochs des Franz Hawlata, dessen Rollendebüt ich vor fast 20 Jahren in Coburg miterlebt hatte, und schon damals war sein Ochs großartig.



    Und an der von Herbert genannten Referenzaufnahme führt auch in meinen Augen kein Weg vorbei:


    Richard Strauss (1864-1949)
    Der Rosenkavalier


    Güden, Weber, Jurinac, Reining,
    Wiener Staatsopernchor, Wien PO, Erich Kleiber
    Label: Naxos , ADD, m




    :hello:


    Elisabeth

  • Hocherfreut bin ich, solch eine rege Beteiligung in solch kurzer Zeit zu erleben.


    @Felipe: Die empfohlene Aufnahme Karajans stammt aus 1956.


    @FairyQuenn: Das mit der heißen Schokolade finde ich köstlich. Respekt!


    @Waldi: Ob du die Fürstin Feldmarschall verteidigen darfst? Aber gern!


    ad 1:

    Zitat

    Beim Alter darf man nicht die heutigen Maßstäbe anlegen. Heute gilt eine dreißigjährige Frau als jung, früher einmal war das die Schwelle zum Matronenstadium.


    Früher einmal, was heißt das? Welche Maßstäbe darf man dann anlegen? Die Oper entstand um 1910, wurde 1911 uraufgeführt, spielt jedoch in den ersten Jahren der Regierung Maria Theresias (1740 bis 1780). Wir sind keine Menschen von 1740, können die Maßstäbe, weil wir in gänzlich anderen Lebenswelten leben gar nicht anlegen. Nur waren Strauss und Hofmannsthal auch keine Menschen aus 1740. Strauss´ Bemerkung stammt nicht einmal aus 1910, sondern entstammt den Erinnerungen, die – ich weiß es nicht genau –Mitte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden. Ich erinnere: Strauss spricht ausdrücklich von einer schönen Frau, nicht von einer alten Matrone. Strauss gibt sogar an anderer Stelle zum Besten: „Sie [die Fürstin Feldmarschall] hat sich nur über den Friseur geärgert.“


    ad2:

    Zitat

    Der Ochs ist in der Familie bekannt und berüchtigt. Daß man einen Brief aus solcher Quelle nicht vorrangig oder wichtig behandelt, finde ich mehr als verständlich.


    Anders das Libretto. Dort heißt es: „Quinquin, hört Er, Quinquin, erinnert Er sich nicht? Vor fünf oder sechs Tagen - den Brief. Wir sind im Wagen gesessen und einen Brief haben sie mir an den Wagenschlag gebracht. Das war der Brief vom Ochs. Und ich hab' keine Ahnung, was drin gestanden ist. (lacht) Daran ist Er allein schuldig, Quinquin!“ Wir sehen, die Marschallin hat sich amüsiert. Allein deshalb ist der Brief abhanden gekommen.


    ad3:

    Zitat

    Die Marschallin ist nicht frei.


    Ganz deiner Meinung! Fairy schrieb oben sinngemäß, es könne sein, dass die Feldmarschallin und ihr Ehegatte ein Arrangement im Sinne einer offenen Ehe getroffen haben könnten. Nein, keineswegs. Die Angst der Feldmarschallin vor der Rückkehr des Gatten, derweil Octavian bei ihr weilt, zeigt dies hinlänglich. Die Feldmarschallin träumt sogar schlecht von ihrem Mann. Übrigens ein deutliches Zeichen dafür, dass die Feldmarschallin sich ihrer Fehler unterbewusst schämt. Ich mache der Feldmarschallin übrigens gar nicht zum Vorwurf, dass sie fremdgeht. Soll sie doch! Ihr Mann ist nicht besser. Ich weise nur darauf hin, dass die Feldmarschallin in dieser Hinsicht nicht besser ist als der Schürzenjäger Ochs. Sie tobt genauso durch die Betten, bedient sich allerdings feinerer – weiblicherer – Methoden. Ich denke, die Feldmarschallin hatte vor Octavian andere und wird auch nach Octavian andere Liebhaber haben.


    ad4:

    Zitat

    Ich stimme Dir zu: Die Marschallin hat Octavian zum Schluß längst verloren. Aber: Sie könnte sich rächen, könnte verletzen…


    Ja, das könnte sie. Aber das wäre nicht klug. Dazu hat Fairy schon Besseres gesagt, als ich Mann es könnte.


    Ad5:

    Zitat

    Hofmannsthal ist schon für uns Wiener manchmal schwer zugänglich, weil so viel zwischen den Zeilen schwebt.


    Mir ist sehr bewusst, dass ich gerade Hofmannsthal nicht vollends gerecht werde, wenn ich die Feldmarschallin (nur) an ihren Taten messe. Gleichwohl finde ich diese (womöglich preußische) Vorgehensweise sehr erhellend.


    @Rideamus: Schön zu hören, dass du dich noch ausführlich äußern möchtest. Warte nicht zu lang, der Zug fährt schnell. Es freut mich übrigens, dass dir die Fleming/Graham-Aufnahme ebenfalls gefällt


    Theophilus:

    Zitat

    Daran ist überhaupt nichts Banales! Das Bewußtsein der unerbittlichen Vergänglichkeit ist eine Empfindung, die mit dem Alter beständig wächst.


    Womöglich ist banal das falsche Wort, hätte ich besser schlicht, nicht sonderlich tiefschürfend geschrieben. Besondere Tiefe kommt der Erkenntnis des Älterwerdens jedoch nicht zu. Diese Erkenntnis gewinnt jeder – es sei denn, er wird vor der Zeit geholt.


    Zitat

    Es erhebt sich die Frage, ob Strauss der richtige Ansprechpartner in dieser Frage ist. Immerhin ist das Libretto von Hugo von Hofmannsthal.


    Du wirst nicht leugnen, dass Strauss das eine oder andere mit der Oper zu tun hatte, oder? Ich zitiere aus dem Brief von Hofmannsthal an Strauss vom 12.07.1910: „Da wir jetzt die gemeinsame Arbeit sozusagen abschließen, so möchte ich Ihnen sagen, dass mir das Zusammenarbeiten mit Ihnen, angefangen von der ersten Besprechung bis zum letzten Brief, einschließlich Ihrer gelegentlichen, sehr wertvollen Einwände, ein großes Vergnügen war, wofür ich Ihnen danke.“ Wir sehen, Strauss wusste sehr wohl, wovon er sprach.


    Zitat

    Du hast erwähnt, dass die Inszenierung aus Graz kommt, was darauf schließen lässt, dass es sich um die Marelli-Inszenierung handelt, die im 20. Jahrhundert spielt. Deine Überlegungen fußen also auf Eindrücke, die gerade in diesem Punkt stark verzerrt sind.


    Ja, um diese Inszenierung handelt es sich. Den Regisseur habe ich im Eingangsbeitrag namentlich genannt. Nur ist es falsch, dass meine Überlegungen auf dieser Inszenierung fußen. Über diese Inszenierung habe ich mich geärgert. Der Besuch der Aufführung war bloßer Anlass meiner Überlegungen. Sie fußen auf dem Libretto, welches ich seit vielen Jahren kenne.


    Zitat

    Eine 32-jährige Adelige aus dem 18. Jahrhundert hat nichts mit einer Frau gleichen Alters von heute zu tun!


    Darauf habe ich schon oben erwidert. Die 32 Jahre sind eine Altersangabe aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.


    Zur Gläubigkeit:

    Zitat

    Gewagte Schlüsse! Sie war natürlich nicht freiwillig im Kloster, sondern ist aus irgendwelchen Gründen für eine Zeit lang hineingesteckt worden.

    Jetzt lehnst du dich weit aus dem Fenster. Weder du noch ich wissen, weshalb sie im Kloster war. Wahrscheinlich hast du Recht. Nur widerspricht das nicht ihrer Gläubigkeit. Wie heißt es doch am Ende des ersten Aufzugs: „Ich wird´ jetzt in die Kirchen geh´n.“ Ich halte die Gläubigkeit der Feldmarschallin übrigens für nebensächlich. Dass sie die zehn Gebote nicht ernst nimmt, ergibt sich schon aus ihrem Fremdgehen.


    Zitat

    Die Parallele zu Sophie ist natürlich nur in der Tatsache zu sehen, dass sie letztlich ungefragt an einen ihr Unbekannten und vor allem Ungeliebten verheiratet wurde.


    Einverstanden. Sophie ist in der Tat nur ein „hübsches gutes Dutzendmädchen“ (so Hofmannsthal in dem oben genannten Brief). Die Feldmarschallin dürfte hingegen von Anfang an adelig gewesen sein. So sagt der Ochs: „Hab' ich nicht seinerzeit wahrhaftig Tag für Tag unsrer Fürstin Brioche meine Aufwartung gemacht, da sie im Bad gesessen ist, mit nichts als einem kleinen Wandschirm zwischen ihr und mir.“ Zuzugeben ist, dass nicht klar wird, ob sich dies vor oder nach der Heirat zugetragen hat. Wohl doch danach, vorher war die Fürstin ja wohl im Kloster, dort gab´s – leider – keinen Herrenbesuch hinter dem Wandschirm.


    Zitat

    Das ist ein wenig zu sehr aus heutiger Sicht geurteilt. Offenbar glänzt Fürst Werdenberg vor allem durch häufige und jeweils längere Abwesenheiten vom heimatlichen Herd, und dafür ist die Fürstin noch allemal zu jung und knusprig, um dies einfach hinzunehmen. Außerdem ist Quinquin als 17-jähriger Adliger kein Jugendlicher im heutigen Sinn, sondern bereits im heiratsfähigen Alter, und wie die Geschichte ausgeht, wird es nicht mehr lange bis zur Hochzeit dauern.


    Deine Ausführungen zur Erwachsenheit des Octavian halte ich nicht für überzeugend. Beachte wie die Feldmarschallin Octavian nennt: „Bub“! Für zumindest fraglich halte ich es überdies, ob Octavian tatsächlich Sophie heiraten wird. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass er – den Beispielen der Feldmarschallin und von Ochs folgend – mit Sophie einfach nur ein bisschen durch die Betten tobt und sich schließlich eine andere sucht? Dazu aber vielleicht später, wenn wir uns Octavian vornehmen.


    Zitat

    Du bist aber ein ganz strenger!


    Es ehrt mich, dass du darauf nichts zu erwidern wusstest. :D


    Zitat

    Sie unterstützt ihn keineswegs, sondern macht nur das absolut Nötige, zu dem sie standesgemäß verpflichtet ist.


    Das sehe ich anders. Ich denke, ihr wäre es möglich gewesen, den Baron wennschon nicht nicht, so doch weniger zu unterstützen. Die Gestellung des Rosenkavaliers z.B. ist allein die Idee der Feldmarschallin.


    Zitat

    Da stimmt für mich gar nichts mehr. Es ist aber nicht ganz leicht zu argumentieren, da naturgemäß in einer Oper die Handlung sehr stark verdichtet werden muss. Erstens hat sie Octavian nicht längst verloren, denn am Morgen diesen einen(!) Tages hat sie ihn noch mit Haut und Haaren! Zweitens wäre ein Kampf gegen die neu aufgekommene Schwärmerei des Octavian sicherlich gewinnverheißend gewesen, denn sie hatte mit Sicherheit noch ein Paar Tricks auf Lager, wo die kleine Sophie noch nichts dagegen zu setzen gehabt hätte. Aber sie erkennt seine Chance auf ein dauerhaftes Glück mit der jungen Frau und stellt sich dem nicht entgegen.


    Das längst ist nicht zutreffend, das räume ich ein. Verloren aber hat die Feldmarschalin Octavian doch. Den Kampf gegen Sophie konnte sie nicht gewinnen, auch nicht mit irgendwelchen Tricks. Ich verweise auf FairyQueens Ausführungen.


    Zitat

    Dein persönliches Resümee ist dir natürlich unbenommen. Da es aber eine der am schönsten entworfenen Frauenfiguren der Opernwelt auf eine schöne Hülle reduziert und damit zwei Akte der Oper inhaltlich stark entwertet, reduziert sich bei dir der Rosenkavalier auf eine ganz nette, dafür aber viel zu lange Posse mit Gesang. Das war aber sicher nicht die Intention der Schöpfer dieser wunderbaren Oper!


    Oh, du missverstehst mich völlig. Ich beschäftige mich zurzeit intensiv mit der Figur der Feldmarschallin. Ich finde, sie ist die zentrale Figur der Oper. Mein Eröffnungsbeitrag nimmt sofort Bezug auf sie. Sie ist höchst interessant. Anders als du zu denken scheinst, bleibt sie das aber auch dann, wenn man ihre Güte, Weisheit, überragende Position reduziert. Diese Reduzierung führt nicht zu einer Reduktion der Bedeutung der Figur – das wäre eine Begriffsvertauschung –, sie macht die Oper sogar noch interessanter, finde ich.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Carissima Fairy !
    Wir könnten wahrscheinlich stundenlang über die Thematik und die Hintergründe im Rosenkavalier diskutieren. Irgendwann würden wir sicher zu einem Kompromiss kommen.


    Fürs Erste wage ich einen kleinen Widerspruch. Ich glaube nicht, dass Octavian die Marschallin verachtet. Ganz im Gegenteil - ich bin überzeugt, dass dieser Bub (ich schätze ihn auf etwa 16 jahre jung) in die ältere Frau wirklich verliebt ist (wie du ja weißt, bin ich aus Wien - wie auch der Textdichter Hoffmannstal - und Freud hat da natürlich hineingespielt), aber nirgendwo sehe ich, dass er sie wirklich heiraten möchte. Die silberne Rose ist für mich nicht das Zeichen einer angestrebten Ehe, sondern einfach ein Liebesdienst, ein Freundschaftsbeweis - so wie auch ich ab und zu einer lieben Frau Rosen schenke. Und die Marschallin auf der anderen Seite (ich sehe sie Mitte 30, maximal 40 Jahre alt) ist nicht wirklich eine Ehebrecherin. Sie fühlt sich von den Begehrlichkeiten des jungen Mannes geschmeichelt und auch angezogen, aber ich vermute, dass sie in ihm auch eine Art Sohn sieht. Ich gestehe - ich war glaube ich 20 Jahre jung und habe mich in eine etwa doppelt so alte Frau wahnsinnig verliebt. Wir hatten ein Jahr lang eine wunderbare Fernbeziehung (mit horrenden Telefonrechnungen), aber an eine Bindung haben wir beide nie gedacht - und das war vor .. Jahren, als es noch andere Moralvorstellungen gab). Und so ähnlich sehe ich auch das Verhältnis zwischen Marschallin und Octavian. Eine ähnliche Situation übrigens, wie zwischen Gräfin und Cherubino in Mozart´s Figaro (jetzt, wo ich diese Zeile schreibe, fält mir diese Parallele erstmals auf).


    ein Gruß aus Wien
    Michael 2

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  • Es ist vielleicht interessant, den Brief Hofmannthals vom 12.07.1910 vollständig zitiert zu sehen (dieser hebt die besondere Rolle der Feldmarschallin ausdrücklich hervor, ich zitiere nach dem Programmheft der Staatsopernaufführung in Hamburg):


    „Da wir jetzt die gemeinsame Arbeit sozusagen abschließen, so möchte ich Ihnen sagen, dass mir das Zusammenarbeiten mit Ihnen, angefangen von der ersten Besprechung bis zum letzten Brief, einschließlich Ihrer gelegentlichen, sehr wertvollen Einwände, ein großes Vergnügen war, wofür ich Ihnen herzlich danke. Im nun bevorstehenden Verlauf der Dinge gedenke ich mich, ebenso wie bei „Elektra“, durchaus im Hintergrund zu halten und würde jedem Versuch anderer, meinen Anteil an der gemeinsamen Arbeit übermäßig zu betonen, natürlich sehr ablehnend gegenüberstehen. Die freundliche Hervorhebung derselben, sobald sie von Ihnen ausgeht, nehme ich natürlich dankbar an.


    Bahrs Bemerkung über Sophie ist mir, wenn er nur Akt III kennt, ganz irrelevant, denn dann hat er keinen Schlüssel zu der Figur und ihrer durch ihre Ausdrucksweise gegebene Charakteristik. Kennte er doch auch Akt II, so muss er doch wohl bemerkt haben, dass Sophie über einem Untergrund von naiver Persönlichkeit und Ausdrucksweise immerfort Anempfundenes von sich gibt, teils aus dem Kloster, teils sogar aus dem Jargon des Herrn Vaters. Sie ist ein recht hübsches gutes Dutzendmädchen, das ist ja der Witz der Sache – der wahre Charme der Ausdrucksweise, ebenso wie der stärkere Charme der Persönlichkeit ist bei der Marschallin zu suchen. Eben dass Quinquin bei diesem verkreuzten Doppelabenteuer an die erste beste Junge gerät, das ist ja der Witz, de das Ganze zu einer Einheit macht, die beiden Handlungen zusammenhält. Dabei bleibt die Marschallin die dominierende weibliche Figur, zwischen Ochs und Quinquin – gegen diese Hauptfiguren tritt Sophie entschieden um eine Stufe zurück. Wie sehr die Frauen, dieser wichtige Teil unseres Publikums, dies so empfunden und da ganze bunte Abenteuer aus dem Gesichtswinkel der Marschallin sehen, mögen Sie aus dem beigelegten Brief der Fürstin Lichnowsky entnehmen, den ich gelegentlich zurückerbitte. Und genau ebenso empfindet meine Frau, empfindet die Frau meines Verlegers Fischer, die Fürstin Maris Taxis u.s.f. Ich lege Ihnen dies besonders ans Herzt, jetzt, wo Sie im Komponieren vielleicht bald an die sentimentale Schlussszene kommen, weil es auch der musikalisch geistigen Einheit des Ganzen schaden würde, wenn die Figur der Marschallin zu kurz käme und wenn nicht ein starker Bezug des Schlusses von Akt 3 auf den Schluss des ersten Aktes die Gemütseinheit sozusagen der ganzen Aventure herstellte.“

  • Hallo Brunello,


    Simone Young weist in einem Interview auf die Entsprechungen zur Hochzeit des Figaro hin:


    "Das Kernrepertoire des Rosenkavalier stammt wie bei der Zauberflöte aus der Commedia dell´arte und funktioniert nach dem Schema der Typenkomödie: mit einem jungen Mädchen, einem jungen Liebhaber und einem alten Trottel, der hereingelegt wird, im Zentrum. Die Atmosphäre dieser Oper gleicht jedoch der von Figaros Hochzeit Das ist kaum zu übersehen oder zu überhören: Gräfin - Marschallin, Cherubino - Octavian, Susanna - Sophie. Auch der Umgang mit den Rezitativen erinnert stark an Mozart. Trotzdem, die Behandlung der Sprache ist weit von Da Ponte entfernt, und harmonisch hat die Partitur viel mehr mit Mahler als mit Mozart zu tun. Strauss und Hofmannsthal haben zwar den Schauplatz in das 18. Jahrhundert verlegt und sich mit den Stimmfächern und den Hauptfiguren am Mozartischen Vorbild orientiert, aber musikalisch selbstverständlich überhaupt nicht. Die Musik stammt aus einer völlig anderen Zeit und hat eine ganz andere Komplexität.


    Phänomenal ist das Nachempfinden dieser Mozartschen spannungsvollen Atmosphäre kurz vor der Revolution, wie sie bei Figaros Hochzeit herrscht. Diese Atmosphäre übertragen Strauss und Hofmannsthal im Rosenkavalier in gewisser Weise auf das dekadente Vorkriegs-Wien vom Beginn des 20. Jahrhunderts, sie spiegeln die Untergangsstimmung des Fin de Siècle und den Kampf der Moderne gegen die alte Tradition."

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt


    Womöglich ist banal das falsche Wort, hätte ich besser schlicht, nicht sonderlich tiefschürfend geschrieben. Besondere Tiefe kommt der Erkenntnis des Älterwerdens jedoch nicht zu. Diese Erkenntnis gewinnt jeder – es sei denn, er wird vor der Zeit geholt.


    Es steht nirgends geschrieben, dass die Überlegungen der Marschallin besonders tiefgründig sind. Aber sie werfen ein Licht auf ihre Persönlichkeit. Es sind Gedanken eines reifen Menschen. Wenn man sich schon auf die 32 Jahre versteifen will, gilt umso mehr mein Argument, dass sie eine ungemein reife 32-Jährige ist. Wie viele Menschen in vergleichbarem Alter hast du schon ähnliche Gedanken äußern gehört?



    Zitat


    Du wirst nicht leugnen, dass Strauss das eine oder andere mit der Oper zu tun hatte, oder? Ich zitiere aus dem Brief von Hofmannsthal an Strauss vom 12.07.1910: „Da wir jetzt die gemeinsame Arbeit sozusagen abschließen, so möchte ich Ihnen sagen, dass mir das Zusammenarbeiten mit Ihnen, angefangen von der ersten Besprechung bis zum letzten Brief, einschließlich Ihrer gelegentlichen, sehr wertvollen Einwände, ein großes Vergnügen war, wofür ich Ihnen danke.“ Wir sehen, Strauss wusste sehr wohl, wovon er sprach.


    Nein, das wissen wir nicht! Du übersiehst hier die Tatsache, dass trotz all der höflichen Formulierungen Hofmannsthal sehr unglücklich darüber war, was Strauss aus seinem Stück gemacht hat. Die beiden Herren waren in Wirklichkeit recht unterschiedlicher Auffassung über das Stück und daher würde ich nur Äußerungen von Hofmannsthal selbst als verbindlich ansehen. Man könnte jetzt darüber spekulieren, ob Hofmannsthal irgendwie durch die Blume Strauss über seine Meinung informiert hat, denn mit der nächsten Oper (Ariadne) liefert Strauss musikalisch genau das, was sich Hofmannsthal schon für den Rosenkavalier vorgestellt hatte.



    Zitat


    Darauf habe ich schon oben erwidert. Die 32 Jahre sind eine Altersangabe aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.


    Das ist doch völlig unerheblich und auch falsch. Schließlich wurde das Stück 1910 geschrieben und sogar 1910 waren 32 Jahre für eine Frau etwas völlig anderes als heute. Und die Geschichte spielt im 18. Jahrhundert, wo die Verhältnisse noch stärker von den heutigen abwichen. Die Geschichte ist ganz klar ein Blick in die Vergangenheit und die dort beschriebenen sozialen Verhältnisse hat es so 1910 nicht mehr gegeben. Es ist daher auch kein doppeltes Spiegelbild der Entstehungszeit, oder nur in sehr geringem Maße.



    Zitat

    Zur Gläubigkeit:

    Jetzt lehnst du dich weit aus dem Fenster. Weder du noch ich wissen, weshalb sie im Kloster war. Wahrscheinlich hast du Recht. Nur widerspricht das nicht ihrer Gläubigkeit. Wie heißt es doch am Ende des ersten Aufzugs: „Ich wird´ jetzt in die Kirchen geh´n.“ Ich halte die Gläubigkeit der Feldmarschallin übrigens für nebensächlich. Dass sie die zehn Gebote nicht ernst nimmt, ergibt sich schon aus ihrem Fremdgehen.


    Ich glaube nicht, dass ich mich da weit aus dem Fenster lehne. Es gab mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nur zwei plausible Gründe für ihren Klosteraufenthalt: sie wurde hineingesteckt oder sie entwickelte selbst eine derart starke Frömmigkeit, dass sie diesen Schritt aus innerer Notwendigkeit heraus machte. In diesem Falle wäre er aber unwiderruflich gewesen und wir hätten sie nicht in der Oper.
    Es spricht aber nichts gegen die Tatsache, dass sie im Grunde ein gläubiger Mensch ist, wie es im 1. Akt angedeutet wird. Es ist ein Wesenszug und daher nicht nebensächlich. Außerdem wehre ich mich gegen die Verallgemeinerung, dass das offensichtlich großzügige Übergehen des 6. Gebots Rückschlüsse auf die Beachtung der übrigen zulässt.


    Zitat


    Deine Ausführungen zur Erwachsenheit des Octavian halte ich nicht für überzeugend. Beachte wie die Feldmarschallin Octavian nennt: „Bub“! Für zumindest fraglich halte ich es überdies, ob Octavian tatsächlich Sophie heiraten wird. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass er – den Beispielen der Feldmarschallin und von Ochs folgend – mit Sophie einfach nur ein bisschen durch die Betten tobt und sich schließlich eine andere sucht?


    Die Marschallin ist immerhin fast doppelt so alt wie Octavian und wird ihm wohl in intimer Stimmung diesen Kosenamen geben dürfen. Die Sache mit der Heirat ist ziemlich klar. Der Edle von Faninal will sich mit Hilfe seiner Tochter und seines Geldes sozial verbessern. Weder für ihn noch auch für Sophie steht das Mätressendasein zur Diskussion.



    Zitat


    Es ehrt mich, dass du darauf nichts zu erwidern wusstest. :D


    Es war mehr der Verzicht der Erörterung von "unsozialem Verhalten" in diesem Zusammenhang. Ich verstehe das nicht so recht und das Lever ist eigentlich ein Gegenbeweis, der ihre soziale Ader beleuchtet.



    Zitat


    Das sehe ich anders. Ich denke, ihr wäre es möglich gewesen, den Baron wennschon nicht nicht, so doch weniger zu unterstützen. Die Gestellung des Rosenkavaliers z.B. ist allein die Idee der Feldmarschallin.


    Das ist Haarspalterei. Sie gibt nur soviel Hilfestellung als sie aus dem Handgelenk ohne den geringsten Aufwand zu geben vermag. Außerdem verbindet sie die Aktion noch mit einem Scherz, indem sie Mariandl/Octavian für die Aktion einspannt und beim Ochs für zusätzliche Verwirrung sorgt.



    Zitat


    Das längst ist nicht zutreffend, das räume ich ein. Verloren aber hat die Feldmarschalin Octavian doch. Den Kampf gegen Sophie konnte sie nicht gewinnen, auch nicht mit irgendwelchen Tricks. Ich verweise auf FairyQueens Ausführungen.


    Das ist geradezu lächerlich. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie nach dem Abgang des Ochs mit seinem Gefolge auch den Edlen von Faninal samt Töchterlein einfach hinauskomplimentieren können und Octavian hätte Sophie nie wieder gesehen. Er kennt sie erst seit wenigen Stunden und es wird vielleicht ein paar Stunden mehr benötigen, um ihn wieder abzukühlen. Faninal hätte sich auf Lärchenau einkaufen können, aber der alte Graf Rofrano ist ein ganz anderes Kaliber. Man kann implizit davon ausgehen, dass die Zustimmung der Marschallin ein wichtiger Punkt in der Ermöglichung der Verbindung ist, sie hätte es vermutlich auch leicht in der Hand gehabt, diese Verbindung beim Grafen zu hintertreiben.


    Queenies Ausführungen dazu gefallen mir überhaupt nicht. Sie sind als allgemeine Formulierungen dieser Zeit vielleicht ganz brauchbar, passen aber gar nicht gut auf das Stück, das sie ja auch nicht kennt (Walter liegt wesentlich besser im Rennen!). Am Beginn besteht eine sehr innige Beziehung zwischen Marschallin und Octavian. Sie weiß natürlich, dass es eine Beziehung auf Zeit ist, er will das noch gar nicht wahrhaben. Sein Verhalten ihr gegenüber ist ganz typisch das des erstmals wirklich stark Liebenden. Und der fliegende Wechsel zur zweiten Flamme kann so nur mit ihrer Zustimmung und ihrem aktiven Zutun reibungslos ablaufen. Sie hält die Fäden in der Hand und führt das Geschehen vorerst zu einem guten Ende.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt


    @Rideamus: Schön zu hören, dass du dich noch ausführlich äußern möchtest. Warte nicht zu lang, der Zug fährt schnell.


    In der Tat, der Zug fährt enorm und erfreulich schnell. Aber was schadet es, dass ich nicht drin sitze, wenn er auch so an sein richtiges Ziel kommt?


    Zur Marschallin wurde sehr viel Richtiges gesagt, und zwar von allen Seiten, so dass ich gar nicht verstehen kann, warum der Ton zwischen Thomas und Theophilus teilweise so heftig ist. Was die Marschallin betrifft, kann ich mich daher auf wenige Aspekte beschränken.


    Ich kann jetzt nicht nachschlagen, ob es Strauss oder Hofmannsthal war, aber einer der beiden hat irgendwo geschrieben, dass die Marschallin natürlich schon mehrere Liebhaber gehabt hat und viele weitere haben wird. Sie ist eine durchaus lebenslustige, aber gelegentlich auch reflektierende Person, die dann eben auch über die Vergänglichkeit der Dinge nachdenkt. Ich sehe da keinen Widerspruch. Tun bzw. taten wir das nicht alle von Zeit zu Zeit - gerade, wenn wir die auch heute noch fast magischen 30erreichen? Und ist nicht die Liebe, zumal einer deutlich jüngeren Person, ein ganz hervorragender Anlass, über deren Vergängöichkeit und die des Lebens überhaupt nachzudenken, wenn man schon einige Erfahrungen und Jahre voraus hat?


    Der in Liebesdingen, wenn überhaupt, nicht sehr erfahrene Octavian ist an dem Morgen bis über beide Ohren in die Marschallin verliebt. Man beachfe den frühen Orgasmus im Orchestervorspiel, den Strauss bei den ähnlich unerfahrenen Zdenka/Matteo in ARABELLA wieder aufgegriffen hat. Reserviertheit oder gar Taktik liegen ihm (noch) nicht. Aber zu ihm später mehr, wenn er dran kommt. Die Marschallin erkennt das, ist auch ein wenig gerührt, das Objekt solch bedingsloser Hingabe zu sein und hat den erotischen Rausch ersichtlich ebenfalls genossen. Sie weiß aber auch aus intensiver Erfahrung, die Octavian noch fehlt, um dessen Vergänglichkeit und pendelt deshalb im ersten Akt noch zwischen dessen Nachklang, der sie zu einem nicht ungefährlichen Spiel anstachelt, und der Ernüchterung des Morgens.


    Man darf nicht vergesssen, dass wir es hier mit einer Standesgesellschaft par excellence zu tun haben. Hofmannsthal und Strauss haben zwar sehr viel aus ihrer Gegenwart in dieses Milieu hinein projiziert und hinzu erfunden (die silberne Rose und die Walzer, um nur je ein Beispiel von Wort und Musik zu nennen), gleichzeitig aber auch sehr darauf geachtet, das Milieu so authentisch wie möglich erscheinen zu lassen, ganz wie seinerzeit Da Ponte und Mozart, deren FIGARO in der Tat beider Vorbild war (übrigens auch die MEISTERSINGER, an denen sie besonders die scheinbare Authentizität der von Wagner recht unhistorisch nachempfundenen Welt bewunderten). Wir sehen also zwar das vorrevolutionäre 18. Jahrhundert durch die Brille des anbrechenden 19. (was, notabene, auch schon wieder ein Jahrthundert her ist). Der Boden, den wirbei der Betrachtung der Personen jedoch nicht verlassen dürfen ohne Gefahr zu laufen, ihn unter den Füßen zu verlieren, ist aber das möglichst authentische 18. Jahrhundert.


    Aus diesem Grund sollten wir uns erst Recht hüten, die Personen zu ausschließlich aus unserer Perspektive zu bewerten. Da schießt Fairy, die ansonsten sehr viel Richtiges schreibt, definitiv über das Ziel hinaus. ALLE Personen handeln wie Kinder ihrer Zeit, die sich unsere heutigen moralischen Fragen kaum stellen. Sie sind brave Katholiken, welche die Vorschriften, nach denen sie handeln, nicht hinterfragen, sie aber ungerührt wieder brechen, wenn ihnen danach ist, sobald sie gebeichtet haben. Auch deshalb wird die Marschallin wohl "in die Kirchen geh'n", und nicht zuletzt darauf bereitet sie sich geistig vor. Hier hat die Darstellung der Marschallin durch Elisabeth Schwarzkopf, so wundervoll sie das auch macht, deren Rolle zu sehr auf das "alte Weib" reduziert, und das auf Kosten ihrer Lebensfreude, ja, Leichtfertigkeit, die sie durchaus auszeichnet. Leider haben sich fast alle ihre Nachfolgerinnen, vor allem die bei Bernstein ausgezeichnet singende Christa Ludwig, die diese Darstellung ja noch aus der Perspektive des Octavian kannte, daran orientiert.


    Allerdings kenne ich halbwegs vollständige Darstellungen davor nur aus dem großen Querschnitt mit Lotte Lehmann, die ich dezidiert "jünger" in Erinnerung habe, und in der Gestaltung durch Maria Reining bei Erich Kleiber, mit der ich, wie schon gesagt, meine Schwierigkeiten habe, weil ich sie als etwas farblos empfinde. Um da wirklich gerecht zu sein, müsste ich sie aber wieder hören, denn als ich das noch oft tat, stand ich noch sehr stark unter dem Eindruck der Schwarzkopf. Ich besitze allerdings einen Querschnitt unter Wilhelm Schüchter, in dem Leonie Rysanek diese Rolle mit 28 Jahren singt, und in dem sie genau diese Mischung vorzüglich suggeriert. Diese Darstellung, die ich leider nicht über die ganze Rolle hin weg kenne, ist für mich bis heute vorbildlich.


    Ich sehe ansonsten manches durchaus so wie Thomas, würde allerdings keinesfalls so weit gehen, der Marschallin ein oberflächliches Wesen zuzuschreiben. Entspräche sie dem, könnte sie nicht im Zentrum dieser Oper stehen, und wir hätten tatsächlich "nur eine Farce und weiter nichts". Das aber ist nicht der Fall. Ihre gelegentliche Hoffart ("Abtreten die Leut!") entspricht ihrem Standesbewusstsein, das man nicht mit heutigen Augen als reinen Dünkel werten darf. Entsprechend ist auch ihre Frömmigkeit nicht sehr ausgeprägt, sondern selbstverständliche, fast lieb gewordene Gewohnheit. Sie ist eben eine ganz normale - allerdings sehr privilegierte - und noch recht jugendliche, wenn auch nicht mehr ganz junge Frau in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Natürlich waren sogar die hochadeligen Frauen um die 30 im 18. Jahrhundert aus vielen Gründen objektiv "verbrauchter" als heute. Ob das aber subjektiv genau so galt, möchte ich bezweifeln. Jedenfalls erkenne ich in den Überlegungen der Marschallin viele Frauen um die 30 wieder, die ich selbst kennen gelernt - aber deshalb nicht zwangsläufig erkannt - habe.


    Was ihr weiteres Verhältnis zu Octavian/Cherubino betrifft, so besitzt die Fürstin (das Pendant zur Gräfin des FIGARO) die Weisheit, sich nicht dem Überschwang seiner neu erwachten Verliebtheit in den Weg zu stellen, was sie in der Tat leicht könnte - womöglich sogar ohne dass Octavian das merkt. Es würde mich aber nicht wundern, wenn Octavian sich dessen später bewusst wird und beide ihr Verhältnis wieder aufleben lassen, wenn Sophie ihm, was zu befürchten steht, bald zu langweilig geworden ist. Die ist wohl eher eine bezaubernd jugendliche Barberina als eine Susanna (obwohl... ? Später mehr dazu). Sowohl die Marschallin als auch Octavian haben aber auch ein nicht unerhebliches Potenzial zum Zynismus, und wenn ich eine Fortsetzung der Oper schreiben sollte, würde ich sie in Richtung von Choderlos de Laclos' GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN entwickeln. Erst dann wäre für mich die Marschallin, ähnlich der Marquise de Merteuil, so alt, wie die Schwarzkopf sie bereits dargestellt hat.


    Insofern ist es nicht von ungefähr, dass ich in dem Thread "auf den Leib geschrieben" zwar einen idealen Octavian (Fassbender) und eine vorbildliche Sophie (Bonney, Güden) benennen konnte, aber keine Marschallin, denn für solche Nominierungen ziehe ich nur Gesamtaufnahmen heran. Die Einbeziehung ihrer eben beschriebenen, leichtfertigen Charakteristika fehlt mir in eigentlich allen vollständigen Darstellungen, die der Rolle stimmlich gerecht werden. Da ist Strauss natürlich nicht unschuldig daran, und zwar im dritten Akt nicht weniger als im Ausklang des ersten. Unter den Gesamtdarstellungen der Marschallin meinem ideal am nächsten kommt mir erstaunlicherweise Kiri Te Kanawa, die leider so gar nichts Wienerisches hat, was man einer halben Maori aber kaum vorwerfen kann. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass sie die Rolle vor allem SINGT (und das ganz hervorragend) und nicht ihre schweren Aspekte ausspielt. Um gerecht zu sein, müsste ich allerdings noch einmal Felicity Lott sehen, denn es ist zu lange her, dass ich die Kleiber-DVD gesehen habe. Ich meine allerdings, dass sie die am wenigsten wienerische ist, mehr sogar noch als Te Kanawa. Ich werde mal wieder reinsehen und mich dann ggf. korrigieren.


    Das ist übrigens ein Grund, warum ich neben Leonie Rysanek so gerne Renée Fleming in einer Gesamtaufnahme der Rolle gehört oder besser noch live gesehen hätte. In dem angesprochenen Querschnitt unter Eschenbach ist sie ihren Kolleginnen nämlich nicht nur im Wohllaut gleich, sondern auch in der jugendlichen Ausstrahlung, und genau die fehlt mir bei den meisten vollständigen Darstellungen, unter denen man übrigens die von Régine Crespin keinesfalls außer Acht lassen sollte, weil sie, vom Lokalkolorit abgesehen, der Schwarzkopf sehr nahe kommt.


    :hello: Rideamus

  • Sehr seltsam, dass hier nur Männer über eine Frau diskutieren........ :D


    Lieber Theophilus, ich kenne mich in Strauss-Opern tatsächlich schlecht aus,(den Rosenkavalier kenne ich jedoch!),umso besser allerdings in "Weiber-Seelen".
    Ich bin absolut überzeugt, dass die Marschallin keine Chance gegen Sophie hat, zumindest nciht solange, bis diese für Octavian eine langweilige Ehefrau geworden ist . Hast du Dir mal bitte genau die Duette Sophie-Octavian zu Gemüte geführt?
    Das ist der musikalische coup de foudre schlechthin! Ein solcher Schmelz und eine solche Verliebtheit finden sich selten in der Opernliteratur und allein von der Musik her ist die Antwort eindeutig: Octavian hat nur noch Augen für Sophie und er wird sie selbstverständlich auch heiraten, um sie zu bekommen. Eine junge behütete Dame aus gutem Hause ist ohnehin das Einzige, was für ihn als Ehefrau denkbar ist, also hat er hier das doppelte Glück, in eine solche auch noch verliebt zu sein!
    "Spür nur dich allein" schliesst wohl Marschallinnnen jedweder Art aus, denke ich......
    Eine Affäre mit Sophie kommt da nciht in Frage! Allein der Vater würde das verhindern und in Sophies Denken ist sowas auch nicht vorgesehen.


    Lieber Brunello, ich glaube auch nciht dass er die Marschallin bewusst verachtet. :no: Nein, er ist mit Sicherheit so rasend verliebt, wie man es eben ist, wenn man als junger Mann/Mensch das erste Mal so richtig in den Himmel kommt. Das können wir hoffentlcih alle nachvollziehen, und eine erfahrene ältere Frau bzw ein erfahrener älterer Mann sind da ohnehin der ideale Partner. Das sehe ich wie Du auch ohne stundenlange Diskussionen mit mindestens einer Flasche Brunello! ;)


    Aber er kann noch so verliebt und dankbar sein: diese Beziehung ist von
    Beginn an auf ihr Ende festgelegt. Er kann sie niemals heiraten und würde es auch als Mann seiner Zeit kaum tun, wenn sie frei wäre. Die jahrhundertealten Frauenbilder Madonna und Hure , bzw Matresse und Ehefrau sind sowohl 1740 als auch 1910 noch virulent. Und im Untergrund schwingt da immer auch ein Stück moralisches Misstrauen gegenüber den Mätressen-Frauen mit. Davon kann ein Octavian sich nciht freimachen. Und eine deutlich ältere Frau heiratete Mann damals ohnhin nicht.(nur in dynastischen Ausnahmefällen)
    Wie ernst die Liebe des Octavian zu sehen ist, zeigt sich ja dann spätestens ,als er Sophie trifft......... :pfeif:
    All das weiss die Marschallin natürlich. Ich habe grosse Sympathie für diese Frau und ihre Ambivalnz wertet die Oper keinesfalls ab sondern auf. Das sehe ich genau wie Thomas.
    Erkläre uns doch bitte mal, lieber Theophilus, was ihr Anderes übrig bleibt, als zu verzichten?
    Gerade wenn sie den Quinquin ernsthaft liebt, ist ihr zwar vollkommen klar, dass sie in der Lage ist, den ersten erotischen Rausch eines 17 jährigen besser zu befiredigen als eine volkommen unerfahrene 16 jährige. Aber dass er in Sophie sterblich verliebt ist, ändert das keinesfalls. Liebe einzufordern, heisst immer,, sich lächerlich machen und das liegt einer solchen Frau fern.
    Soll sie sich etwa soweit demütigen, dass er in ihren Armen von Sophie träumt ? Wenn sie ein Marquis de Valmont(Gefährlcihe Liebschaften) wäre, würde sie ihn ja wohlmöglich noch für Sophie "anlernen", aber DAS ist sie nun eben auch nicht, da gebe ich Dir ganz Recht.
    Wenn sie sich nur amüsieren will, kann das Alles noch angehen, aber wenn sie ihn liebt, mit Sicherheit nicht!
    Eine Frau mit einem solchen Format ist zu klug und zu stolz, ihre Gefühle mit Füssen treten zu lassen . Je echter sie sind, umso weniger.
    Rideamus hat sicher Recht: wahrscheinlich könnte sie ein oder zwei Jahre warten. Wenn Sophie dann zum zweiten Mal schwanger ist und Octavian sich an weit Raffinierteres erinnert als an hâuslcihe Kost, schlägt evtl nochmal ihre Stunde?
    Falls sie den Knaben dann noch will... Dazu mûsste sie ihn wiederum unendlich lieben oder SEHR cool, dekadent und vergnügungssüchtig sein. Beides scheint mir eher unwahrscheinlich. Mir scheint sie eine mehr oder weniger "normale "Frau ihres Alters,(das ich auch eher um die heutige 40 ansiedele, wenn man die damalige Alterstruktur betrachtet) für die ein älterer Liebhaber langfristig allemal gesünder wäre.


    Ich finde Bonney, Fleming und Graham auch geradezu ideal in der Trias .Aber auch Felicity Lott zeigt die ambivalente Seite der Marschallin m.E. besser als Schwarzkopf.(so schön diese auch singt)
    Eine edle und selbstlose Seite mag sie gerne haben, aber sie darauf reduzieren zu wollen, finde ich sehr schablonenhaft und psychologisch zu kurz gegriffen
    Ich verurteile sie moralisch sowieso in keinster Weise und finde ambivalente Figuren viel sympathischer . :yes:
    Ihr Man wird ja mit Sicherheit ebenso fremdgehen wie sie und ihre Furcht vor Entdeckung.... da würde ich gerne mal die konkreten Gründe wissen. Konventionen . Oder das üblcihe: Mann nimmt für sich alle Freiheiten in Anspruch gesteht sie frau aber nciht zu ?
    Warum sollte die Marschallin ausschliesslich edel und gut sein?
    Und warum verdirbt es die Oper, wenn sie es nicht ist? ?( ?( ?(


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  • Die Marschallin hat, wie m.E. richtig geschrieben wurde, wohl viele Liebhaber gehabt und wird noch einige in Zukunft haben. Allerdings fürchtet sie zu Recht, dass sie diese naive, schwärmerische, bedingungslose Liebe eines zum ersten Mal Veliebten zum letzten Mal genießen konnte und durfte. Daher auch wohl die wahrnehmbare Rührung bei ihr, die über das rein erotische Interesse am "Frischfleisch" hinausgeht. Denn Octavian könnte ja - rein vom Lebensalter her - tatsächlich ihr "Bub" sein. Da sind bei der Marschallin dann auch gewisse mütterliche Aspekte vorhanden, was sie dann natürlich auch wieder erschreckt. Denn in diesem ambivalenten Verhältnis manifestiert sich ja das von ihr beklagte unerbittliche Verstreichen der Zeit. Während Oktavian mit der Heirat zu Sophie die Schwelle zum Mann überschreiten wird, spürt sie, dass sie sich auch in einer Übergangsphase befindet, an deren Ende sie eine nach damaligen Maßstäben "alte Frau" sein wird. Am Ende steht dann der Verzicht aus Einsicht, dass sie sich dem Glück der jungen Liebenden nicht in den Weg stellen sollte, auch wenn es schwerfällt. Eine weitere Parallele zu den "Meistersingern", in denen Sachs die mögliche Werbung um Eva unterläßt, da er nichts "von Herrn Markes Glück" will ("Ward Zeit, dass ich den rechten fand. Wär sonst am End noch hineingerannt."). Die Zeit fließt und man kann, man soll nichts gewaltsam festhalten. Der Abschied von Octavian ist auch der Abschied von ihrer eigenen Jugend und der Aufbruch in eine neue, ungewisse Lebensphase und eine neue Rolle, in die sich die Marschallin noch finden muss. Auf Faninals Bemerkung von den jungen Leuten, die "halt a so" seien, reagiert sie daher mit einem musikalisch als Seufzer gestalteten "Ja, ja". Aber auch für sie gilt: fluctuat nec mergitur.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von Fairy Queen
    Sehr seltsam, dass hier nur Männer über eine Frau diskutieren........ :D


    Liebe Fairy,


    dafür kann ich nun wirklich nichts. :wacky:
    Wo ist Rosenkavalier, wenn man ihn/sie braucht? Zudem: Ihr habt Euch ja auch nicht geniert in fast ausschließlich weiblichem Kreise über die Männer des Don Carlos zu diskutieren. Die Lösung dieses Rätsels ist einfach: das andere geschlecht ist (fast) immer das interessantere.


    Zitat


    Octavian hat nur noch Augen für Sophie und er wird sie selbstverständlich auch heiraten, um sie zu bekommen. Eine junge behütete Dame aus gutem Hause ist ohnehin das Einzige, was für ihn als Ehefrau denkbar ist, also hat er hier das doppelte Glück, in eine solche auch noch verliebt zu sein!
    "Spür nur dich allein" schliesst wohl Marschallinnnen jedweder Art aus, denke ich...... Eine Affäre kommt da nciht in Frage! Allein der Vater würde das verhindern und in Sophies Denken ist sowas auch nicht vorgesehen.


    Ich verstehe überhaupt nicht, wieso man überhaupt auf den Gedanken kommen kann, Sophie sei für Octavian nur ein weiteres Abenteuer. Das würde nicht nur dessen Charakter entwerten und die ganze Oper unsinnig machen, sondern wäre auch unter den Umständen unmöglich. Faninal mag ja ein serviler Emporkömmling sein, aber dumm ist er nicht. Er weiß, warum er so viel Geld für einen Adelstitel ausgibt und wäre tatsächlich der Erste, der seine Tochter ins Kloster schickte, wäre sie ein Gretchen. Wenn er am Ende zusammen mit der Marschallin auftritt, ist klar, dass sie ihm bedeutet hat, dass Octavian für seine Tochter eine noch bessere Partie ist als der Ochs, und NUR deshalb ist er damit einverstanden, das aber mit aller Konsequenz, den Edlen von Lerchenau zu düpieren


    Octavian, aber damit sind wir schon sehr weit bei seiner Darstellung, verachtet die Marschallin natürlich keineswegs. Man bedenke auch hier die damalige Standeswelt, in der Mätressen keineswegs nur verachtet wurden und hohe Damen, die sich Liebhaber unterhalb ihres Ranges suchten, nur dann verachtet wurden, wenn das bekannt wurde oder der Ehemann sie loswerden wollte. Außerdem darf man nicht vergessen, dass dies die Zeit der Sittenkommission war, die Maria Theresia nicht zuletzt deshalb eingeführt hat, weil ihr das nicht sonderlich geheime Lotterleben ihrer Adeligen zu weit ging. Nur vor diesem Hintergrund darf sich auch der Hauptmann im dritten Akt erlauben, den Ochs derart zur Schnecke zu machen und ihn als Debauchierer und Verführer zu bezeichnen. Allein deshalb fürchtet die Marschallin die Entdeckung, denn natürlich ist sie sich darüber im Klaren, dass ihr Mann mehr ahnt als er wissen will, so wie sie auch von ihm. Octavian ist ihr unter anderem sehr dankbar, und das am Anfang wie zu Ende wieder. Subjektiv liebt er sie. Jedenfalls ist er fest überzeugt davon, und man verachtet bekanntlich einen Menschen, den man liebt, frühestens dann, wenn die Liebe erloschen ist.


    Zitat


    Aber er kann noch so verliebt und dankbar sein: diese Beziehung ist von
    Beginn an auf ihr Ende festgelegt. Er kann sie niemals heiraten und würde es auch als Mann seiner Zeit kaum tun, wenn sie frei wäre. Die jahrhundertealten Frauenbilder Madonna und Hure , bzw Matresse und Ehefrau sind sowohl 1740 als auch 1910 noch virulent. Und im Untergrund schwingt da immer auch ein Stück moralisches Misstrauen gegenüber den Mätressen-Frauen mit. Davon kann ein Octavian sich nicht freimachen.


    Da bist Du zu streng. Nicht vergessen: im Grunde ist Octavian Cherubino. Unbeschwert, verantwortungslos und in beidem liebenswert. Das bestätigt er, indem er im dritten Akt alles unternimmt um die Frau heiraten zu können, in die er sich ernsthaft verliebt hat. Es mag wohl sein, dass er später im Offizierskasino süffisante Bemerkungen über seine früheren Geliebten macht, aber in absehbarer Zeit sicher noch nicht. Natürlich ist eine dauerhafte Beziehung mit der Marschallin undenkbar. Selbst wenn der Feldmarschall im Felde fiele, was bekanntlich nur wenige Marschälle jemals taten, oder sich scheiden lassen könnte, was im katholischen Österreich unmöglich war, so ist mindestens qua Ehe die Marschallin Octavian standesgemäß zu weit überlegen um solchen Überlegungen irgendeinen Raum zu geben. Deshalb stellt sie auch keiner der beiden an. Das muss aber noch lange nicht heißen, dass Octavian nicht von der Ewigkeit des Liebesrausches überzeugt ist, solange er ihm erliegt. Mit einer moralischen Verurteilung der Geliebten, die er gerade genoss, hat das alles aber überhaupt nichts zu tun.


    Zitat


    Gerade wenn sie den Quinquin ernsthaft liebt...


    Genau das tut sie natürlich NICHT. Sie genießt den Bub in vollem Bewusstsein dessen, was sie aneinander haben. Ihre Trauer um seine von ihr selbst vorher gesehene "Untreue" entspringt aber ausschließlich einer Mischung aus verletzter Eitelkeit und dem Verlust einer erotischen Erfüllung, die man wohl nicht nur Octavian unterstellen darf. Auch wenn man etwas nicht mit Ewigkeitsträumen verbindet: der Verlust von etwas Schönem ist trotzdem ein solcher und rechtfertigt sogar Melancholie.


    Ob sie ihn später wieder aufnehmen würde? Ich kann mir das vorstellen, weil sich dann BEIDE des spielerischen Charakters dieser erneuten Liebschaft bewusst wären. So wie die Marquise de Valmont und ihr Schützling, der Vicomte de Valmot, einander sowohl genießen und bewundern als auch verachten.


    Widersprüchlichkeit ist vielleicht die menschlichste und folglich verbreitetste menschliche Eigenschaft überhaupt. Aber da verlässt mich ersichtlich das Einfühlungsvermögen in eine gekränkte Frau. Schon das alte englische Sprichwort weiß ja: "Hell hath no more fury than a woman scorned". Die Fortsetzung wäre wirklich interessant, aber kaum mehr eine Komödie.


    :hello: Rideamus

  • Lieber Rideamus, im Grunde sind wir uns fast einig. Bis auf einige Details, die aber evtl mit der jeweils geschlechtsspezifischen Sichtweise und deinem Plus an Weisheit, Lebenserfahrung und Strausskenntnis zu tun haben. Als Frau im Alter der Marschallin sehe ich wohl auch Manches naturgemäss etwas anders als ehemalige Quinquins....... :]
    Deinen Satz, dass Ambivalenz/Widersprüchlichkeit die wichtigste menschliche Eigenschaft ist, unterschreibe ich sofort :yes: und gerade deshalb bin ich ja gegen eine Idealisierung der Marschallin. Ob sie Quinquin ernsthaft liebt oder nicht, würde tatsächlich erst eine Fortsetzung der Geschichte beweisen. Es gäbe nur zwei Gründe, ihn wieder "aufzunehmen": entweder sie liebt ihn wahnsinnig und nimmt dafür alles in Kauf (unwahrscheinlich, denn in diesem Fall hätte nicht mal eine Heilige so gehandelt wie sie im Laufe der Oper) oder sie ist leichtfertig/cool genug, sich einfach nur mit dem reizenden Bub amüsieren zu wollen. Das glaube ich irgendwie auch nciht, denn ihre Gefühle für ihn scheinen mir nciht ganz so oberflächlcih zu sein, wie du das suggerierst.(so ich dich nciht falsch interpretiere)
    Sie ist kein Viconte de Valmont und keine Marquise de Merteuil, die ihre jungen "Schüzlinge" als amüsantes Spielzeug betrachten.
    Wie gesagt: eine normale Frau ihres Alters mit allen dazugehörenden Widersprüchlcihkeiten und eben auch der notwendigen Klugheit und Einsicht, ihre Grenzen zu sehen. Wenn sie von starken Liebes- Leidenschaften regiert würde, wäre ein Verzicht in dieser Form nciht möglch gewesen, aber sie ist auch nicht so cool und "verlottert", das als Nebensache abtun zu können. Irgendwo in der Mitte findet sich wohl die Wahrheit und Giselher sieht das m.E. ebenfalls ziemlich richtig.
    Danke für die interessanten Betrachtungen zur österreichischen-katholischen Gesellschaftsmoral.
    Was die Madonna und Huren-Theorie angeht, bin ich wohl 100 Jahre zu spät und 100 Jahre zu früh, aber virulent war das fast zu allen Zeiten. Mâtressen wurden zwar angebetet und geliebt aber geheiratet und hoch- geachtet werden anständige Mädchen.
    Immerhin ein Trost , dass solche frauenverachtenden Gedanken doch nicht so omnîpräsent sind, wie ich manchmal fürchte, wenn ich Literaur, bildende Kunst etc etc ansehe.


    Ja, unser Rosenkavalier fehlt hier wahrhaftig als weiblcihe Verstärkung, ist aber bis morgen im Dienst der Republik im Ausland und wird sich dann hoffentlich umso vehementer zu Wort melden. :hello:



  • Lieber Thomas,


    Inzwischen gibt es in diesem Thread ja noch weitere wichtige Stellungnahmen, mit denen ich mich jetzt unter Umständen überschneide, aber trotzdem:


    Wenn Strauss kurz vor seinem Tod etwas feststellt, dann kommt es nicht so sehr auf das absolute Datum an, sondern wann dieser Mensch und seine Meinung geprägt worden sind. Es besteht kein Grund anzunehmen, daß Strauss als alter Mann sein Denken völlig umgekrempelt hätte. Strauss und Hofmannsthal und der "Rosenkavalier" gehören einer Epoche an, die zum 18.Jahrhundert eine ganz spezifische Einstellung aufbaute. Es würde zu weit führen, daß jetzt lang und breit zu erörtern - nur als Stichwort: Der Barock und namentlich der österreichische Barock des 18.Jahrhunderts wurde massiv als österreichischer Nationalstil interpretiert. Auch wenn sich das letztlich nicht richtig durchsetzen konnte, die Dokumente dieser Gesinnung sind Legion und nicht auf die Musik beschränkt (in Architektur und bildender Kunst gibt es sie genauso, und es sind richtige Hauptwerke dabei). Und Hofmannsthal hat sich teils direkt durch Quellen des 18.Jahrhunderts, besonders durch das Tagebuch des Fürsten Khevenhüller-Metsch, anregen lassen.


    Der Brief: Hier mußt Du Usus und Zeremoniell bedenken. Einen wirklich wichtigen Brief bringt man nicht so einfach an den Wagenschlag. Gerade aus dieser Zwischen-Tür-und-Angel-Situation erhellt, daß die Lakaien den Brief und seinen Absender richtig einschätzen. Zum sozialen Empfinden der Marschallin bitte sich zu erinnern, daß sie nicht nur in die Kirche geht, sondern auch einen Besuch bei einem alten und gelähmten Verwandten anschließt (obwohl das sehr wahrscheinlich eine ziemlich saure Pflicht ist), weil "...das freut den alten Mann". Eine typisch Hofmannsthalsche Ausdrucksweise, in den wenigen Worten liegt eine ganze Welt an Mitteilung über die Denkweise der Marschallin.


    Das Fremdgehen hat mit der Gläubigkeit im konkreten Fall weder aus der Sichtweise der gehobenen Gesellschaft des 18. noch des frühen 20.Jahrhunderts viel zu tun. Dein Einwand ist unhistorisch. Verpönt war einzig und allein, daß die Sache auffliegt. Sehr oft kam es bei Konvenienzheiraten vor, daß der Hausfreund nicht nur im Schlafzimmer aushalf, sondern sogar ganz offiziell Angelegenheiten für die Dame erledigte, weil der Ehegatte das eben nur dem Namen nach war und sich anderswo herumtrieb.
    Auch hat Theophilus mit seiner Bemerkung zum "Erwachsensein" Octavians durchaus recht. Als jüngerer Bruder kann er sich zwar ein bißchen mehr Zeit lassen, weil ja anzunehmen ist, daß sein Bruder, der Marchese, schon für geeeigneten Familiennachwuchs sorgt. Aber ein Rofrano (gemeint ist hier quasi die Familie Auersperg!) mit 17 Jahren war damals eben schon ein junger Herr in des Wortes voller Bedeutung.


    Silberne Rose: Wieder Zeremoniell. Die Marschallin kann hier nicht aus ihrer standesgemäßen von der Etikette vorgeschriebenen Verpflichtung heraus (brunello: Die Überreichung der Silbernen Rose gilt nicht der Marschallin, sondern ist in dieser Opernwelt ein formeller Bestandteil der Werbung. Dieses Symbol muß der gewünschten Braut von einem adeligen Mittler im Namen des Lerchenauers übergeben werden.). Der Ochs ist nun einmal ihr Verwandter, der um ihre Protektion ersucht. Auch wenn er ein Bauer ist, und die Marschallin gern von ihm verschont bliebe - sie muß es schon tun, weil dieser Elefant sonst in Wien womöglich in irgendein großes Fettnäpfchen tritt (wie er es dann in der Mariandl-Causa ja tut) und womöglich die Familienreputation beschädigt. In so einem Fall hätten nämlich alle die Marschallin verwundert gefragt, warum sie nicht rechtzeitig das Arrangement in ihre Hände genommen hat.


    Zuletzt noch eine Bemerkung zur Sophie. Sie ist die klassische jugendliche Naive, ahnungslos und unschuldig. Aber man muß bitte auch immer wissen, daß die jugendliche Naive in der Regel, wenn sie ihren Geliebten bekommt, problemlos ins nächste Fach "Frau und Mutter" überwechselt. An sich war ja die "Heldin" bis in die Mitte der 1950er Jahre auch keineswegs immer jugendlich-naiv, sondern ein eher gereifter, fraulicher Typ (ich verweise etwa auf Idole wie die Garbo, wie Myrna Loy, oder die junge Paula Wessely, die in "Maskerade" keineswegs nur naiv handelt, sondern in ihrem charaktervollen Ernst längst Elemente des Postbackfischhaften assimiliert hat, auf die "emanzipierte" Renate Müller in "Die englische Heirat" und viele andere; in den fünziger Jahren vertrat beispielsweise noch Marianne Koch dieses Ideal, das übrigens in den letzten Jahren infolge der altersmäßigen Verschiebungen in unserer Gegenwartsgesellschaft wieder attraktiv geworden ist - siehe die diversen Pilcherserien etc.). Charakteristisch etwa in der "Feuerzangenbowle": Entscheidend ist, daß der Backfisch durch die Tat beweist, daß er mütterliche Aufgaben bestens erfüllen kann. Dann wendet sich Pfeiffer von der diesbezüglich unreifen und im reinen Verliebten- und Sexfreudezustand verbliebenen Marion innerlich endgültig ab. Die potentielle "Frau" im Backfisch kennzeichnete auch noch Schauspielerinnen wie Elfie Mayerhofer, Hannerl Matz und Romy Schneider (in ihrer "Sissi"-Zeit); der Umschwung kam vor allem mit der Bardot. Man soll also die Sophie nicht a priori nach den Maßstäben einschätzen, die die jetzige junge Generation kennt. Ich rechne Dich, lieber Thomas, da durchaus noch dazu, während ich leider schon so alt bin, daß ich hier quasi als Zeitzeuge fungieren kann.


    Im übrigen unterstütze ich nachdrücklich Fairy in der Behauptung, daß die Marschallin Octavian wirklich liebt. Aber sie weiß von vornherein, daß dieses Glück zeitlich begrenzt ist, und daß - solange sie nicht Witwe wird - auch andere Liaisonen ihr Ablaufdatum haben. Aus ihrem goldenen Käfig kann sie jedoch nicht heraus. Diese Tragik hat Hofmannsthal sehr subtil und indirekt vermittelt. Und die Marschallin hat nicht "viele" Liebhaber vor Octavian gehabt, er war nur nicht der erste und nicht der letzte.


    Zu Rideamus: Maria Reining ist in der Einspielung von 1954 sicher nicht mehr ganz die Klasse solcher Marschallinnen, wie sie die Jurinac, die Lott und viele andere darstellten. Trotzdem ist Kleiber-Vater auch für mich noch immer ein bißchen besser als sein Sohn, er hatte mit Ludwig Weber auch einen Traum-Ochs zur Verfügung nebst anderen Traumbesetzungen. Die Bonney als Sophie ist natürlich ebenso Spitze!


    LG


    Waldi

  • Sehr lesenswerte Beiträge sind da zusammengekommen, wunderbar.


    Dem freundlichen Rat von Rideamus folgend, unnötige Heftigkeit in der Debatte zu vermeiden, werde ich nicht im Einzelnen auf die Ausführungen von Theophilus eingehen – die ich teils deutlich anders sehe, sondern mich zu einzelnen Punkten möglichst zusammenhängend äußern.


    1) Beginnen möchte ich mit der hier umstrittenen Bewertung des Verhaltens der Feldmarschallin anlässlich der schließlichen Hinwendung Octavians zu Sophie.


    Ich meine, den Kampf gegen Sophie hatte die Marschallin (längst) verloren, als sie auf Octavian verzichtete. Theophilus antwortet, meine Auffassung sei falsch, denn die Marschallin halte die Fäden weiterhin in der Hand und hätte die Verbindung Octavian-Sophie hintertreiben, verhindern können (näheres s. o.)


    Meines Erachtens ist mit diesem Einwand nichts gewonnen.


    Ja, die Marschallin hätte zweifellos die Beziehung Octavian-Sophie verhindern können. Darum aber geht es mir nicht. Den Kampf gegen Sophie zu gewinnen, hieße, Octavian zurückzugewinnen. Das aber ist aussichtslos.


    Es stellt sich die Frage, weshalb die Marschallin nicht Rache an Sophie übt, sondern die Beziehung Octavian-Sophie auf einen guten Weg bringt. Mehrere Motive sind denkbar. Edelmut wird vorgeschlagen, Fairy verweist demgegenüber auf die Einsicht der in Liebesdingen Erfahrenen, dass ein solches Nachkarten nie zum Guten führt. Beide Elemente spielen eine Rolle, meine ich, halte jedoch ein drittes für entscheidend, dass ganz wesentlich für das Verständnis der Marschallin ist. Ich zitiere:


    „MARSCHALLIN
    sehr ernst
    Quinquin, heut oder morgen geht Er hin, und gibt mich auf um einer andern willen,
    etwas zögernd
    die jünger und schöner ist als ich.


    OCTAVIAN
    Willst du mit Worten mich von dir stossen, weil dir die Hände den Dienst nicht tun?


    MARSCHALLIN
    ruhig
    Der Tag kommt ganz von selber. Heut oder morgen kommt der Tag, Octavian.


    OCTAVIAN
    Nicht heut, nicht morgen! ich hab' dich lieb. Nicht heut, nicht morgen! Wenn's so einen Tag geben muss, ich denk' ihn nicht! So einen schrecklichen Tag! Ich will den Tag nicht sehn. Ich will den Tag nicht denken. Was quälst du dich und mich, Theres'?


    MARSCHALLIN
    Heut oder morgen oder den übernächsten Tag. Nicht quälen will ich dich, mein Schatz. Ich sag' was wahr ist, sag's zu mir so gut als wie zu dir. Leicht will ich's machen dir und mir. Leicht muss man sein, mit leichtem Herz und leichten Händen halten und nehmen, halten und lassen . . . Die nicht so sind, die straft das Leben, und Gott erbarmt sich ihrer nicht.“


    An dieser Stelle erklärt die Marschallin in aller Deutlichkeit, weshalb sie verzichtet. Ihr ist von Anfang an bewusst, dass Octavian sie für eine jüngere verlassen wird. Sie ist darauf vorbereitet. Die in den Worten „Leicht muss man sein, mit leichtem Herz und leichten Händen halten und nehmen, halten und lassen“ zum Ausdruck gebrachte Lebenseinstellung beinhaltet Loslassenkönnen, geht aber noch darüber hinaus. Vor allem nämlich geht die Leichtigkeit des Loslassens mit dem Nichtzulassen einer tiefen Bindung einher.


    Ich biete folgende Interpretation an: Die Marschallin ist als junges Mädchen von etwa 15 Jahren, frisch aus dem Kloster, verheiratet worden. Ihre naiven Mädchenträume vom Glück in der Ehe wurden enttäuscht. Sie hat sich arrangiert, behilft sich mit Liebhabern. Geblieben jedoch ist eine tiefsitzende Bindungsangst, aus der die notdürftig zurechtgezimmerte Philosophie der Leichtigkeit entspringt, die ihrem eigentlichen Wesen nicht entspricht.


    Liebt sie Octavian wirklich? Nein, sie tut es nicht. Sie wagt es nicht, jemanden wirklich zu lieben, schon gar nicht einen Bub von 17 Jahren. Gleichwohl steckt in ihr die Hoffnung, dass es echte Liebe dennoch gibt.


    Die Tragik der Marschallin ist, dass Octavian diese Hoffnung erneut enttäuscht.


    Nach alledem ist die Vorgehensweise, Sophie Ungemach zu bereiten, der Marschallin lebensfremd. Sie ist keine, die um die Liebe kämpft.


    Falsch wäre allerdings der Eindruck, an dieser Stelle zeige sich eine allgemeine Prinzipienlosigkeit, eine gar unchristliche Beliebigkeitslehre, der eine gewisse Flatterhaftigkeit innewohne. Als die Marschallin sich am Ende des ersten Aufzugs von Octavian verabschiedet, sagt sie:


    „Ich werd' jetzt in die Kirchen gehn, und später fahr' ich zum Onkel Greifenklau, der alt und gelähmt ist, und ess' mit ihm: das freut den alten Mann.“


    Oben ist der erste Teil dieser Stelle bereits angesprochen worden. Die Marschallin ist gläubig. Sie geht in die Kirche (erst wird gevö…, dann gebeichtet). Für sie ist der Kirchgang aber nicht nur gesellschaftliche Pflicht, sondern, wie am zweiten Teil des Zitats deutlich wird, sie lebt tatsächlich christliche Nächstenliebe.


    2) Ich kreide der Marschallin an, dass sie den Baron Ochs bei seiner Geldheirat unterstützt, obwohl sie das moralisch korrupte dieses Vorgangs erkennt. Theophilus hingegen meint, die Marschallin tue nur das absolut Nötige, er meint, dass die Marschallin nur soviel Hilfestellung gebe, als sie aus dem Handgelenk ohne den geringsten Aufwand zu geben vermöge


    Schauen wir genauer hin:


    Baron Ochs platzt hinein. Die Marschallin komplimentiert ihn nicht hinaus, sondern unterhält sich mit ihm. Och fragt nach einem Rosenkavalier. Die Marschallin erteilt ihm keine Abfuhr, sondern überlegt, wer aus der Verwandtschaft geeignet wäre. Sie schlägt sogar von sich aus vor, sich mit Ochs am nächsten Tag zum Abendessen zu treffen, um ihm dort einen zu proponieren. Von sich aus fragt sie zudem, ob sie noch weiter dienlich sein könne. Ja, sie kann. Ochs benötigt einen Notar. Die Marschallin verweigert sich dem nicht, sondern schickt sofort nach ihrem eigenen.


    Ich meine, das ist mehr als das absolut Nötige.


    3) Ich räume bereitwillig ein, in meinem Eröffnungsbeitrag zu weit gegangen zu sein, indem ich feststellte: „Das Positive an der Feldmarschallin ist Fassade. Nimmt man die Schminke weg, bleibt nichts übrig.“ (diese Pointierung war bewusst aufmerksamkeitserheischend)


    Mir ging es nicht um die Behauptung, die Marschallin sei eine dumme, oberflächliche Sünderin, der Glanz nur Fassade. Das wäre auch in meinen Augen deutlich falsch.


    Sondern ich wollte aufzeigen, dass die Marschallin bei weitem nicht so gut und weise (und alt) ist, wie sie üblicherweise dargestellt wird. Beispiele genug gibt es, so meine ich dargelegt zu haben, die deutlich machen, dass die Marschallin auch nur ein Mensch ist, und zwar mit all der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit (danke für diese Begriffe), die einen normalen Menschen ausmachen.


    Mit dieser Herunterholung der Marschallin vom Thron fühle ich mich im Übrigen sehr nahe bei Hofmannsthal. Dieser wollte die Marschallin offenbar ebenfalls nicht eindimensional gut verstanden wissen, eröffnet er doch das Libretto mit den Octavian in den Mund gelegten, auf die Marschallin bezogenen Worten:


    „Wie du warst! Wie du bist! Das weiß niemand, das ahnt keiner!“


    Viele Grüße
    Thomas


    Nachtrag: Lieber Waldi, erst jetzt habe ich deinen Beitrag gesehen. Sehr lehrreich finde ich, was du zur Brief, Fremdgehen und Silberner Rose schreibst. Nur kurz:


    zum Brief habe ich tatsächlich bislang nicht bedacht, dass die Übergabeform bereits für sich spricht.


    zum Fremdgehen habe ich mich oben bereits geäußert. Mich stört nicht, dass die Marschallin fremdgeht. Ganz frei scheint es in der Ehe trotz deiner Ausführungen nicht zuzugehen. Sonst wäre die Angst vor dem Erwischtwerden nicht zu erklären.

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  • Lieber Thomas,


    Wie es scheint, sind unsere Ansichten (gemeint sind jetzt nicht nur Du und ich) im Grund ziemlich nahe beisammen und nähern sich in der Diskussion einander weiter an. Ich finde es großartig, daß Du diesen Thread begonnen hast. Das war wirklich eine echte Lücke bisher.


    LG


    Waldi

  • Verstehe ich auch nicht, dass es den überhaupt noch nicht gab, aber um so besser jetzt.


    Lieber Waldi,


    Du hast völlig Recht. Eigentlich sind wir uns in unseren Ansichten alle ziemlich nah, allerdings bei merklichen Unterschieden in der Bewertung. Das ist ja auch kein Wunder, den Hofmannsthal hat sich erfolgreich jede erdenkliche Mühe gegeben, nur wenig Missverständnisse aufkommen zu lassen.


    Deshalb fällt es mir wieder einmal ganz leicht, mit Dir ungeschauter einverstanden zu sein. Und geschauter auch.


    Mal sehen, ob das bei der Bewertung des Octavian genaus so ist, denn da sehe ich eigentlich größeres Konfliktpotenzial.


    Mehr dazu, wenn es so weit ist. Ich muss für heute mal wieder aus der Diskussion aussteigen.


    :hello: Rideamus

  • Ich habe ebenfalls das Gefühl, wir nähern uns in dieser sehr interssanten Diskussion mehr und mehr aneinander an-was ja bereits ein grosser Erfolg der Diskussionskultur ist! :jubel:
    Ich nehme dank der sehr einfühlsamen hiesigen männlichen Blicke auf die Marschalllin auch Einiges an feministisch angehauchter Schärfe zurück.
    Und ich möchte sagen, dass es mich sehr froh macht, solche sensiblen Statements von den Herren hier zu lesen! :jubel: :jubel: :jubel:
    Euch könnte man jeden weiblichen Quinquin samt Sophie bedenkenlos anvertrauen! :]



    Was ich sehr interessant finde, ist Thomas These von der Bindungsunfähgkeit der Marschallin und das dazugehörige Textzitat. Das ist ein wichtiger Puzzlestein mehr in der vielschichtigen Motivation des Verzicht-Motiv.
    Wenn man von moderner Psychologie ausgeht, würde die Marschallin also durch ihr Handeln eine Situation vermeiden, die sie besonders fürchtet. Nämlich die Bindung.
    Ic hglaube eher, dass sie nicht die Bindung ,sondern vor allen Dingen den Schmerz des Verlassenwerdens vermeiden will.
    Da sie bereits gebunden ist, ist das Wort Bindungsangst ohnehin relativ zu sehen.
    Bindungsangst ist letztlich auch Angst, verlassen zu werden und Schmerzen ertragen zu müssen. Wer den Schmerz flieht,will nicht mehr lieben, denn ohne Schmerz gibt es leider nur die Oberfläche oder das Unverbindliche.
    Im Wissen dass die Beziehung zu Octavian enden muss und wird und in der Angst, zu sehr daran zu leiden, inszeniert die Marschallin also quasi selbst das Ende des Ganzen? Natürlich leidet sie trotzdem, aber der Schmerz war wenigstens berechenbar und sie behält die Fäden in der Hand und kann sich ausserdem noch edelmûtig dabei vorkommen. Wie wir sehen, geht die Rechnung ja auf...... ;)
    Ein bestechend logischer Gedanke, den ich hervorragend nachvollziehen kann.
    Dennoch nicht immer zur Nachahmung zu empfehlen, meine ich ganz subjektiv


  • Zitat

    Original von Fairy Queen
    Euch könnte man jeden weiblichen Quinquin samt Sophie bedenkenlos anvertrauen! ]
    [/img]


    Liebe Fairy,


    Natürlich kann ich nur für mich sprechen, aber wenn Du das wirklich glaubst, dann mußt Du zurück ins Fach der jugendlichen Naiven. Mir :evil: diese beiden unschuldigen Wesen überzugeben, ergäbe mindestens ein tragisches Verdiopus postumus. Erkenne Samiel hinter der Wiener-Operetten-Maske!


    Wo gibt's einen lefzenleckenden Smiley?



    LG


    Waldi-Satanas-Luzifer-Beelzebub-Astaroth-Mephistopheles

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  • Bei der Recherche über den Spätbarock/Rokoko ist mir diese interessante Seite aufgefallen:


    "www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_litgesch/barock/litge_barock_5.htm".


    Da fand ich dann auch ein interessantes Zitat aus der Egon Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit":


    Zitat

    "Nur keine Langeweile!" ist die Richtmarke, an der sich alle gesellschaftlichen Aktivitäten orientieren müssen. Ebenso eindeutig wie man sich unter keinen Umständen langweilen will, strebt man danach "das Leben zu einem ununterbrochenen Genuss zu machen. [...] man will sich delektieren, ohne die Kosten zu bezahlen. Man will die Früchte des Reichtums genießen ohne die Strapazen der Arbeit, das Glanzlicht der sozialen Machtstellung ohne ihre Pflichten und die Freuden der Liebe ohne ihre Schmerzen"


    (...) Indem die gesamte Erotik ein "graziöses Gesellschaftsspiel" wird, wird auch die Liebe selbst "zum Liebhabertheater, zu einer abgekarteten Komödie, in der alles vorhergesehen und vorausbestimmt ist: die Verteilung er Fächer, die der Dame immer die Partie der kapriziösen Gebieterin, dem Herrn die Rolle des ritterlichen Anbeters zuweist; die Rede und Gebärden, mit denen man die einzelnen Stationen: Werbung, Zögern, Erhörung, Glück, Überdruss, Trennung zu markieren hat. Es ist ein komplettes, durch lange Tradition und Kunst geschaffenes Szenarium, worin alles seinen konventionellen Platz hat und alles erlaubt ist, nur keine 'Szenen'; denn seinem Partner ernstliche Erschütterungen bereiten zu wollen, hätte einen bedauerlichen Mangel an Takt und Erziehung bewiesen.".


    Wenn Friedells Charakterisierung des Liebesabenteuers im Rokoko richtig ist, dann steckt hinter der Beziehung Octavian-Marschallin doch weit mehr als bloß ein erotischer Zeitvertreib. In der von Thomas zitierten Szene, wo es die Marschallin sich und ihrem Liebhaber "leicht" machen will, hätte zumindest die Marschallin wesentlich kühler und routinierter auf die Vorwürfe Octavians reagiert und ihn auf die gesellschaftlichen Konventionen íhres Standes hingewiesen, wenn das für sie nur das übliche "Spiel" gewesen wäre. Sie empfindet viel für ihn, aber versucht gerade deshalb, ihn (und sich) vor den Folgen allzu tiefgehender Gefühle zu schützen. Denn sie weiß, dass eine wirkliche Liebesbeziehung zwischen ihnen beiden jenseits der gesellschaftlich akzeptierten Spielregeln undenkbar ist. Scheidung und Wiederheirat sind zu dieserZeit jedenfalls gar nicht möglich, dafür müsste sie schon Witwe werden. Überhaupt frage ich mich, was genau sie an Octavian (neben dem "Frischfleisch"-Aspekt) so anziehend findet. Die (noch nicht ausgereifte) Persönlichkeit des "Bub" wird es wohl kaum sein, wohl eher seine ungestüme Leidenschaftlichkeit, seine Bedingungslosigkeit und Entschiedenheit, mir der er auftritt. Er gibt ihr damit selbst das Gefühl, noch einmal jung zu sein und so kann sie ihre eigene Vergänglichkeit zumindest für den Augenblick vergessen.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Lieber GiselherHH,


    Du hast bei der Marschallin ganz recht! Ich würde das aber weniger auf Egon Friedell zurückführen. Seine "Kulturgeschichte" ist zwar großartig geschrieben, aber man darf sie nicht immer so wörtlich nehmen. Da steht viel drin, was um des Ausdrucks willen in der Sache vereinfacht. Friedell wußte das zweifellos selbst. Manches hat er genial komprimiert, manches liest sich mehr als Gag bzw. ist so nicht haltbar (bitte mich nicht falsch zu verstehen, dieses Werk und sein Autor faszinieren mich). Man darf nicht vergessen, daß das Spätbarock auch das Zeitalter der Empfindsamkeit ist, das "graziöse Gesellschaftsspiel" ist nur ein Teil der Wahrheit. Und namentlich Wien kann nicht mit Versailles in einen Topf geworfen werden. Hier bereitete sich schon der Josephinismus vor. Wenn Octavian und Sophie altern, sind sie mitten in der Aufklärung und der Frühromantik. Octavian dürfen wir - nicht zuletzt durch den Einfluß der Marschallin - doch eine Entwicklung zutrauen, der Idealismus und Überwindung von Standesvorurteilen wenigstens teilweise nicht fremd sind. Der "Bub" ist in der Oper zwar schon ein Mann, aber kein fertiger - er kann noch geformt werden. Daß ihn die leichtfertige Denkweise des Ochs abstößt, dürfte nach den Ereignissen klar sein, daß er Humor, Mut und liebenswürdige schauspielerische Begabung besitzt, auch. Und daß er sich zuerst in die Marschallin "verliebt", deutet zumindest darauf hin, daß er es nicht mit der zweifelhaften jeunesse dorée dieser Jahre getrieben hat. Da hat wahrscheinlich auch seine Familie ein bisserl achtgegeben, daß er im Rahmen bleibt. Ein Gspusi mit der Fürstin hat sozusagen Niveau und ist standesgemäß, solange die Sache heimlich betrieben wird. - Oha, da bin ich unwillkürlich schon in die Octavianerei gerutscht...


    LG


    Waldi

  • Lieber Waldi, vielleciht der hier?



    Aber ich glaub dir kein Wort!!!! Statt mal ein ehrliches Kompliment generös und stolz geschwellt anzunehmen, musst Du gleich wieder tiefstapeln... das zeigt aufs Neue genau, was du für ein wohlerzogener feiner Gentleman bist! :baeh01: Und was das naive Fach angeht: war ich jemals woanders????????



    Aber nochmal zu Giselhers Frage, was eine Marschallin an ienem Octavian findet. Dasselbe was der Herr mit den grauen Schläfen an seiner 25 jährigen Lolita.
    Die Illusion, einen Jungbrunnen in den Armen zu haben. Die Schönheit des Frühlings, das Unverbrauchte, dem Leben gegenüber noch nicht Abgestumpfte. Das ungestümte Temperament und die romantische Verliebtheit. Und das Gefühl, noch begehrenswert zu sein-für eine Frau im mittleren Alter und seinen Krisen besonders erfreulich. Vielleicht auch eine Art verdeckter "Mutterinstinkt" und die Freude daran, einen jungen Menschen in die Liebe einzuführen Und natürlich ist ein junger Liebhaber auch rein physisch nciht so ganz uninteressant.
    Gründe gibt es sicher genug, es reicht auch schon , sich einfach in die umgekehrte Situation hereinzuversetzen.


  • Liebe Fairy,


    Du hast völlig Recht, aber eine kleine Korrektur ist vonnöten:


    Lolita war höchstens 15 (eher weniger), sonst wäre das Buch nicht so ein Skandal gewesen. So passt es auch besser zum ROSENKAVALIER.


    Lieber Thomas,


    können wir dann zu Octavian übergehen?


    Ich freue mich schon auf Deine Vorstellung von ihm.


    :hello: Rideamus

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