Paul McCreesh - der Experimentator

  • Paul McCreesh (*1960), der Gründer des Gabrieli Consort, dürfte einer der harausragendsten englischen Dirigenten der Generation nach Gardiner sein.


    Seine Einspielung von Händels Messiah ist mir die mit Abstand liebste. Daneben hat er weitere "konventionelle HIP-Einspielungen" von Händel-Oratorien geleitet.


    Kontovers zu diskutieren sind allerdings seine "Experimente". Da gibt es die Experimente mit solistischer Besetzung (man denke an Bachs Matthäuspassion) und Experimente einer möglichst historisch authentischen Programmzusammenstellung, die geradezu wie die Erfindung des Hörspiels im Alte-Musik-Sektor anmuten.


    Da wären an "Hörspielprojekten" (die Liste ist lang!) beispielsweise zu nennen:



    Erste Vesper zur Verkündigung der hl. Jungfrau Maria wie sie 1643 in der Basilika von San Marco in Venedig hätte gefeiert werden können. Mit Werken von Monteverdi, Rigatti, Cavalli, etc. ( "Venetian Vespers", 1990)


    Eine Ostermesse, wie sie um 1600 in der Basilika San Marco gefeiert worden sein könnte. Mit Werken von G. & A. Gabrieli, Lassus (Lasso) und anderen. ("Venetian Easter Mass", 1996)


    Ein Requiem für Philip II wie es 1598 bei seiner Trauerzeremonie in der Kathedrale von Toledo hätte aufgeführt werden können. Mit dem Requiem von Cristobal de Morales und einer Motette von Alonso Lobo (1997)




    Tja... was soll man von derartigen Experimenten halten? Erst war ich begeistert. Gerade auch die Programmzusammenstellung der erstgenannten CD finde ich äusserst löblich, weil man so neben Monteverdi auf vokale Meisterwerke von G. A. Rigatti, F. Cavalli und A. Grandi stösst, die einen vielleicht nie interessiert hätten, weil die Namen nur für Experten von Bekanntheit sind. Dafür möchte ich Paul McCreesh herzlich danken! Auch dieser Hörspielcharakter ist eine sehr schne Sache. Da wird einem vom Klingeln der Sakristeiglocke bis zum Schlußsegen eine komplette Vesper (bzw. Messe oder was auch immer) präsentiert. In der "venezianischen Ostermesse" wird sogar die Zeremonie des An-die-Tür-Klopfens nachgestellt.


    Leider sättigt das aber auch bald. So wird beispielsweise in allen drei der oben angeführten "Hörspiele" das pater noster gesungen. Das ist auf die Dauer musikalisch vollkommen uninteressant, ganz zu schweigen davon, wenn Tagesgebet, Lesung, Evangelium, Hochgebet, Segen, etc. auch alles eingesungen wird. Zumal gerade diese Teile recht unschön gesungen sind. Und wenn der Antwortgesang der Gemeinde dann auch nur aus einer kleinen handvoll Männerstimmen besteht, die nochdazu ziemlich grimmig brummeln, geht die vermeintliche Authentzität dieses Schauspiels alsbald flöten. Die leicht grimmigen Bässe werden dann auf der Morales-CD auch noch von einem Bajón/Dulzian begleitet, was das alles noch viel grimmiger und kehliger klingen lässt. Die vorgetragenen Epistel und dergleichen gehen in jener CD leider auch sehr im eigenen Nachhall unter und sind vokal recht lieblos und ausserdem nicht sonderlich Textverständlich gesungen...


    Naja, aber wo so viel Licht ist, darf auch etwas Schatten sein.


    Was haltet ihr von McCreeshs Einspielungen, von den konventionellen wie den teilweise enorm experimentierreudigen?


  • Hallo Forianer,


    so richtig konnte ich die Kritiker nicht verstehen, die die "Messiah"-Einspielung in den Himmel lobten! Immer und immer wieder habe ich mir diesei Aufnahme an der Hörstation asnhehört.


    Ergebnis: NEIN - nicht kaufen


    Was stört mich?


    - zu langsame Tempi
    - der Chor singt an einigen Stellen sehr unsauber


    Mein "Messiah"-Favorit ist und bleibt:



    Auger, Otter, Chance, Crook, Tomlinson,
    The English Concert, Pinnock
    Label: DGG , DDD, 1987



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Hallo ThomasBernhard,


    es ist eine gute Idee von Dir, einen Thread zu diesem bedeutenden und originellen Dirigenten zu starten.



    Seine Einspielung des lutherischen Weihnachtsgottesdienstes nach Prätorius ist eine meiner liebsten CDs. Da steckt Weihnachten drin. Ich habe diese CD unter meinen persönlichen Klassik-Kanon vorgestellt und will sie darum hier nicht genauer beschreiben.



    Ja, das mit dem Gemeindegesang und den gesungenen liturgischen Stücken und Lesungen ist so eine Sache.


    Ich vermute, dass bei McCreesh dahinter die Idee steckt, einen Gottesdienst aus dem Konzertsaal wieder in eine Kirche zu holen. Das ist schließlich der ursprüngliche Sitz im leben. Dabei geht natürlich etwas von der Konzertatmosphäre verloren. Diese Idee gefällt mir.


    Aber ich muss zugeben, dass ich gelegentlich auch ein Stückchen mit der Fernbedienung springe. :untertauch:


    Freundliche Grüße von Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Guten Abend


    auch mit Bach hat sich Paul McCreesh und seine Gabrieli Consort und Chorus beschäftigt; möchte auf diese beiden CDs hinweisen:



    hier wird eine Lutherische Messe, wie sie um 1740 in Leipzig hätte zelebriert werden können, rekonstruiert


    und



    Bachs Osteroratorium BWV 249 und Magnificat BWV 243.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Guten Tag


    "Hörspielprojekte" ein interessantes Wort für diese Art Musik zu interpretieren :)


    McCrees ist allerdings nicht der Einzigste der das macht.
    Möchte z.B. zwei ähnliche "Hörspielprojekte" vorstellen:



    ein Fest für San Marco um 1608 mit Werken von G. Gabrieli, Grandi, Cima, Barbarino Monteverdi und Castaldi; interpretiert vom Ensemble Musica Fiata Köln Leitung: R. Wilson


    und



    "Monteverdi Danksagungsmesse Venedig 1631"
    ebenfalls mit Monteverdi, Roveta, Uspermusikstücken.
    mit den Taverner Consort, Choir & Players, Leitung A. Parrott.


    Beide Interpreten verfolgen den gleichen Ansatz wie McCreesh eine musikalische Liturgie zu einem bestimmten Anlass zu rekonstruieren.
    Der Vorteil -wie bereits erwähnt- ist es, dass dem Hörer eine Anzahl von Musikbeispielen einer bestimmten Periode in eine imaginäre Handlung eingebunden, dargeboten wird.
    In wieweit das legitim ist, wie weit man da gehen soll/muss, Geläute, Weihrauchfassgeräuche, etc.pp; das muss wohl jeder für seine eigenen Hörgewohnheiten und Vorlieben selbst entscheiden.
    Bei Gabrieli, Monteverdi, Praeturius fand ich das noch ganz interessant; bei Bach schon etwas fraglich; und eine Messe im Salzburger Dom von Mozart ob das sein sollte ?


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Hallo!


    Zwischen den konventionellen und den experimentierfreudigen Aufnahmen steht wohl diese:



    Die Missa Salisburgensis selbst ist nicht aus verschiedenen Teilen zusammengefügt, sondern wurde so von einem anonymen Biber komponiert. Aber McCreesh fügt zwischen Messeteilen Sonaten von Biber ein, und ganz zu Beginn wird ein schöner Aufzug von Riedl/Augustiner gespielt. Die Motette "Plaudite Tympana" (ebenfalls von Biber) beschließt die Aufnahme.


    Die Sonaten zwischendrin hätten nicht unbedingt sein müssen (kann man aber wegprogrammieren).
    Wie auch immer, ihm ist (zusammen mit Goebel, den wollen wir nicht unter den Tisch fallen lassen!) eine hervorragende Aufnahme dieser großartigen Messe gelungen!


    Die CD gibts inzwischen für nur noch 9,99 Euro bei JPC. Gut, daß ich sie mir vor dem Preissturz noch für 19,99 Euro zugelegt hatte...


    McCreeshs Messiah halte ich übrigens ebenfalls für unverzichtbar!


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Da wir heute die meiste Musik dieser Art eher in konzertantem Rahmen zu hören bekommen und nicht mehr in dem liturgischen Zusammenhang, für den sie ursprünglich konzipiert war, finde ich McCreesh's Aufnahmen sehr erhellend, da sie mich an diese Bedeutungsebene der Musik erinnern. Eine Art Zeitreise, da finde ich die Details wie Kirchenglocken und Pater Noster Gesänge nicht störend, da sie mich als protestantisch getauften aber nicht religiös erzogenen Menschen in diese Welt anschaulich einführen.
    Ich habe mir die o.a. Bach-CDs nach Erwähnung hier im Forum (vor allem wegen der Verwendung einer Kirchenorgel anstelle der leider üblichen Truhenorgel) gekauft und es nicht bereut (eine ist inzwischen schon wieder gestrichen!) - mir bringt diese rekonstruierende Art der Aufführung sehr viel.
    Wer "nur die Musik" geniessen möchte, kann ja auf andere Aufnahmen zurückgreifen.
    Ich würde mir eine von McCreesh's Darbietungen so auch in der Kirche anhören, und auch - allen Ernstes! - mit einer Predigt aus Bachs Zeit!

  • Hallo miguel54,


    Zitat

    Ich würde mir eine von McCreesh's Darbietungen so auch in der Kirche anhören, und auch - allen Ernstes! - mit einer Predigt aus Bachs Zeit!


    das ist einer der wenigen Minuspunkte der Einspielung einer lutherischen Epiphaniasmesse aus der Bachzeit.



    Traumhafte Einspielungen der Kantaten "Sie werden aus Saba alle kommen" (BWV 65) und "Schmücke dich, o liebe Seele" (BWV 180), eine Missa brevis (BWV 233), bei der allein schon die Hörner im 2. Satz den Kauf dieser Einspielung lohnen und ... und ...


    Hier muss ich aus theologischer Sicht beanstanden, dass bei allem Bemühen, einen Gottesdienst der Bachzeit zu rekonstruieren bei dem predigtauszug dieses Prinzip nicht durchgehalten wurde. Es wird ein Auszug aus Luthers Predigt zum Evangelium des Epiphaniasfestes (Weise aus dem Morgenland - Matthäus 2) mit leicht sächsischem Akzent (!) verlesen, aber eben kein Auszug aus einer Predigt der Bachzeit. Dazu wurde bei der Auswahl ein eher nichtssagendes Textstück ausgewählt, in dem das Besondere dieses Festes in der Predigt durchaus nicht angemessen zum Ausdruck gebracht wird. Da gibt es, wenn es unbedingt Bruder Martin sein soll, besser geeignete und ansprechendere Predigtauszüge. Schade.


    Übrigens gibt es hin und wieder Kirchengemeinden, die aus Anlass eines Jubiläums einen Gottesdienst aus dem 17., 18., oder 19. Jahrhundert wieder aufführen und feiern, wobei dann auch eine Originalpredigt (oder zumindest ein Auszug, denn die Predigten in der Bachzeit dauerten mindestens 1 Stunde) rezitiert wird.


    Freundliche Grüße von Andrew, der ansonsten zu McCreeshs Bachscher Epiphaniasmesse nichts zu meckern hat. Im Gegenteil: Herzliche Empfehlung. Bei JPC scheint sie schon gar nicht mehr im Programm zu sein ?( ts ... ts ... ts :no:

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Hallo, Ihr lieben Freunde von McCreeshs Hörspielmusiken!


    ich muß sagen ich LIEBE diese Aufnahmen, nahezu alle finden sich in meinem Plattenschrank - ihre musikalische Qualität ist außerordentlich und muß von mir nicht weiter gelobt werden. :jubel::jubel::jubel:


    Was ist nun mit den " trockeneren" Beigaben?


    Wißt Ihr, hier neige ich gar nicht so zum Bewerten - ich nutze diese Musik oft dazu, mir eine ferne Zeit zu erträumen.
    WIll hören, riechen, schmecken, wie es damals gewesen sein KÖNNTE!Und da gibt es neben toller Musik eben auch ein wenig staubige Kost. Mir macht das nichts - hier wird eine Kirchen- eine Gemeindeatmosphäre dargestellt in der ( außer der Musik) genausoviel unperfektes oder auch mal dilletantisches Agieren von Geistlichkeit und Gemeinden sein darf, wie es heute eben auch noch ist.


    Und- lieber ThomasBernhardt - was das " grimmige Brummeln" einiger Männerstimmen im Gemeindegesang angeht, wäre ich froh, wenn in manchem Gottesdienst, den ich in der thüringischen Provinz zu halten habe, ein paar dieser Männer grimmig brummeln würden...


    Du, lieber Andrew, hast natürlich recht, die Predigt in der Epiphanias- Aufnahme ist schon ein Stilbruch.


    Dennoch kann ich ihre Verwendung verstehen -Bruder Martin ist in vielen Predigten und Sermonen sprachlich unendlich klarer als seine barocken Nachfahren in Schwulst und Verstiegenheit.


    Was den leicht sächsischen Akzent angeht, meine ich mich zu erinnern, das die liturgischen Texte und insbesondere die Predigt von einem Pfarrer der sächsischen Landeskirche gelesen wurden.Das muß ich aber noch mal überprüfen
    Ich schau zu Hause nach und reiche die Info dann hier weiter.


    Aber als Fazit steht für mich fest: McCreeshs Aufnahmen sind ganz eingenständige Schätze meiner Sammlung und werden es immer bleiben.


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Hallo,


    Hatte gestern Gelegenheit in die solistisch besetzte Matthäuspassion reinzuhören:



    :jubel:


    :jubel: :jubel:


    :jubel: :jubel: :jubel:


    :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:


    :jubel: :jubel: :jubel:


    :jubel: :jubel:


    :jubel:


    Selten so eine tolle Passion gehört! Die polyphonen Chorsätze sind natürlich wunderbar transparent und es geht an dramatischen Stellen wieder erwarten kein bisschen an "Brutalität" und Eloquenz verloren!
    Beachtlich auch die wahnsinnig schnelen Tempi - McCreesh dürfte der ernzige sein, bei dem die Passion auf 2 CDs passt! Manchmal sind die tempi schon recht übersteigert, aber die Passion ist so einfach mal ganz anders als andere, hinreichend bekannte Einspielungen!
    Ich lege mir die Aufnahme auf jeden Fall zu! )Sobald der Geldbeutel auch ja sagt... :wacky: )


    LG
    Raphael

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Mc Creesh ist auch in meiner Sammlung sehr oft zu finden, und da fällt mir natürlich auch sofort eine meiner liebsten CD's ein:




    Gabrieli: Music for San Rocco
    The Gabrieli Consort & Players / Mc Creesh



    denn wenn das Ensemble das Repertoire spielt, das ihnen ihr Name gab, dann darf man großes erwarten und wird nicht enttäuscht.
    Von den Gabrieli Einspielungen die ich kenne, ist diese mir die liebste.


    Das Konzertprogramm wurde auch verfilmt, vielleicht kommt es ja mal als DVD heraus, wer weiß. Ich habe es mal vor Jahren bei Classica auf VHS aufgenommen.
    Denn gesungen, gespielt und aufgenommen wurde die Musik auch in Venedig an Scuola Grandi di San Rocco in Venedig.



    Das ist einfach ein genial gemachtes Album, geistliche Musik und Instrumentalwerke von berauschender Schönheit.
    Die Frage ist nur ob man fast 80 Minuten Gänsehaut aushalten kann. :D
    Diese Cd musste jedenfalls unbedingt zu meinen "Unverzichtbaren"

  • Hallo, Raphael!



    Äääähhh...bist Du nicht der, der in "Was kaufe ich gerade jetzt" häufig lange Listen postet? (oder war ich das? :wacky: )
    Bei Zweitausendeins gibts die McCreesh-Matthäuspassion derzeit für sparsame 25,99 Euro.
    Deine Jubelstürme legen mir nahe, bei diesem Angebot ebenfalls zuzuschlagen. Die Aufnahme gilt ja als umstritten. Gibt es dazu noch andere Meinungen hier?
    Übrigens würde Harnoncourts neuere Teldec-Aufnahme auch auf 2 CDs passen, und die ist IMO optimal, die schnellen Tempi stören gar nicht.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Die McCreesh-Aufnahme wurde im Dom zu Roskilde gemacht. Dieser Dom ist für die Dänen, was für uns der Dom zu Speyer ist. Er ist Grablege für die dänischen Könige und stammt mit seinen Vorgängerbauten aus der Zeit der Christianisierung. Es ist ein Backsteinromanischer Bau, in der Größe gut vergleichbar mit den Domen zu Bremen und Lübeck. Insgesamt also nicht so gewaltig wie die großen gothischen Kathedralen wie die Lübecker Marienkirche oder der Kölner Dom.


    Vom Klang und Hall her habe ich den Eindruck, dass in der leeren Domkirche aufgenommen wurde. Also keine Life-Aufnahme in voll besetzter Kirche. Da ist viel leichter kammermusikalisch zu musizieren als z.B. im Hamburger Michel, eine Barockkirche kurz nach Bachs Zeit, wenn dort 2400 Zuhörer einen guten Teil des Schalls wegschlucken. Eine Besetzung wie auf der CD würde hier vermutlich hoffnungslos untergehen. Anders als zu Bachs Zeiten agieren bei McCreesh im Sopran und Alt nicht Knaben, sondern ausgebildete, erwachsene Sänger und Sängerinnen. Das ganze wird noch mit etwas Hall versehen und offensichtlich werden die Sänger durch geschickte Tontechnik hervorgehoben. Insofern habe ich Zweifel, ob das nun noch einer historischen Aufführungspraxis entspricht. Mit Knaben halte ich das nicht für durchführbar.


    Das Ergebnis der Einspielung ist schon eindrucksvoll, es gibt auch völlig neue Hörerlebnisse. Vor allem wird dann alles viel transparenter, die Doppelchörigkeit deutlicher. Besonders schön das Duett "So ist mein Jesus nun gefangen". Es wird nur vom 2. Chor mit Zwischenrufen begleitet. Ich kann mir gut vorstellen, dass Bach den 2. Chor kleiner, vielleicht sogar mit Einzelstimmen besetzt hat. Hier passt das sehr schön. Spätestens allerdings beim folgenden Blitzen und Donnern, wo beide Chöre vereint werden, würde ich schon auch etwas mehr Kraft erwarten. Es ist ja nicht nur ein Funkeln und Tönen.


    Insgesamt kann ich die enthusiastischen Besprechungen z.T. nicht nachvollziehen. Z.B. wird die Textverständlichkeit bei den Chorälen durch die vergleichsweise starke Begleitung oft gering, also genau das Gegenteil, was man eigentlich erwartet.


    Diese Aufnahme ist gewiss ein Ohrenöffner und vielleicht Anlass, die Bachsche Musik wesentlich kammermusikalischer zu gestalten; ein Beispiel für Authentizität ist sie nach meinem Gefühl nicht. Vielleicht muß man das ganze wie z.B. die Diskussion "Bach auf dem Steinway ?" sehen, allerdings mit anderen Vorzeichen. McCreesh ermöglicht uns ein neues Hörerlebnis für eigentlich uns bekannte Musik. Es ist eine Bereicherung für uns, mit der Bachschen Aufführungspraxis hat es aber wohl doch nur wenig zu tun.


    Beste Grüße


    García
    ;( ;( ;(


  • Die grimmig Brummelnden sind übrigens Kirchenchöre aus Freiberg und Dresden - so grummelt man einfach nur in Sachsen, höchste Originaltreue!!! :yes::pfeif:


    Der Prediger ist Andreas Vogt ( richtig dürfte Voigt sein), der war zum Zeitpunkt der Aufnahme Superintendent in Freiberg! Der deacon als Lektor im Gottesdienst ist Matthias Fischer, ebenfalls sächsischer Pfarrer.
    Der Liturg hingegen ist mit dem Tenor Julian Podger vom Gabrieli Consort besetzt.


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Hallo!


    Klawirr schrieb gerade im "Was höre ich gerade":


    Zitat

    Hm, die solistisch besetzte Doppelchörigkeit wirkt mir auch heute irgendwie zu ausgedünnt.


    Ich bin noch immer unentschlossen, was den Kauf betrifft.
    Eine kammermusikalische Matthäuspassion klingt ja sehr interessant, andererseits scheint es auf Kosten der musikalischen Substanz zu gehen... ?(


    Gibt es außer Raphael noch jemanden, der eine Jubelraute für diese Aufnahme vergeben würde?


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo Pius,


    Ich sage nicht, dass sie perfekt ist - allein: hochinteressant!
    Wie gesagt, durch die erhöhte Transparenz bekommt man mal einen ganz neuen Blickwinkel auf das Werk. Vielleicht vergleichbar mit der kammermusikalischen Besetzung der Beethoven-Klavierkonzerte mit Schoonderwoerd...
    Ich empfinde die solistische Besetzung wie gesagt überhaupt nicht als dünn: weniger breiig vielleicht, aber nicht dünn!
    Sicher gibt es auch kritkpunkte bei der Aufnahme, und bei Experimenten kommen die Kritiker gerne an die Oberfläche, aber ich denke, es ist ein Experiment welches lohnt!


    Allerdings: Ich habe die ganze Aufnahme noch nicht hören können, wie gesagt, nur markante Auszüge - aber was ich gehört habe war großartig!


    LG
    Raphael

  • Lieber Pius, lieber Raphaell,
    erstmal: schlecht ist das, was McCreesh da macht keinesfalls - aber, lieber Raphaell, es ist streckenweise nicht nur »nicht breiig« sondern schon arg ausgedünnt. Seltsamerweise wirken die solistisch besetzten Chöre in den Turbae überzeugend: fulminant (unglaublich etwa in »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«) und gleichzeitig supertransparent. :jubel: :jubel:


    Aber die Choralsätze.... :no: Da finde ich die solistische Lösung so gar nicht überzeugend. Das Klangbild erinnert eher an Madrigalsätze aus Renaissance/Frühbarock.
    Es klingt in jedem Fall interessant, beim ersten Hören auch aufregend neu, nutzt sich aber IMO sehr bald ab und wirkt auf mich doch eher dünn - und irgendwie unpassend.
    Ansonsten: musiziert wir auf allerhöchstem Niveau, das gilt für Instrumentalisten wie Vokalisten. Insgesamt ist McCreesh recht hurtig unterwegs, was mir durchaus gut gefällt.


    Also: ich möchte die Aufnahme nicht missen - aber sie ist doch ein wenig, nun, exotisch...


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Seltsamerweise wirken die solistisch besetzten Chöre in den Turbae überzeugend: fulminant (unglaublich etwa in »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«) und gleichzeitig supertransparent.


    Lieber Medard, in fast allem kann ich Dir folgen, aber im oben zitierten? Merkwürdig wie unterschiedlich man empfindet. Geht man von der Erwartungshaltung an eine solistische Besetzung aus, ist es in der Tat "fulminant", aber m.E. eben nur dann. Ich habe MP wohl 20 mal im Chor gesungen, und für mich war das Duett immer ein Spannungs-Höhepunkt. Hier wird am Ende kurz vor dem Ausbruch zum Blitzen und Donnern eine unglaubliche, kaum auszuhaltende Spannung aufgebaut, die sich dann im Blitzen und Donnern entlädt. Und diese "Entladung" bringt nach meinem Gefühl die solistische Besetzung eben nicht.


    Ansonsten gehts mir wie Dir, diese "exotische" Aufnahme möchte ich als wahren Ohrenöffner nicht missen. Nur,das was einige aus ihr machen wollen, ein Beispiel für historische Aufführungspraxis ist sie m.E. nicht.


    Beste Grüße
    García

  • Hallo!


    Inzwischen habe ich nicht nur die besagte Matthäuspassion-Aufnahme erworben, die ich insgesamt für sehr gelungen halte (näheres hier ), sondern auch noch



    und


    .


    Alles durchweg empfehlenswerte Aufnahmen; besonders die Biber-CD (da sind auch noch kleinere Werke von Muffat, Schmelzer und Di Lasso drauf) ist IMO wirklich klasse gelungen! :jubel::jubel:


    McCreesh habe ich nun deshalb in die Riege meiner Lieblingsdirigenten eingereiht.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Zitat

    Original von Manuel García
    Nur,das was einige aus ihr machen wollen, ein Beispiel für historische Aufführungspraxis ist sie m.E. nicht.


    Beste Grüße
    García



    Lieber Manuel,


    mir persönlich ist es im Prinzip gleichgültig, inwieweit eine Einspielung/Aufführung tatsächlich den historischen Gegebenheiten entspricht, solange sie mich nur musikalisch überzeugt. Sicherlich gilt dies für die meisten hier ebensor, und für Dich ja scheinbar auch. :)


    An dieser Stelle möchte ich aber dennoch darauf hinweisen, dass die Argumente, die die Befürworter der OVPP (one voice per part, also die solistisch besetzten "Chöre")-These zusammengetragen haben und die Andrew Parrott auch in einem Buch zusammengefasst hat (dass ich allerdings nicht gelesen habe), durchaus einiges für sich haben. Ich will damit nicht sagen, dass man dieser Argumentation notwendigerweise folgen muss. Man sollte sie aber auch nicht einfach abtun.


    Ich habe mir vor ein oder zwei Jahren mal die Mühe gemacht, einige der Originalpublikationen zu lesen, die sowohl von den Verteidigern als auch von den scharfen Kritikern dieser Hypothese in Fachzeitschriften wie "Early Music" veröffentlicht worden waren, und muss gestehen, dass zumindest diejenigen Artikel, die ich gelesen hatte (nur ein kleiner Teil, denn die Diskussion zog sich ziemlich lange und ziemlich heftig hin), die Argumentation der Befürworter in wesentlich besserem Licht erschienen ließen als die der Gegner.


    Während jene nämlich ausschließlich mit greifbaren und nachprüfbaren Tatsachen arbeiteten (soweit ich mich erinnere, wurde viel aufgrund der erhaltenen Aufführungsmaterialien von Werken wie der Matthäuspassion argumentiert, aber auch einiges andere), setzten diese sich ausschließlich mit der Bachs "Wohlbestallter Kirchenmusik" auseinander (für die die OVPP-Fraktion eine meiner Meinung nach auch eine plausible Erklärung bietet) und betrieben ansonsten hautsächlich Polemik gegen ihre Gegner, was sie in meinen Augen ziemlich diskreditierte.


    Wie gesagt, habe ich damals nur einen Teil der erschienen Veröffentlichungen gelesen, aber ich möchte an dieser Stelle zumindest darauf hingewiesen haben, dass die Aufführungspraxis der solistisch besetzten Chorstimmen auf konkrete, wenn auch zugegebenermaßen strittige, Forschungsergebnisse zurückgeht, und nicht nur ein extravaganter Einfall einiger Interpreteten ist, die es einfach nur anders als die anderen machen wollen als der Rest.


    Dies ist alles Diskussions- (und vermutlich auch Zünd-)stoff für einen eigenen Thread (den es wahrscheinlich sogar schon gibt). Ich möchte hier nur verhindern, dass jemand der McCreesh'schen Matthäuspassion von vorneherein keine Chance gibt, weil er den Eindruck bekommet, es handle sich hier lediglich um ein Experiment (was es eben nicht ist), denn das täte mir unendlich leid.


    Diese Einspielung ist meiner Meinung nach jedoch in ihrer Gesamtheit eine der schlüssigsten, die mir bislang begegnet ist. Zu ihren Verdiensten zählen nicht allein die Durchhörbarkeit, sondern vor allem der große Bogen, den McCreesh zu spannen versteht. In dieser Interpretation wirkt für mich alles wie aus einem Guss, völlig organisch, wie jede Arie die Handlung der Passionsgeschichte reflektiert, wie in den Chorälen die gläubige Seele das Heilsgeschehen kommentiert. Diese Matthäuspassion zieht mich vom ersten bis zum letzten Moment in den Bann, und das ist der Punkt, warum ich sie definitiv nicht missen möchte.


    Zusammen mit der Harnoncourt-MP, habe ich wenigstens im Moment das Gefühl, bin ich bestens ausgestattet, und habe gar nicht das Bedürfnis nach einer anderen Einspielung (was nicht heißt, dass ich nicht eine kaufen würde, wenn da eine interessante käme...)


    Viele Grüße


    Kerstin


    PS: Ein interessanter Punkt vielleicht noch: ein häufig gehörtes Argument, dass - so interessant die Argumente für OVPP auch seien - diese Aufführungspraxis bei Lifeaufnahmen gar nicht funktionieren würde, da die Balance zwischen Orchester und Solistenquartett nicht herzustellen sei, bestreitet McCreesh damit, dass er und sein Ensemble, das Gabrieli Consort, grundsätzlich vor der Aufzeichnung, eine Reihe Konzerte mit dem aufzunehmenden Programm bestreiten, McCreesh zeigt so, dass die solistisch Besetzung der Chorstimmen funktioniert, auch ohne dass der Toningenieur zaubern muss.
    Ich glaube, das stammt aus einem CD-Booklet, möglicherweise sogar aus dem der Matthäuspassion.



    PPS: Hätt ich doch gleich mal auf Pius' Link geklickt. Jetzt muss ich gleich mal lesen, was hierzu anderswo alles geschrieben wurde. Aber zumindest bin ich hier mein Caveat zu McCreesh's Matthäuspassion losgeworden. Ich will ja nur nicht, dass irgendwer abgeschreckt wird und diese wunderbare Einspielung verpasst.

    Einmal editiert, zuletzt von bachiana ()

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Die salvatorische Klausel zuvor: Jeder entscheidet selbst, was ihm gefällt. Und auch „besser oder schlechter“ ist hier nicht die Frage. Also bitte keine neuerlichen Glaubenskriege.


    Nachdem bereits in einigen anderen Threads das Thema der Bachschen Chorbesetzung diskutiert worden ist, passt es hier wohl mit am besten. Eine eigene, neue Runde braucht es dafür wohl nicht.


    Das von Kerstin genannte Buch
    Andrew Parrott: Bachs Chor – Zum neuen Verständnis. Stuttgart & Weimar, Kassel (Metzler/Bärenreiter), 2003
    ist ausgesprochen lesenswert. Da ich gegenüber den Thesen sehr skeptisch war, fiel es ihm ziemlich schwer, aber Parrot hat mich überzeugt. Was er hier an Quellen zusammengetragen hat, ist nicht nur in der Fülle beeindruckend, es überzeugt. Parrott nimmt auch zu sämtlichen bisher vorgebrachten Gegenargumenten Stellung und beleuchtet sie von allen Seiten. Am Ende kommt man kaum mehr an dem einen Schluss vorbei: Ein „Chor“ bestand bei Bach aus vier Personen. Auch Matthäuspassion wie h-moll Messe verlangten nicht mehr als einen Sänger pro Stimme.
    Nebenbei bemerk ist es auffällig, dass außer ein paar nicht sehr substanziellen Polemiken bisher keine großartigen Widerlegungen, nicht einmal besondere Einwände gegen Parrotts Arbeit in der Fachpresse erschienen sind, obwohl seit 2000, dem Jahr, in dem das Buch im Original erschien, ja nun wirklich Zeit genug vergangen ist.


    Von daher betrachtet ist die McCreesh-Aufnahme für mich eine konsequente Unternehmung.


    Was sie in meinen Augen inkonsequent macht ist die Formung des „Chores“ aus ausgebildeten Solisten. Bach hat die Soli aber von seinen besten Chorsängern, eben jener Vierertruppe, die das Vokale allein zu bewältigen hatte, ausführen lassen. Vielleicht sollte man einmal mit einem hervorragenden spezialisierten Chor den Versuch wagen, mit jeweils vier – im Falle der Doppelchörigkeit acht – der Mitglieder eine solche Aufführung zu realisieren. Chorsänger singen nun einmal anders als Solisten. Vielleicht ginge es dann auch ohne das mich sehr verwirrende Vibrato :D bei McCreesh – besonders in den Männerstimmen – ab. Man bekäme jedenfalls einen Eindruck, der noch ein anderer wäre – nicht unbedingt näher an der Wahrheit, aber sicher noch erhellender, als es bei dieser Aufnahme der Fall ist. Und – wer weiß? – vielleicht ja auch noch überzeugender.


    Ein Osnabrücker Gymnasialrektor schrieb jedenfalls 1750: Es klingt schön, wenn man nur einen Bassisten, Tenoristen, Altisten und Discantisten höret; hingegen ist es nichts als ein Geblöke, wenn alle durcheinander schrein.

  • Ich hatte mich damals auch mit an der Diskussion über die Matthäus-Passion beteiligt (ohne Kenntniss der CD), aber ich war dann über die Osterfeiertage verreist und hatte dann meine geplante Antwort nicht realisiert.
    Interessant war war für mich der Gedanke zu überlegen, wie hat Bach die Matthäus-Passion aufgeführt und wie hätte er sie gerne aufgeführt. Insofern finde ich viele Argumentationen hier nur halbherzig, da sie sich oft beider Überlegungen bedienen! Im übrigen stimme ich mit denen überein, die eine rein historische Lesart eher nur informativ sehen, und noch einer idealen Lesart suchen.


    Was PAUL MC CREESH betrifft, so kenne ich ihn bisher nur von wenigen CDs, ich habe allerdings schon für ein Projekt unter seiner Leitung gesungen (im Chor), deshalb ist mir seine Art zu musiziernen durchaus vertraut. Ich schätze ihn als außergewöhnlichen Musiker, allerdings konnte er mich bisher nicht überall überzeugen. Grandios fand ich in bisher vorallem im englischen Repertoire (z.B. Händel- jaja, ich weiß, wo der geboren wurde...), während er mich bei Bach oder Lassus bisher noch nicht überzeugen konnte. Es könnte sich dabei aber auch um persönliche Vorstellung von Chorklang und Interpreatation handeln.


    Gru0 pt_concours

    Hören, hören und nochmals hören: sich vertraut machen, lieben, schätzen.
    Keine Gefahr der Langeweile, im Gegensatz zu dem, was viele glauben, sondern vielmehr Seelenfrieden.
    Das ist mein bescheidener Rat. (S. Richter, 1978)

  • Zitat

    Was sie in meinen Augen inkonsequent macht ist die Formung des „Chores“ aus ausgebildeten Solisten.


    Ganz genau DAS ist das Problem der Matthäuspassion von McCreesh !
    Besser "hinbekommen" hat dgl. vor 25 Jahren Josh Rifkin, der nach vergleichsweise kurzer Probenzeit auch seine Solisten soweit hatte, wie Chorsänger zu singen !


    Was dabei herauskam, kann man u.a. hier nachhören !


    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von pt_concours
    Interessant war war für mich der Gedanke zu überlegen, wie hat Bach die Matthäus-Passion aufgeführt und wie hätte er sie gerne aufgeführt.


    Mit den hätte-Fragen konnte ich mich noch nie anfreunden, da gerät man doch nur ins Spekulieren.
    Was die Zahl der Mitwirkenden betrifft, hat Bach sie jedenfalls wohl so gewählt, wie er sie für richtig hielt. Die Ensemblegröße war nicht der Not geschuldet, sondern stand in der festen Tradition protestantischer Kirchenmusik. Einen größeren Chor, also eine mit mehreren Sängern pro Stimme besetzte Vokalgruppe, hat er nicht für nötig befunden.


    Zitat

    Insofern finde ich viele Argumentationen hier nur halbherzig, da sie sich oft beider Überlegungen bedienen!


    Das verstehe ich nicht ganz. Wo wird das denn vermengt?


    Zitat

    Im übrigen stimme ich mit denen überein, die eine rein historische Lesart eher nur informativ sehen, und noch einer idealen Lesart suchen.


    Ein jeder suche nach seinem eigenen Ideal. Aber wieso muss "eine rein historische Lesart" per se von einer "idealen Lesart" abweichen?

  • Hallo,


    was mich jetzt in dem Zusammenhang mit der OVPP interessieren würde: Was ist dann der Unterschied zwischen einem Gesangsquartett und einem "Chor"?


    Bei den Opere Serie zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Ensemblestücke am Aktende stets als "Coro" bezeichnet - gemeint war ein "Chor" aus den an dieser Stelle handelnden Personen - so wird es auch zumeist richtig umgesetzt. Leider habe ich nicht die jeweiligen Bezeichnungen für die Parts in Bachs Messen und Oratorien im Kopf, könnte mir aber vorstellen, daß hie und da durchaus auch ein Gesangsquartett als solches explizit verlangt wird [?]. Oder wird mit "Chor" letztlich der Choral [ggfs. in Bearbeitung] im engeren Sinne gemeint?


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    was mich jetzt in dem Zusammenhang mit der OVPP interessieren würde: Was ist dann der Unterschied zwischen einem Gesangsquartett und einem "Chor"?


    Es gibt keinen.


    Zitat

    Bei den Opere Serie zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Ensemblestücke am Aktende stets als "Coro" bezeichnet - gemeint war ein "Chor" aus den an dieser Stelle handelnden Personen - so wird es auch zumeist richtig umgesetzt.


    So wird es auch von Parrott für Bachs nahezu gesamtes Vokalwerk veranschlagt.


    Zitat

    Leider habe ich nicht die jeweiligen Bezeichnungen für die Parts in Bachs Messen und Oratorien im Kopf, könnte mir aber vorstellen, daß hie und da durchaus auch ein Gesangsquartett als solches explizit verlangt wird [?]. Oder wird mit "Chor" letztlich der Choral [ggfs. in Bearbeitung] im engeren Sinne gemeint?


    Der Choral wird meistens auch als Choral bezeichnet, sonst steht in den autographen Stimmblättern meist gar nichts, wenn es von einer Arie zu einer "Chorstelle" geht (außer den notwendigen Vorzeichen etc.). In der Partitur taucht dann "Coro" auf, wenn überhaupt etwas über den vier Vokalsystemen steht.
    Soll der Vierer-Chor verstärkt werden, ist ausdrücklich von Ripienisten (mit eigenen Stimmblättern) die Rede.

  • Bedankt!


    :]


    Ich schließe daraus, daß der Chor [im heutigen Sinne], den Bach quasi heranzüchtete also niemals in geschlossener Form als Chor auftrat, sondern lediglich einen Pool von Sängern bildete, aus dem Bach dann für diverse Aufführungen schöpfte...


    ?(

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Ich schließe daraus, daß der Chor [im heutigen Sinne], den Bach quasi heranzüchtete also niemals in geschlossener Form als Chor auftrat, sondern lediglich einen Pool von Sängern bildete, aus dem Bach dann für diverse Aufführungen schöpfte...


    Nit ganz. :D


    Bach musste aus den Alumni, den musikalisch talentierten externen Stipendiaten der Thomasschule, vier nach Können abgestufte Chöre bilden, um die sonntäglichen Gottesdienste in "seinen" vier Kirchen bestücken zu können.
    Die Chöre 1 bis 3 bestanden aus je vier, der vierte und schlechteste aus 8 Sängern, die lediglich Motetten und einfache Choräle exekutieren mussten.
    Im Chor 1 befand sich die Elite, die als "Concertisten" sowohl die Arien als auch die Rezitative und Coros zu singen hatte. Ripienisten, also Auffüllstimmen, die lediglich bei bestimmten Stellen eingesetzt wurden, traten extra hinzu. Die Kantaten, in denen das verlangt wird, kennt man. Es sind nur wenige.


    Der "Pool" heißt bei Bach also "Alumni", die Aufteilung stand wohl relativ fest und wurde nur bei Krankheitsfällen oder "höherer Gewalt" geändert (und natürlich von Jahr zu Jahr). Dazu kamen externe Sänger – fast ausschließlich Bassisten, die es unter den Alumni kaum in der erforderlichen und gewünschten Qualität gab.

  • Zitat

    Ich schließe daraus, daß der Chor [im heutigen Sinne], den Bach quasi heranzüchtete also niemals in geschlossener Form als Chor auftrat, sondern lediglich einen Pool von Sängern bildete, aus dem Bach dann für diverse Aufführungen schöpfte...


    Hallo Ulli,


    Bach rekrutierte seine Chorsänger aus den Jungs der Thomasschule, eine Tatsache, die es ihm nicht ermöglichte, kalkulativ mit einem fest berechenbaren
    Ensemble zu arbeiten. Dazu waren einfach die Unwägbarkeiten viel zu groß,(Stimmbruch, mangelnde Musikalität der versch. Jahrgängen


    Zitat

    "unter wehnen welche sindt, die nicht einmal eine Primam sauber intoniren können ! (Originalton Bach ! :D )


    Bach musste also für jede Aufführung die Karten völlig neu mischen und, Pragmatiker, der er mit Sicherheit war, dann wurde eben "was nicht passend war, einfach passend gemacht" !


    Widersprechen muss ich Hildebrandt, der meint, daß zwischen Solisten und einem Chor kein Unterschied bestünde.


    In McCreeshs Passio sind die Solisten Diven, die mit ihren individuellen Stimmerkmalen bestechen wollen, gefordert ist aber eine Gleichberechtigung
    aller am Singen Beteiligten: das definiert einen Chor !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Widersprechen muss ich Hildebrandt, der meint, daß zwischen Solisten und einem Chor kein Unterschied bestünde.


    Stei! Polizopp! :D
    Das meinte ich in Hinsicht auf Bachs Chor, nicht generell auf Chor und Solist bezogen. Die Kantaten wurden von vier der besten Sänger der Thomasschule aufgeführt, die alles Vokale zu bewältigen hatten. In der Mehrzahl der Kantaten war da mehr Arioses als Chorisches zu bewältigen.


    Den Unterschied zwischen den Diven bei McCreesh und etwa den solistischen Leistungen der Mitglieder des Collegium Vocale Ghent, die das durchaus auch beherrschen, höre ich wohl – leider allzu deutlich. :yes:

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