Strawinskijs Les Noces - Archaische Kraft und sonst nichts?

  • „Les Noces (Svadebka) verdienen einen Platz unter den größten Meisterwerken des 20. Jahrhunderts“, schreibt Robert Craft in dem Booklet der Naxos-Ausgabe.


    „Ist das so?“, möchte ich fragen. Wie ist das Werk eurer Meinung nach heute einzuschätzen?


    Mehrfach habe ich das Stück in den letzten Tagen gehört. Es hat mich gefesselt, mit seiner archaischen Kraft überwältigt, ja, begeistert. Aber eine hinter dieser archaischen Kraft liegende Bedeutung, die einem Meisterwerk des 20. Jahrhunderts doch wohl innewohnen sollte, ist mir bislang entgangen. Gibt es sie? Oder bedarf es keiner?


    Craft schreibt, dass der Klang der Worte selbst Teil der Musik sei. Das halte ich, mit Verlaub, für normal bei Vokalwerken. Auch dass diese „Choreographischen Szenen aus Russland“ das einzige Werk neben Renard sei, in dem jeder Ritus, jedes Symbol und jede Bedeutungsebene ganz direkt seinem kulturellen Erbe entstammten, finde ich nicht sonderlich beeindruckend.


    Gut, die rein perkussive Besetzung des Stückes - vier Klaviere, siebzehn Schlagzeuginstrumente, die Instrumente nach der Vorstellung Strawinskijs übrigens mit den Tänzern auf der Bühne - ist (gewollt) abnorm und von besonderer Wirkungsmacht. Auch ist beachtenswert, dass Strawinskij sich mit diesem Stück über die Gattungsgrenzen hinweggesetzt hat (so dass ich ein wenig überlegen musste, in welche Tamino-Schublade das Werk am besten gehört).


    Nur habe ich nach mehrfachem Hören den Verdacht, hereingelegt worden zu sein. Les noces üben auf mich eine starke Sogwirkung aus. Ich werde von der Musik fortgerissen, komme sogar bisweilen in einen (schönen) rauschartigen Zustand - einen solchen, der typischerweise mit Wagner assoziiert wird. Bartok sprach diesbezüglich treffend von einem „Gefühl seltsam fieberhafter Erregung“. Solche Gefühle mit rein musikalischen Mitteln hervorrufen zu können, ist beeindruckend, sicher. Handelt es sich aber dennoch nicht nur um einen oberflächlichen Zauber, gewissermaßen um ein perfektioniertes rituelles Trommeln? Habe ich deshalb das Gefühl eines Katers? Ist das alles nicht mehr als „Showtime“?


    Im Internet findet sich zum Stück ein Zitat von Boucourechliev, das ich den Taminos nicht vorenthalten möchte, wenn es mir auch nicht viel sagt:


    „Es geht nicht um eine `Dorfhochzeit´, eine Braut, einen Bräutigam, eine Mutter, sondern um ein Ritual, das sich einiger Schlüsselfiguren bemächtigt, sie antreibt und in seiner unerbittlichen Bewegung zermalmt. Das Geschehen… geht in drei Richtungen vor sich: das Klagelied in der Form eines Trauergesangs, hier für die Betrauerung der Jungfräulichkeit, die im ersten Teil des Werks durch den Zopf symbolisiert wird (das russische Hochzeitsritual ist, richtig verstanden, ein Trauerritual); die Anrufung der gnädigen Götter und die Kanalisierung der Kraft der männlichen Fruchtbarkeit durch den Ritus und den Ablauf seiner Symbolik; schließlich das Lachen der Gemeinschaft, das immer neu die dunklen Mächte der Sexualität antreibt, die Brautleute reinigt, der Gottheit schmeichelt und sich gleichzeitig einem komplizenhaften `Voyeurismus´ hingibt, der aus Augenzwinkern, anzüglichen Kommentaren und Ausrufen besteht und so die Passionen anstachelt. Diese Elemente werden zum großen Teil vom Chor gewährleistet, einem durch seinen hieratischen Charakter wie durch seine Rolle sozusagen `antiken´ Chor, der abwechselnd als Zuschauer und als Handelnder agiert“


    Zwei Aufnahmen besitze ich:


    Die aus 1959 unter Strawinsky aus der Sammelbox und die mir deutlich besser gefallende unter Craft aus 2001:


    Welche Aufnahmen kennt und empfehlt ihr?


    Sehr gut sein soll ja die von Reuss. Zu dieser steht jedoch bei amazon, dass SACD-kompatible Hardware erforderlich sei. Andererseits ist von einer Hybrid-Sacd die Rede. Spielt die Sacd nun auf einem Nur-CD-Spieler?


    fragt freundlich
    Thomas

  • Lieber Thomas,


    Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    „Ist das so?“, möchte ich fragen. Wie ist das Werk eurer Meinung nach heute einzuschätzen?


    Leider kenne ich dieses Werk noch nicht. Ich werde mich aber in den kommenden Wochen einmal bemühen, hineinzuhören. Ich bin auf jeden Fall interessiert, zumal mir selbst kein einziges Chorwerk von Strawinskij bekannt ist.


    Zitat

    [..]
    Aber eine hinter dieser archaischen Kraft liegende Bedeutung, die einem Meisterwerk des 20. Jahrhunderts doch wohl innewohnen sollte, ist mir bislang entgangen. [..] Oder bedarf es keiner?


    Zitat

    [..]
    Solche Gefühle mit rein musikalischen Mitteln hervorrufen zu können, ist beeindruckend, sicher. Handelt es sich aber dennoch nicht nur um einen oberflächlichen Zauber, gewissermaßen um ein perfektioniertes rituelles Trommeln? Habe ich deshalb das Gefühl eines Katers? Ist das alles nicht mehr als „Showtime“?


    Die Frage scheint mir letztlich dahin zu zielen: was soll Musik ausdrücken, was soll sie in mir auslösen, welchen Genuss ziehe ich aus ihr?


    Rituelle Trommeln vermag uns mitzureißen, in einen erwähnten rauschhaften Zustand zu versetzen. Aber wieso sollte die abwertend betrachtet werden? Für mich sind es gerade diese Momente, in denen eine Musik ganz unmittelbar, ohne intellektuelle Aspekte einnehmen zu müssen, begeistert, verzückt, mitreißt. Es entsteht ein ganz und gar ehrlicher Genuss. Dieser ist es, der mich an der Musik fasziniert.
    Insofern bedarf ein Werk aus meiner Sicht auch nicht zwingend einer Aussage oder Bedeutung.


    Zitat

    Andererseits ist von einer Hybrid-SACD die Rede. Spielt die SACD nun auf einem Nur-CD-Spieler?


    Auf der Hybrid-SACD sind 2 Layer vorhanden. Eines von beiden ist ein normales CD-Layer. Das bedeutet, jeder CD-Player kann es lesen und damit auch abspielen. Daher: Ja, die Hybrid-SACD spielt auf jedem CD-Player :)


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Mehrfach habe ich das Stück in den letzten Tagen gehört. Es hat mich gefesselt, mit seiner archaischen Kraft überwältigt, ja, begeistert. Aber eine hinter dieser archaischen Kraft liegende Bedeutung, die einem Meisterwerk des 20. Jahrhunderts doch wohl innewohnen sollte, ist mir bislang entgangen. Gibt es sie? Oder bedarf es keiner?
    [....]
    fragt freundlich
    Thomas


    Hallo Thomas,


    ich kenne das Werk zwar auch noch nicht, aber den Bedeutungs"wahn" - der unbedingte philosophische Unterbau, den die Romantiker pflegten, das hat schon Debussy moniert. Was natürlich nicht heßt, daß er sich für bedeutungslose Musik stark machte, er war nur der Ansicht, daß Musik quasi zu sich selbst zurückkehren müsse, daß sie stark genug sei, für sich zu sprechen und daß sie keine "konstruierten" Unterbau braucht. Daß natürlich nicht jeder eine solche Musik schreiben kann, die nicht schnell in Trivialität abgleitet, versteht sich von selbst. Vielleicht ist es mit Strawinskijs Werk ja ähnlich?


    :hello:
    Wulf

  • Hallo, Thomas!


    Ich denke, "Les Noces" stellen ein Gegenstück zum "Sacre" dar, das sich auf naturalistischem, quasi-soziologischem Boden bewegt. In der Oper würde man vielleicht von Verismo sprechen. Statt der mythischen Elementarerfahrung steht eben das gesellschaftliche Elementarereignis.


    Strawinsky stilisiert dessen psychophysische Kraft (Freude, Spiel und Tanz) durch die Wirkung der riesigen Batterie und des ostinatohaften Chorsatzes.


    Ganz ähnlich ist es wohl bei Orff - hier wieder im Bereich des Mythischen, rein Bildhaften -, an den mich "Les Noces" von allen Werken Strawinskys am stärksten erinnert. Ob Orff das Werk kannte, weiß ich nicht.


    Besten Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Vielen Dank für eure Antworten, Thomas, Wulf und Wolfgang.


    Der Standpunkt Strawinskijs zur Bedeutungsfrage ist deutlich: Zwei Zitate aus Volker Scherliess´ Buch „Igor Strawinsky und seine Zeit“, das ich zurzeit lese, mögen das belegen:


    „Auch sonst, in den ausdrücklich als Opern bezeichneten Bühnenwerken, verzichtet Strawinskys Theatermusik auf erprobte dramatische Mittel – nicht nur auf ein so abgenutztes wie die Leitmotivtechnik, die ihm weniger aus Abneigung gegenüber Wagner und Strauss, vielmehr aus künstlerischer Überzeugung fremd bleiben musste; denn ein musikalisches Denken, so sehr es sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hatte und zunehmend duldsamer – selbst Wagner gegenüber – geworden war, stand doch zeitlebens im Gegensatz zu jeder Metaphorik in der Musik.“ (S. 71)


    Und noch deutlicher:


    "Anders als etwa die Meister der Wiener Schule, die ganz vom Brahm´schen Entwicklungsdenken und vom Wagnerschen Leitmotiv herkamen und denen, wie Berg es gern verglich, das Thema eines Musikwerkes wie der Held eines Romans schien, der verschiedene Stationen durchläuft, „Schicksal erleidend“, betrachtete Strawinsky die Musik als reines Spiel musikalischer Ideen, als „Arbeit in geistfähigem Material“ – um mit Hanslick zu sprechen. So verstanden, meint das Spirituelle nicht eine „Botschaft“, sondern die geistvolle Form. Der alte Form/Inhalt-Gegensatz (der so unauflöslich scheint, wenn er in ästhetischen Maximen auftritt und der doch in der Praxis zu den schonsten Kompromissen findet) wurde auch bei Strawinsky immer wieder zur Sprache gebracht, sei es von ihm selbst oder in Diskussionen anderer über seine Musik. Der berühmte Satz der Erinnerungen, Musik sei „ihrem Wesen nach unfähig, etwas Bestimmtes auszudrücken“, der zu häufigen Missverständnissen Anlass geboten hat, wurde von Strawinsky selbst später abgemildert; das unversöhnlich klingende Statement sei „einfach ein Weg gewesen um zu sagen, dass Musik über-personell und über-real ist. Musik“. „Musk kann etwas symbolisieren, aber sie kann nicht Ausdruck sein“ heißt es in den Erinnerungen und Gesprächen, und in seiner englischen Ausgabe von Schönbergs Briefen strich sich Strawinsky folgenden Satz als „eine der wertvollsten Äußerungen des Bandes“ an: „Musik schleppt nie einen Sinn mit sich herum, wenigstens nicht in ihrer Erscheinungsform, obwohl sie ihn ihrem Wesen nach hat.“ Das Fazit aller entsprechender Äußerungen: Strawinsky wehrt sich gegen die Auffassung, in der Musik etwas Außermusikalisches zu suchen.“ (S. 131)


    Ich selbst meine, dass Musik eine außermusikalische Bedeutung haben kann – wie könnte ich das als Schostakowitsch-Verehrer auch anders sehen? – aber nicht muss. Mir fällt allerdings auf, dass allgemein anerkannte Meisterwerke sehr oft über das rein Musikalische hinausweisen (z.B.: Beethoven 3, 5, 9, Schostakowitsch 5, 7, 8, 10, Mahler 2, 9, Bruckner 7, 9).


    Mit diesen Gedanken hörte ich Les Noces. Ganz im Sinne von Thomas wurde ich begeistert, verzückt, mitgerissen, hatte ich Spaß. Alles gut also? Eigentlich schon. Nur las ich dann im Naxos Booklet Crafts Wort von Les Noces als eines der größten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Diese Bezeichnung hielt und halte ich für überzogen. Ein Meisterwerk lässt mich – nehme ich die Wirkung als Maßstab – tief beeindruckt zurück. Les Noces beeindrucken mich nicht tief, sondern machen mir schlicht Spaß. Les Noces sind nach meinem Eindruck mehr Achterbahnfahrt – schnell, aufregend und kurzlebig – als eindringliches Erlebnis. Ja, nach mehrmaligem Hören empfand ich Les Noces sogar als oberflächlich.


    Nur, sind Les Noces das wirklich? Ich war mir nicht sicher, wie das Stück einzuordnen ist, hatte und habe das Gefühl, dass ich ihm mit meiner Einschätzung nicht gerecht werde. Also beschloss ich zu fragen:


    Handelt es sich tatsächlich nur um oberflächlichen Zauber? Oder gibt es hinter der archaischen Kraft etwas anderes, etwas, das mir bislang entgangen ist, gar eine Bedeutung? Nehmen die anderen Taminos das Werk ähnlich wahr wie ich? Haben auch sie das Gefühl der anschließenden Leere? Wie ist das Werk heute einzuordnen? Wo steht es in der Beliebtheitsskala?


    Die Antworten auf diese Fragen interessieren mich noch immer.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Hallo Thomas,


    eines vorweg: Ich kann zu deiner Frage keine erhellende Antwort abliefern. Tatasächlich ist "Les noces" einer der letzten weißen Flecken auf meiner Strawinsky-Landkarte. Dem möchte ich (dank deines Threads!) erst einmal Abhilfe leisten. Schaue ich mir die Preise an, werde ich wohl zu der Craft-Einspielung bei Naxos greifen, so denn keine schwerwiegenden Warnungen eingehen. Ich bin sehr gespannt.


    Du schreibst, dass du hauptsächlich Leere empfindest angesichts des Werkes. Ich kann für mich sagen, dass gerade Strawinsky bei mir die unterschiedlichsten Reaktionen hervorruft, was vielleicht auch normal ist bei der Diversität seines Schaffens. Ohne zu wissen, wen ich in der Vergangenheit manchmal neu hörte, mochte ich kaum glauben, dass es sich um ein und denselben Komponisten handelte. Sacre oder Feuervogel - Pulcinella - Dumbarton Oaks - Konzert für Klavier & Bläser: Alles der selbe Komponist? Am Anfang unvorstellbar. Erst spät dann das Gefühl, dass sich alles doch irgendwie zueinander fügte in diesem außerordentlichen Komponistenleben. Mal sehen, wo ich "Les noces" verorten werde....


    LG
    B.

  • Zitat

    Ganz im Sinne von Thomas wurde ich begeistert, verzückt, mitgerissen, hatte ich Spaß. Alles gut also? Eigentlich schon. Nur las ich dann im Naxos Booklet Crafts Wort von Les Noces als eines der größten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Diese Bezeichnung hielt und halte ich für überzogen. Ein Meisterwerk lässt mich – nehme ich die Wirkung als Maßstab – tief beeindruckt zurück. Les Noces beeindrucken mich nicht tief, sondern machen mir schlicht Spaß. Les Noces sind nach meinem Eindruck mehr Achterbahnfahrt – schnell, aufregend und kurzlebig – als eindringliches Erlebnis. Ja, nach mehrmaligem Hören empfand ich Les Noces sogar als oberflächlich.


    Hallo, Thomas!


    Diese Deine Empfindung würde ich durchaus teilen. Ähnlich wie Ravel ist ja Strawinsky eine artifizielle Spielernatur - vielleicht kann man "Sacre" ausnehmen, aber schon "Petrouchka" passt in ein solches Modell, erst recht die neoklassizistischen Werke. Wenn nun das Artifizielle auf das Archaische trifft, gelangt man vom elementaren Hörvergnügen rasch zur Distanz. Überdies erlauben das monotone Material und die meines Erachtens fehlende Doppelbödigkeit nicht, von einem Jahrhundertwerk zu sprechen.


    Ich höre Strawinsky sehr gerne, aber "Les Noces" steht da wahrlich nicht im Zentrum. Dazu vermisse ich denn doch zu sehr die Reizharmonik vieler seiner neoklassizistischen Schöpfungen; das rein Rhythmische genügt mir nicht.


    Besten Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Die Bedeutung von "Les Noces", nicht nur im Schaffen des Komponisten selbst, kann garnicht hoch genug eingeschätzt werden. In gewisser Weise ist das Werk eine "vokale Variante" des berühmteren "Sacre": in beiden Werken geht es um "Bilder aus dem alten Russland" !


    Les Noces wirkten, das sollte keinesfalls unterschätzt werden, STILPRÄGEND
    auf Carl Orff, dessen perkussive Behandlung der Klaviere z.b. ohne dieses Werk undenkbar wären.


    Bleibt mir hier abschliessend nur noch, mich selbst zu zitieren:


    Zitat

    gor Strawinskis viel zu selten zu hörende spröd-schöne "Cantata" aus dem Jahr 1951 fällt und steigt mit der dominierenden Rolle eines lyrischen Tenors; einem Stimmvolumen, das eher selten ist. Jan Kobow, den Liehabern barocker Vokalwelten rühmlich bekannt, fand hier, auf "fremden Terrain" die Rolle seines Lebens ! Ganz nebenbei liefert der RIAS-Kammerchor unter seinem scheidenden Leiter Daniel Reuss eine Referenzaufnahme von "Les Noces", die alles, was bislang zu diesem Thema gesagt wurde, auf die hinteren Plätze verweist.


    Die SACD (hybrid) ist sicher auch auf anderen Geräten abspielbar.




    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Auch auf die Gefahr hin, zu nerven: Gestern habe ich weitere drei Male Les Noces gehört.


    Dazu kam ich durch den gestrigen Kauf von Heinrich Lindlars Buch „Igor Strawinsky, Lebenswege, Bühnenwerke“, welches derzeit günstig bei 2001 zu haben ist. Die darin enthalten vier Seiten über Les Noces enthielten Anregungen genug, um mich erneut – oder besser: weiterhin – mit dem Werk zu beschäftigen. Konkret war es Lindlars Bemerkung, dem Ganzen werde eine „magische Starre“ verliehen, die mich nachdenklich werden ließ.


    Oben fragte ich nach einem (nur) oberflächlichen Zauber des Werkes. Zauber und Magie sind deckungsgleich. Starre hingegen beschreibt meinen Werkeindruck weitaus besser als oberflächlich. Auf diesen Begriff war ich nur gekommen, weil dem Werk nach meinem früheren Eindruck die Nachhaltigkeit fehlt, es – weinsprachlich gesprochen – einen schwachen Abgang hat. Hat es den aber wirklich? Immerhin beschäftige ich mich immer noch mit Les Noces. Wie kann ich Les Noces auch Oberflächlichkeit an den Kopf zu werfen, wenn Strawinsky an dem Werk neun Jahre gearbeitet hat (von 1914 bis 1923, sehr lange hat Strawinsky um die Instrumentierung gerungen)?


    Zudem ist es fehlerhaft, Strawinsky die Starre des Werkes vorzuwerfen, wenn es ihm gerade um diese ging.


    Strawinsky beabsichtigte nicht die lebendige Schilderung einer Bauernhochzeit bzw. die Schilderung des urwüchsigen russischen Volkes (gar im Sinne eines an den Realismus angelehnten „Zurück zu den musikalischen Wurzeln“), sondern: „Ich wollte vielmehr eine Art szenischer Zeremonie erfinden und bediente mich dabei ritueller Elemente aus jenen Gebräuchen, die in Russland seit Jahrhunderten üblich sind.“ (Erinnerungen, zitiert nach Linlar). Volker Scherliess merkt in dem oben genannten Buch denn auch an: „Strawinsky selbst benutzte zwar die russischen Liedersammlungen als Anregung…, warnte aber davor, das Sammeln mit den Problemen des musikalischen Schaffens zu verwechseln, `denn diese haben sehr wenig mit ethnographischen Forschungsreisen zu tun.´ Genauso hatte er sich zwar für Les Noces an volkstümlichen Hochzeitsbräuchen orientiert, aber sein Ziel war nicht ihre exakte Reproduktion… Worum es ihm ging, waren nicht die Lieder als Kunstwerke des Volkes, die es zu konservieren gegolten hätte, sondern ihre materiellen Eigenschaften: Tonfolgen, Rhythmen, ebenso die Texte und die gestischen Elemente, die in ihnen vielfach enthalten sind.“


    Eine solche rituelle Zeremonie erhält ihr Gepräge typischerweise durch formelle Strenge, um nicht zu sagen: Starre.


    Diese Starre erreicht Strawinsky durch verschiedene Mittel (Wolfgang schrieb oben von monotonem Material):


    1) Das Instrumentarium bietet wenig Abwechslung (nur perkussives Klavier und Schlaginstrumente (es sei noch mal ausdrücklich gesagt: an dieser Instrumentation hat Strawinsky jahrelang gefeilt).


    2) Es findet keine musikalische Entwicklung statt, keine thematische Arbeit im herkömmlichen Sinne (s. dazu bereits das obige Zitat zum Brahm´schen Entwicklungsdenken).


    3) In allen vier Bildern ist ein (permutierend auftretendes) Glockenklangmotiv zu hören. Mit gleichförmigen Glocken endet das Werk. Hierdurch wird die Starre besonders betont, wird dem Werk etwaige noch vorhandene Bewegungsenergie entzogen.


    4) Der Chor singt in Tempo und Rhythmus größtenteils ähnlich.


    5) „Vom Inhalt der Texte her“, schreibt Lindlar treffend, „ist die Bauernhochzeit nicht als ein psychologisch differenzierter Handlungsaufbau mit schlüssiger Entfaltung von Charakteren im dramatischen Sinne zu verstehen, sondern als eine eher holzschnittharte Aneinanderreihung von Typen und von Grundgegebenheiten zum Zeremoniell altrussischer ländlicher Hochzeitsfeiern.“ (Angemerkt sei, dass die Aneinanderreihung von heterogenen musikalischen Elementen von Scherliess als typisch für Strawinsky Musikstil bezeichnet wird: Schablonentechnik, Montage, Kontrapunkt im Großen lauten die Stichworte)


    Neben dieser Starre wohnen dem Werk aber auch die oben geschilderte archaische Kraft und die starke Sogwirkung inne – also der Bewegung zugehörige, der Starre entgegen gesetzte Elemente.


    In höchstem Maße faszinierend ist es für mich, dass es Strawinsky nicht nur gelingt, die Starre mit den genannten Bewegungselementen in Einklang zu bringen, sondern er es sogar vermag, diesen an sich bestehenden Widerspruch vollständig aufzulösen. In dieser Kunst, vor der ich mich zutiefst verneige, liegt für mich die Magie, liegt der Zauber des Werkes begründet.


    Nach alledem, möchte ich am Ende hinzufügen, neige ich dazu, mich dem großen Bären aus Berlin anzuschließen und zu sagen: Les Noces ist großartige Musik!


    Für Ergänzungen und Berichtigungen aller Art stets dankbar ist
    Thomas


    Ach ja, eine Frage habe ich noch: Ist bei Reuss eine deutsche Übersetzung des Textes dabei?

  • ich gestehe offen, daß ich dieses Werk bis gestern nie gehört habe (und das obwohl ich Strawinsky durchaus mag - als einen der wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts)


    Mangels einer vorhandenen Einspielung habe ich kurz vio jpc-Schnippsel in die oben gezeigte Aufnahme (jene unter Reuss) hineingehört und fand, daß es (zumindest oberflächlich betrachtet) sehr Orff-nah klingt.


    Im Harenberg-Konzertführer fehlt indes jeglicher Hinweis auf das Werk....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Hallo Alfred:


    Zitat

    Mangels einer vorhandenen Einspielung habe ich kurz vio jpc-Schnippsel in die oben gezeigte Aufnahme (jene unter Reuss) hineingehört und fand, daß es (zumindest oberflächlich betrachtet) sehr Orff-nah klingt.


    Umgekehrt wird ein Schuh draus: Orff klingt sehr strawinsky-nah ! :D

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Hallo Alfred:



    Umgekehrt wird ein Schuh draus: Orff klingt sehr strawinsky-nah ! :D


    Hallo, BBB!


    Noch besser wäre vielleicht: Der ganze Orff klingt wie "Les Noces"! :D


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zitat

    Noch besser wäre vielleicht: Der ganze Orff klingt wie "Les Noces"!


    Hallo Wolfgang, nein, ich wollte damit nur sagen, woher Orff kommt.


    Besonders in seinem bewunderunsgwürdigem, immer noch weitgehend unbekanntem Spätwerk geht er Wege, die über die ehemalige "Vorlage Les Noces" hinausweisen !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Im Harenberg-Konzertführer fehlt indes jeglicher Hinweis auf das Werk....


    Stimmt. Im Harenberg-Chormusikführer findest du allerdings einen ausführlichen Artikel.


    LG
    B

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear


    Hallo Wolfgang, nein, ich wollte damit nur sagen, woher Orff kommt.


    Besonders in seinem bewunderunsgwürdigem, immer noch weitgehend unbekanntem Spätwerk geht er Wege, die über die ehemalige "Vorlage Les Noces" hinausweisen !


    Das ist schon klar! :)


    Nochmals schönen Gruß! Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!