Es ist alles ein Drama: Moderne Dramen - aber welche?

  • mich interessieren z.zt. verstärkt wieder dramen. bis zur 'klassischen' moderne bin ich gut versorgt, aber ab ca. 1950? ?(
    was ist eurer meinung nach zu empfehlen. wobei ich gerne den augenmerk auf zeitgenössisches gelegt hätte... z.b. botho strauß etc. ..und weniger dürrenmatt. auch kurze begründungen sind gefragt ;)


    ich bin gespannt... :hello:...

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Jean Genet (1910 - 1986)


    Le balcon


    Drame en neuf tableaux (1956)



    Das am häufigsten gespielte Schauspiel Genets wurde 1957 in London uraufgeführt. Ort der Handlung ist ein Bordell, der „Balkon“. Hier können die Besucher ihren Trieb ausleben, eine Rolle spielen, die ihnen das reale Leben vorenthält. Vor den Fenstern des Etablissements tobt inzwischen die Revolution derjenigen, die nichts als das reale Leben wollen, die aber gewahr werden, dass sie gleichfalls einer Illusion nachjagen: Realität und Traum verschmelzen.


    Wunderbar pervers und sehr unterhaltsam!


    Der Balkon wurde 1957 in London unter Peter Zadek uraufgeführt. Genet sprach sich während einer Probe so deutlich gegen die Inszenierung aus, dass er Theaterverbot bekam. In Frankreich konnte das Stück erst 1960 aufgeführt werden.




    In dem Stück konnte man mich 1993 im Stadttheater Krefeld bewundern. Sechs junge Männer der Statisterie lagen nackt in Zinksärgen in einem Mausoleum.


    Davidoff

    Verachtet mir die Meister nicht

  • Tankred Dorst:


    Merlin oder Das wüste Land (1981)


    Ein wundervolles Stück Welttheater, in dem der Artus-Stoff herrlich gegen den Strich gebürstet und für das 20. (und 21. Jahrhundert) ausgeleuchtet wird. Bildgewaltig, spritzig, tiefernst und witzig, mythisch und zugleich nüchtern. Gewidmet ist das Stück übrigens Peter Zadek...


    Interessant sind ganz allgemein auch die Theaterarbeiten des 1944 geborenen Stefan Schütz (u.a. Die Seidels (Groß und Gross), Monsieur X oder die Witwe des Radfahrers, Spectactle Cressida, Stasch I + II).
    Heiner Müller muß man wohl nicht eigens erwähnen. ;)


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Lieber klingsor,


    ich gehe mal ganz nahe an Deine Zeitgrenze heran.




    Arthur Asher Miller (1915 – 2005)



    “Hexenjagd” (“The Crucible”), 1952



    Das Drama bezieht sich auf zwei historische Ereignisse.


    Die Szene ist in Salem, MA, am Ende des 17. Jahrhunderts.
    In der puritanischen amerikanischen Kleinstadt kommt es zu einer Anklage einiger junger Frauen wegen einer gesellschaftlichen Verfehlung. Die Mädchen drehen unter dem Einfluss einer Anführerin, die aus sehr privaten Gründen handelt, den Spieß um und beschuldigen ihrerseits unbescholtene Mitbürger, sie zu ihrem Tun getrieben zu haben, da diese mit dem Teufel im Bunde stünden.
    Die Sache eskaliert, es kommt zum Schauprozess und etlichen Hinrichtungen, die Hauptschuldige entzieht sich der Verantwortung.


    Millers eigene Erfahrungen während der Kommunistenhatz in der McCarthy-Ära sind autobiographisches Moment im Stück, das zeitlos und allgemeingültig steht für Ausnutzung von Kleingeistigkeit und Glaubensblindheit aus niedrigen Beweggründen.







    audiamus



    .

  • Lieber Klingsor,
    in welche Richtung soll's denn gehen, (Tragödie, Komödie...), oder ist deine Frage ganz allgemein gestellt?
    Ich mag aktuell die Dramen von Jasmina Reza sehr, ich nenne jetzt als Beispiel "Kunst" ( 1994 in Paris uraufgeführt, mit dem Prix Moliere ausgezeichnet).
    Es geht darin um die Freundschaft dreier Männer, die auf eine harte Probe gestellt wird, als sich der eine ein modernes Gemälde "Weiß mit weißen Streifen" kauft. Die Frage an die Freunde, wie ihnen das Kunstwerk gefällt, bringt nicht nur Weltanschauungen ins Wanken, sondern fördert auch tief schlummernde Ressentiments zu Tage. Das ganze wird witzig, spritzig, mit einem Schuss Ironie abgehandelt, aber nicht ohne Tiefgang, geht es doch letztendlich um die Gretchenfrage "Wie hältst du's mit der Kunst?" bzw. was ist "wahre Kunst". Mich und meine Freunde hat dieser Theaterabend nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken gebracht und hinterher eine stundenlange Debatte ausgelöst.
    lg Severina :hello:

  • Liebe severina,


    zu dem Thema "Sinn und Unsinn moderner Kunst" gibt es auch ein sehr witziges Stück von Ephraim Kishon:
    "Zieh den Stecker raus, das Wasser kocht", 1965.
    Ein junger israelischer Künstler baut aus Verlegenheit - die einzige Steckdose seiner Bude befindet sich an der Decke - eine Möbelkonstruktion, um seinen Tee kochen zu können, diese wird von einem Kunstkritiker "entdeckt" und der arme Junge kommt ganz groß raus.


    Aber schaumermal, ob klingsor nicht wirklich dramatische Dramen wünscht.


    Gruß,



    audiamus



    .

  • Lieber Audiamus,


    ja, das kenne ich, köstlich! Ich hab's aber noch nie auf der Bühne gesehen. In meiner Buchausgabe heißt es übrigens "Picasso war kein Scharlatan", aber es handelt sich wohl um dasselbe.


    Ein Stück, das ich auch sehr liebe und in dem es unter anderem um das Wesen der Kunst geht, ist Tom Stoppards "Travesties" (Uraufführung 1974) Diese britische Autor wurde in den Siebzigerjahren bei uns häufig aufgeführt (meist fanden seine deutschsprachigen Erstaufführungen in Wien statt) und scheint momentan leider in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei hattte der Mann eine echte Theaterpranke! "Travesties" habe ich so oft gesehen, dass ich mühelos hätte für den Souffleur einspringen können.
    Es geht darum um ein fiktives Zusammentreffen dreier Revolutionäre in Zürich, die ihr Lebenslauf tatsächlich in diese Stadt geführt hat, ohne einander dort aber begegnet zu sein. Lenin, der politische Revolutionär, Tristan Tzara, einer der Begründer des Dadaismus, und James Joyce, der mit seinem "Ulysses" die Literatur revolutioniert hat. Zusammengehalten wird alles von der Person des britischen Konsularbeamten Henry Carr, der als alter Mann selbstironische Reminiszenzen an seine glanzvolle Zeit in Zürich heraufbeschwört. Außerdem persifliert Stoppard Oscar Wildes "The Importance of Beeing Earnest" (Deshalb der Titel!) und bringt noch eine Fülle weiterer Anspielungen unter - jeder Theaterbesuch brachte neue Entdeckungen! Die witzigen, schlagfertigen und höchst originellen Unterhaltungen der drei Revolutionäre regten Hirn und Lachmuskeln gleichermaßen an. Ein Theaterstück, wie es wirklich nur die Engländer zu Stande bringen!
    "Die Kunst wird von den Künstlern auf absurde Weise überschätzt, das kann man noch verstehen, aber das seltsame ist - sie wird auch von allen aneren Leuten absurd überschätzt." (Henry Carr)


    lg Severina :hello:

  • Liebe severina,


    ein offensichtlich lohnender Tip.
    Von Stoppard meinerseits zu empfehlen:
    "Rosencrantz and Guildenstern Are Dead" ("Rosenkranz und Güldenstern"), 1966, sowohl als Schauspiel als auch als kongeniale Filmadaptation mit Tim Roth und Gary Oldman mehr als sehens-/lesenswert.
    Wer hier des Englischen mächtig ist und ein wenig den Hamlet kennt, darf sich auf ein hochintelligentes Feuerwerk aus Wortspielen, Andeutungen und philosophischen Einfällen freuen.


    Hamlet aus der Sicht der beiden unlauteren Studienkollegen, die hier ungewollt in das ganze dramatische Geschehen stolpern.


    Genial!



    Gruß,



    audiamus



    nb: Ist das Picasso-Buch von Kishon nicht eine Satiren-Sammlung? Ich glaube, das sind zwei paar Stiefel.

  • Lieber Audiamus,


    ich habe noch einmal nachgeschaut, mit dem Titel des Kishon-Stückes hast du natürlich Recht. In "Picasso war kein Scharlatan" wird es von einem Vorwort und einem Bildanhang ergänzt, wo Kishon seine damals sehr umstrittenen kunsttheoretischen Ansichten erläutert. (Ich erinnere mich noch gut an eine hitzige TV-Debatte mit ihm und Befürwortern bzw. Gegnern seiner Thesen)
    lg Severina :hello:


    PS: "Rosenkranz und Güldenstern" kenne ich - köstlich! - ich war damals ein ausgesprochener Stoppard-Fan, mein Lieblingsstück war und ist aber "Travesties".

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  • Zitat

    Original von klingsor:
    ..und weniger dürrenmatt


    Hallo Klingsor, man hat Dürrenmatt das Schlimmste angetan, was einem Schriftsteller widerfahren kann: Seine Werke wurden zur Pflichtlektüre in Schulen.


    Aber vielleicht sind es ja nicht frustrierende Erfahrungen der Schulzeit, sondern andere Beweggründe, die Dir wenig Lust auf Dürrenmatt machen. Dann bitte: Nichts für ungut! :stumm:



    Ich habe - 25 Jahre nach meinem Abitur - wieder mit der Lektüre von Romanen und Erzählen, vor allem aber der Dramen Dürrenmatts begonnen. Eine hochspannende, witzige, tiefsinnige, verrückte und sprachlich kunstvolle Lektüre.


    Besonders gut gefallen haben mir Romulus der Große (Ein Held, der auf alles nervige und anstrengende Heldentum verzichtet, damit andere irritiert und verärgert, und damit etwas Menschliches erreicht ...) Ein Engel kommt nach Babylon (Die Götter schicken ein himmlisches Wesen auf die Erde, aber Götter und Menschen sind nun einmal nicht kompatibel - eine Art Weihnachtskomödie auf Dürrenmatt) ... und Der Meteor (Einer stirbt und steht wieder auf vom Tod - aber mit seiner Auferstehung kann der unausstehliche Schriftsteller nichts anfangen. Er will sterben, und mit seiner Vitalität befördert er alle anderen in den Tod. Sehr witzig: Der Pfarrer, der die Auferstehung der Toten predigt, stirbt vor Schreck, als sich dieses Wunder wirklich ereignet ...).



    Freundliche Grüße, Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • also, zunächst einmal herzlichen dank für die vielfältigen vorschläge. ich werde mich da mal bei den genannten tragödien und komödien umschauen und mir einiges zu gemüte führen. :yes:


    und, andrew, dürrenmatt habe ich nur genannt, da ich schon einiges von ihm kenne (und schätze). mich dürstet es nach gutem und mir bislang unbekanntem.


    gerne noch mehr ... :D:yes:


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Hallo Klingsor!


    Gerade habe ich diesen thread entdeckt, über den wir kurz beim Frankfurter Treffen sprachen.
    Ab 1950 kenne ich mich auch kaum aus. Ich kann eigentlich hauptsächlich die Namen nennen, die jeder nennen würde (Beckett, Ionesco, Bernhard, Dürrenmatt, Williams) - aber von denen wolltest Du ja nichts wissen...


    Zum einen gibt es da noch ein paar durchaus interessante Dramen mit Tiefgang, die recht schnell populär wurden, da sie auch für den Durchschnittstheaterbesucher interessant sind (was keine Abwertung sein soll!!) - z.B. "Der Tod und das Mädchen" von Ariel Dorfman (1991) oder das erst vor ein paar Jahren entstandene Drama "Der Beweis" von David Auburn.


    Ein Geheimtipp von mir ist "Die Unvernünftigen sterben aus" von Peter Handke (1974). Es sit wohl das Handke-Theaterstück, das auch tatsächlich am meisten nach einem Theaterstück aussieht. ich hatte es vor Jahren im TAT gesehen und war positiv überrascht.


    Oder lies mal was von Harold Pinter oder Dario Fo und überprüfe, ob sie den Nobelpreis auch verdient haben (Dein Bericht würde mich interessieren)...


    Viele Grüße,
    Pius.