Marc: Unverzichtbare Klassikaufnahmen

  • "Unverzichtbare Klassikaufnahmen"
    zu bennen und zu beschreiben ist vielleicht eine der schönsten Tätigkeiten innerhalb dieses Forums, weil man dabei -soweit und in welche Richtung man will- ausholen kann, und sich dadurch eine Schwierigkeit ergibt, die eher angenehm ist und gar nicht abschreckend.
    Daher frage ich mich, warum ich mich nicht früher dazu entschlossen habe, diese Möglichkeit auch wahr zu nehmen. Vielleicht liegt es daran, dass man sich hierzuforum irgendwie genötigt fühlt, möglichst entlegene Aufnahmen in noch entlegeneren Interpretationen vorzustellen.


    "Das selten aufgeführte Kantaten-Fragment für Alt und Ophikleide, Ondes Martenot und Orff'sche Instrumene des großen aber vergessenen Vladimir Spiridonowitsch, der Zeit seines Lebens im Schatten des publikumswirksameren Boris Beresowski stand!"


    Aber wie so oft sind die Gründe dafür vermutlich viel trivialer.
    Jedenfalls: da ich momentan kein Ventil habe, um meine beinahe neurotische Fabulierlust zu befriedigen, ist es eine gute Gelegenheit nun zu beginnen!

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!


  • ADD, 1961



    ADD, 1963 - 1978


    Karl Richter war und ist schon immer mein absoluter Lieblings Bach-Dirigent gewesen!


    Ich liebe seine Interpretationen, den Rückgriff auf ein modernes Instrumentarium, die große Besetzung, den warmen, den wärmenden Klang und den Mut zur Emotion: Der resignierte Kirchhofsfrieden des Crucifixcus: Sepultus est, sepultus est… und dann das ebenso romantisierte Triumphieren des Chors:
    ET RESURREXIT! UND AUFERSTANDEN!
    Und FiDi in der anschließenden Bass-Arie. Da erträgt man sogar die Oboe d'amore mit christlicher Feindesliebe.


    Auch vorher viel bewegendes, unerreichtes. Das Kyrie, Et in terra pax, das Duett "Domine deus" (Stader, Haefliger) später das herrliche Credo: Und dort, wo z.B. Jacobs an gregorianischen Mönchsgesang, begleitet nur mit Streichern, erinnert, zelebriert Karl Richter das Frohlocken der Christenheit mit atembeschlagendem "Drive"!
    "Und seid nicht bekümmert, denn die Freude am HERRN ist eure Kraft." (Nehemia 8, 10)
    Oder um es mit Luther (Bach besuchte sogar die gleiche Schule wie er!) zu sagen:
    "Wohlan denn Teufel, leck mich doch! Ich kann dir jetzt nicht dienen, denn ich muss reiten, fahren, trinken, dies und das. Denn ich muss jetzt gar fröhlich sein. So komm doch einfach morgen wieder!"


    Im übrigen sollte man Richter nicht auf eine Stufe mit faulen Pultesoterikern stellen, nach derem vulgären Verständnis von Tiefsinn und Religion eine metaphysische Erhabenheit einfach dadurch zu erreichen sei, dass man die Tempi dehnt, streckt und den Orchesterklang in einem nebeligen Weihrauch-Klang verschleiert. (Wobei man Weihrauch bei Bach ohnehin nicht finden wird.) Das wäre genauso falsch, als würde man die Interpretation von Karajans "Nibelungen" mit der von Boulez gleichsetzen, weil beide ähnliche Tempi bevorzugen.


    Aber: wo man sich durch die schroffe und gewalttätige Interpretation eines Harnoncourt eher in die Zeit der Pest und der Cholera zurückversetzt glaubt, fühlt man bei Richter den herbstlichen Frieden jener heiligen Epoche, in der sich die Menschen noch unter dem Flügel eines Erzengels beschützt wähnten.


    Nous voulons quelque chose comme une fidélité,
    Comme un enlacement de douces dépendances,
    Quelque chose qui dépasse et contienne l'existance;
    Nous ne pouvons plus vivre lon de l'éternité.*


    Gleiches gilt auch für die bewegende Kantate Wachet auf, ruft uns die Stimme BWV 140.
    Wo andere Dirigenten, vorallem jene, die angebliche "Authenzität" erreichen wollen, den herrlichen Eingangschoral mechanisch hinunterpinseln und sich einbilden, dass ihre historische Glaubwürdigkeit nur steigen würde, wenn sie keinen Raum mehr für Emotion, Gefühl und die Kombination von musikalischer Komplexität und dem pazifierenden Glauben an den dreieinigen Gott lassen, zelebriert ihn Richter beinahe zehn Minuten lang und zeigt dabei Strukturen auf, die bei der säkular-sektiererischen HIP-Junta sprichwörtlich un-erhört bleiben.


    So sollte also im Namen Zions, im Namen Isaaks Schrecken jeder Dirigent, der für den Eingangschoral weniger als zehn Minuten braucht, die verbleibende Zeit nach seinem irdischen Ableden im Fegefeuer schmoren, auf dass er gereingt werde.





    *Wir möchten so etwas wie eine Art Treue,
    Wie ein Geflecht aus süßen Abhängigkeiten,
    Etwas, das über das Dasein hinausgeht und es birgt;
    Wir können nicht mehr leben fernab der Ewigkeit
    (Houellebecq, La Poursuite du Bonheur, Flammarion, Paris, 1997)

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!


  • ADD, 1967 - 1975


    Wer eine Meinung bezüglich der Klaviersonaten des Edlen von Sauschwanz besitzt, der neigt zumindest meiner Erfahrung nach zu einer von zwei möglichen Reaktionen, wenn jemand (wie ich) seine große Liebe für die Interpretationen des Glenn Goulds bekennt.


    Nach einer dieser Meinungen kann es sich bei dem Freund jener wohl exzentrischen Einspielungen nur um einen jungen Mann handeln, der an diesen auch außerhalb der Klassikgemeinde recht bekannten Pianisten geraten ist, folglich noch nicht in den Genuß jener erhabenen Reife einer Brendel'schen Interpretation gekommen ist, und so würde ihn quasi durch diese kanadische Nähmaschine hindurch etwas Größeres ins Auge schauen, das selbst Mister Gould nicht zu vernichten imstande ist, obgleich es sein erstrebtes Ziel gewesen sei.


    Nach der zweiten Ansicht gleicht die Äußerung, man würde das Spiel Glenn Goulds dem Herzeleid eines Horowitz oder dem bescheidenen und genügsamen Genius eines Badura-Skoda vorziehen, nicht mehr als einer gewollten Provokation - vergleichbar etwa mit dem jugendlichen Liebhaber Bukowskis vulgären Humors, der diesem auch im Streit mit seinen aufgeklärten Eltern den Vorzug gegenüber dem intellektuellem Zynismus eines Henry Millers oder dem angelsächsischen Machismo Ernest Hemingways den Vorzug gibt.


    Daher scheint es angebracht zu sein, zunächst das erste Vorurteil beiseite zu räumen, dem zu Folge Mister Gould die heftigste Abneigung gegenüber Mozart empfinden würde. Allerdings betonte er ebenfalls, dass er "von zwei Ausnahmen abgesehen" kein Opernfan sei: "Mozart und Richard Strauss, die ich beide liebe". Ausserdem bekundete er seine größte Sympathie für die ersten sechs Sonaten, die -oh Wunder- zu den besten der Interpretationen auf dieser Sammlung gehören. Aber auch die Sonaten Nr. 7 und Nr. 9 sind mit einem solchen Freudentaumel gespielt, dass sie eine beinahe hypnotisierende Glückseligkeit entwickeln, der man sich gar nicht entziehen kann.


    Die Interpretationen, obgleich innerhalb eines Zeitraums von acht(!) Jahren eingespielt, zeigen doch typische Merkmale: in der linken spielt Gould sehr rhytmisch, sehr markant: teilweise tänzelnd, teilweise derb (er war Linkshändler), in der Rechten kristallklar, überaus präzise und mit seufzelnder Emotion, und seufzelnd heisst nicht heulend…
    Die Tempi sind meist rasend schnell, was einen Freund von mir einst zu der Bemerkung veranlasste, er spiele Mozart für alle, die Mozart eigentlich nicht mögen würden…
    Wie zu erwarten war ich anderer Meinung.
    Den ersten Satz der ersten Sonaten spielt er beispielsweise überaus zärtlich, lyrisch, verträumt und fast nicht mehr von dieser Welt. (Friedrich Gulda machte einen rasanten Freudentaumel daraus.)


    Man könnte Gould schlimmstenfalls vorwerfen, dass er bezüglich dieser Mozart-Interpretationen ein halber Pianist sei, weil sein Konzept, wenn ich es so nennen darf, bei den langsameren Sätzen im Mittelteil der Sonaten weniger aufgeht: da wirkt sein non-legato Spiel in der Linken teilweise krampfhaft, unangebracht scharf und es verjagt so den grüblerischen Charme dieser Stücke. Allerdings gilt dies nicht für alle der Sonaten.
    Das berühmte "[Rondo] Alla turca" beispielsweise spielt er als einer der wenigen wirklich wie ein Allegretto und nicht wie einen effektheischenden Hindernislauf!



    Summa, wir haben es hier mit der beeindruckendsten Gesamtaufnahme der Mozartischen Sonaten zu tun, obgleich jedem potentiell Interessierten klar seien sollte, dass Glenn Goulds Spiel der vermeintlichen Wahrheit der historischen Aufführungspraxis diametral entgegensteht. Wer, womöglich noch mit Noten in der Hand, nachhören möchte, was genau Wolfg: Amadé Mozart schrieb, der greife besser zu einer anderen Aufnahme.


    Wer sich allerdings nach der Fahrt in einer ebenso rasanten wie humorvollen Achterbahnfahrt sehnt, dem seien diese CD's mit der wärmsten Empfehlung ans Herz gelegt.
    Aliquando praetera rideo, iocor, ludo, homo sum!, Zuweilen auch lache ich, mache Spaß, spiele, bin Mensch!

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!


  • ADD, 1974


    Ein beinahe zweistündiges Monumentalwerk für Klavier.
    Zweifellos "modern" (1944), throhnt es doch weit und erhaben über allen Clichees der Moderne.
    Zärtlich, einfühlsam und in sich gekehrt - gleichsam schroff, brutal und kalt.
    Hier musiziert kein naiver Dorfgläubiger, sondern ein ebenso intellektueller wie religiöser Mensch.
    Interpretiert von niemand Geringerem als Messiaens zweiter Ehefrau.
    (Man lasse sich von der lieblosen apex-Umkleidung nicht abschrecken!)



    Es ist unbestreitbar, dass ich in den Wahrheiten des katholischen Glaubens diese Verführung durch das Wunderbare hundertfach, tausendfach multipliziert wiedergefunden habe, und es handelte sich nicht mehr um eine theatralische Fiktion, sondern um etwas Wahres.
    -Olivier Messiaen


    Christlicher Glaube an Gott bedeuet zunächst die Entscheidung für den Primat des Logos gegenüber der bloßen Materie. Zu sagen: "Ich glaube", schließt die Option ein, dass der Logos, das heißt der Gedanke, die Freiheit, die Liebe, nicht bloß am Ende, sondern auch am Anfang steht; dass er die Ursprung gebende und umgreifende Macht allen Seins ist.
    Anders ausgedrückt: Der Glaube bedeutet eine Entscheidung dafür, dass Gedanke und Sinn nicht nur ein zufälliges Nebenprodukt des Seins bilden, sondern dass alles Sein Produkt des Gedankens, ja selbst in seiner innersten Struktur Gedanke ist.
    Insofern bedeutet der Glaube in einem spezifischen Sinn Entscheidung zur Wahrheit, da für ihn das Sein selbst Wahrheit, Verstehbarkeit, Sinn ist und dies alles nicht bloß ein sekundäres Produkt des Seins darstellt, das irgendwo aufstand, aber dann keine strukturierende, maßgebende Bedeutung für das Ganze des Wirklichen haben könnte.
    In dieser Entscheidung zur gedanklichen Struktur des Seins, das aus Sinn und aus Verstehen kommt, ist zugleich der Schöpfungsglaube mit gesetzt. Er bedeutet ja nichts anderes als die Überzeugung, dass der objektive Geist, den wir in allen Dingen vorfinden, ja, als den wir die Dinge in zunehmenden Maß verstehen lernen, Abdruck und Ausdruck ist von subjektivem Geist und dass die gedankliche Struktur, die das Sein hat und die wir nach-denken können, Ausdruck eines schöpferischen Vordenkens ist, durch dass sie sind.
    (...)
    Einstein sagte einmal, dass in der Naturgesetzlichkeit "sich eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist".
    Das will doch wohl sagen: All unser Denken ist in der Tat nur ein Nachdenken des in Wirklichkeit schon Vorgedachten.
    Benedictus PP. XVI


    Mein heimliches Verlangen nach feenhafter Pracht in der Harmonie hat mich zu diesen Feuerschwertern gedrängt, diesen jähen Sternen, diesen blau-orangenen Lavaströmen, diesen Planeten von Türkis, diesen Violettönen, diesem Granatrot wuchernder Verzweigungen, dieser Wirbel von Tönen und Farben in einem Wirrwarr von Regenbögen.
    -Olivier Messiaen


    Die Erfahrung des dialogisierenden Gottes, der nicht nur Logos, sondern Dia-logos ist, nicht nur Gedanke und Sinn, sondern Gespräch und Wort im Zueinander der Redenden - diese Erfahrung sprengt die antike Aufteilung der Wirklichkeit in die Substanz als das Eigentliche und die Akzidentien als das bloß Zufällige. Nun wird klar, dass neben der Substanz der Dialog, die Relatio, als eine gleichermaßen ursprüngliche Form des Seins steht.
    Benedictus PP. XVI



    Coda:
    XX Regard de l'Église d' amour


    Wir haben in den sechs Prinzipien [der Strukturen des Christlichen] gleichsam die Elementarteilchen des Christlichen erkannt, aber muss es nicht dahinter eine einzige, einfache Mitte des Christlichen geben?
    Es gibt sie, und ich denke, wir können jetzt nach allem Gesagten, ohne in die Gefahr einer bloßen sentimentalen Phrase zu verfallen, sagen, dass die sechs Prinzipien sich zuletzt in das eine Prinzip L I E B E zusammenziehen.
    Sagen wir es grob, vielleicht sogar missverständlich: Nicht der konfessionelle Parteigenosse ist der wahre Christ, sondern derjenige, der durch sein Christsein wahrhaft menschlich geworden ist.
    (...)
    Ebenso ist zu sagen, dass im Prinzip Liebe das Prinzip Hoffnung mit anwesend ist, die den Augenblick und seine Vereinzelung überschreitend das Ganze sucht. So führt unsere Betrachtung am Schluss von selbst auf die Worte, mit denen Paulus die tragenden Pfeiler des Christlichen benannte: "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen" (1 Kor 13, 13).
    Benedictus PP. XVI



    Ich werde sagen: Ich habe diese Flamme diesen Augen gegeben, ich habe dem zweideutigen Lächeln des Mondes, dem Leuchten des Meeres, dem Samt der Pflaume diese zwei kindlichen Sterne entnommen, die sich dem Unendlichen öffnen.
    -Cecile Messiaen (geb. Sauvage)







    ( Die Zitate Messiaens sind der Wikipedia entnommen. Diejenigen Papst Benedikts seiner "Einführung in das Christentum", Kösel-Verlag, München, 2006. Originalausgabe: 1968 )

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!