Eine Neuinszenierung von Dietrich Hilsdorf.
Die Besucher betreten den Zuschauerraum und sind zunächst entzückt. Ein Bühnenvorhang mit einer romantischen Waldabbildung ist zu sehen. An der Rampe sitzt ein Junge auf einem Stuhl und liest in einem Buch. Man könnte sich auf einen entspannten Opernabend freuen, wenn da nicht der Name Hilsdorf im Hinterkopf wäre. Nun denn, der Saal verdunkelt sich, der Junge stellt dem Publikum ein Rätsel und tritt ab.
Auf den Vorhang wird die Schrift „im Harz zwischen Schierke und Elend nach dem tausendjährigen Krieg“ projeziert. Er wird transparent und gibt den Blick auf den Eremiten frei, der zunächst einen Text von Andreas Gryphius „Nun sind wir ganz verheeret“ zitiert. Der Vorhang hebt sich und man sieht einen weiteren mit einer etwas weniger romantisierenden Waldszene, vor dem sich dann die nicht komponierte Szene zwischen dem Eremiten und Agathe abspielt. Danach setzt die Ouvertüre ein. Als Besucher hat man jetzt zwei Möglichkeiten; entweder man lauscht der Musik oder man lässt sich durch die sich hinter den – wie man inzwischen feststellte – mehreren transparenten Vorhängen abspielenden Szenen ablenken. Da ist zunächst Max, der seine aufgebahrte tote Mutter kräftig durchschüttelt, dann Max und Agathe, die einen Hochzeitstanz aufführen, letztendlich Agathe mit einer Frau, die einen Kinderwagen schiebt, in dem sich offenbar ein Säugling befindet, der durch den ebenfalls erscheinenden Kaspar zunächst erwürgt und dann davongetragen wird. Nach Ende der Ouvertüre werden die Vorhänge wieder undurchsichtig, es entsteht eine kurze Pause, um Aufstellung für den ersten Akt zu nehmen.
Hilsdorf verlegt die Handlung von der Zeit nach dem dreißigjährigen Krieg in das Jahr 1948. Die Szene ist die Ruine eines Herrenhauses, vor dessen Fassade sich die gesamte Handlung abspielt. Lediglich Agathes Zimmer befindet sich in einem Saal innerhalb der Ruine. Für mich ein durchaus beeindruckendes Bühnenbild mit leeren, rauchgeschwärzten Fensteröffnungen, am Bühnenrand Fassaden anderer zerschossener Häuser. Beleuchtet nur von einer Lampe, die am Mast einer Hochspannungs-Überlandleitung befestigt ist. An den Wänden noch Reste nationalsozialistischer Hoheitszeichen (Adler, Hakenkreuz). Die Kostüme sehr realistisch im Stil der Nachkriegszeit, zusammengestückelte Kleider bei den Damen, noch Reste der Wehrmachtskleidung bei den Herren.
Nun ist dies ja nicht die erste Inszenierung von Hilsdorf, die ich gesehen habe, jedoch die erste, bei der er das Stück praktisch neu erfunden hat. Wenn der Zweck eines Theaterbesuchs nicht darin besteht, sich zu unterhalten sondern zur Diskussion anregen soll, hat Hilsdorf dies zumindest beim Freischütz erreicht.
Beim Ländler im ersten Akt musiziert eine Kapelle von KZ-Häftlingen, wobei gleichzeitig am Tanzboden ein Häftling erhängt wird. Plakativ verspeisen Agathe und Ännchen saure Gurken, als hätte das Publikum den Hinweis nicht verstanden, skandieren zischende Weiber während des Jungfernkranzquartetts Lieschens Text aus dem Faust. Die Wolfsschlucht erhält dadurch ihren Grauen, dass ein Exekutionskommando mit sieben Deliquenten erscheint, von denen beim Zählen jeweils einer hingerichtet wird. Agathe erleidet vermutlich bei ihrem Albtraum eine Fehlgeburt, jedenfalls wird das blutgetränkte Betttuch demonstrativ gezeigt. Die Schlusszene beginnt Samiel mit einer Deklamation aus Kleists Ode „An die Kinder Germanias“, vermutlich Wink auf die martialischen Klänge des Jägerchors. Während des Chors wird eine als „Angsthase“ auf dem Besetzungszettel geführte Person im Hasenkostüm zunächst brutal gequält, um dann als Krönung noch vergewaltigt zu werden. Der Probeschuss fällt, mit ihm gleichzeitig Agathe und Kaspar. Der Eremit konnte die Kugel nicht von Agathe abwenden, weshalb auch Kaspar getroffen wurde, hat sich mir nicht erschlossen. Hilsdorf hätte jetzt eigentlich ein Problem haben müssen. Agathe hat ja noch eine Menge zu singen. Des Rätsels Lösung; die tot liegende Agathe ist ein Double, die Sängerin entschwebt als Geist Zentimeter um Zentimeter gen Schnürboden. Der Eremit, während seiner Bitte um Gnade für Max von Ottokar mit einer Pistole bedroht, hat dann doch Erfolg. Ottokar gewährt Gnade und lässt Champagner kredenzen. Librettogemäß wird gehuldigt und in Vorfreude auf die Hochzeit im nächsten Jahr gejubelt, Agathe – inzwischen hoch schwebend wie eine Jungfrau Maria – jubelt tapfer mit, Kaspar und Samiel tanzen fröhlich in die Hölle, Max hat sich den Brautkranz vom Double aufgesetzt und Ottokar, wohl gedacht als letzter Vertreter der Herrenrasse, erklimmt die Fassade des Herrenhauses, um demonstrativ dem Adler mit dem Hakenkreuz die Ehre zu erweisen. Dann erstarrt das Ensemble für einige Sekunden bevor der Vorhang fällt mit einer letzten Projektion „ Zwei Tage später wurde Max tot aufgefunden.“
So, jetzt habe ich mir endlich meinen Frust von der Seele geschrieben. Es geht mir hier nicht um die Verlagerung des Stoffes in das Jahr 1948. Auch finde ich, dass durchaus eine Hinterfragung des Opernstoffes angebracht ist. Hier ist Hilsdorf aber zu weit gegangen. Abgesehen von der Überfrachtung der Handlung mit Nebenschauplätzen, die dazu führen, dass man völlig von der Musik abgelenkt wird, treibt er hier Obszönität und Brutalität auf die Spitze. Nach der ersten Vorstellung am 08.02. habe ich mir gestern die Oper noch einmal angesehen in der Hoffnung, etwas differenzierter urteilen zu können. Leider ist mir dies auch heute nicht möglich.
Gestern konnte ich mich jedoch auf die Musik konzentrieren und kann dazu nur positiv berichten. Das Orchester unter GMD Marc Piollet spielte in Hochform. Auch die Chorleistung war hervorragend. Von den Sängern möchte ich besonders Astrid Weber als Agathe erwähnen, die in den beiden Vorstellungen eine tolle Leistung erbrachte. Emma Pearson als Ännchen hatte gestern im Gegensatz zur Vorstellung am 08.02. einige Unsauberkeiten im Gesang, verzichtet aber auf sehr angenehme Art auf die häufig anzutreffende allzu soubrettenhafte Gestaltung. Der Kaspar von Thomas Jesatko konnte sich ebenso hören lassen wie der kraftvolle Bass von Bernd Hofmann als Eremit, Axel Wagner als Kuno und Thomas de Vries als Ottokar. Als Max hörte ich am 08.02. Martin Homrich, der die Rolle lyrisch anging und gestern Erin Caves, der seine Karriere als Bariton begann und erst seit wenigen Jahren zum Tenorfach wechselte. Eine Stimme, die aufhorchen lässt. Zu erwähnen ist noch Zygmund Apostol als Samiel. Er wuselt auch in Szenen, in denen er nichts zu sprechen hat, stumm irgendwo auf der Bühne herum. Im Aussehen denkt man an eine Mixtur aus Rumpelstilzchen und nettem alten Herrn mit Lederjacke und Jägerhütchen. Die Bösartigkeit drückt er allein durch seine Stimme aus. Ein schneidendes Fistelstimmchen, das einen erschauern lässt.
In beiden Vorstellungen gab es für alle Mitwirkenden einen für Wiesbadener Verhältnisse untypisch langen Applaus mit vielen Bravo-Rufen. Auch untypisch für Wiesbaden Buhs und Pfiffe bei der Szene mit dem Hasen.
Während sich am 08.02. nach der Pause erhebliche Lücken im Parkett auftaten, war gestern eine Abonnement-Vorstellung - vermutlich für Besucher von außerhalb - viele Busse parkten an den Kolonnaden. Da musste man aushalten ob man wollte oder nicht. Wobei ich hier ausdrücklich betone, dass ich vorzeitiges Verlassen einer Vorstellung nur weil ich mit der Regie nicht einverstanden bin, als Affront gegen die Ausführenden empfinde.
Zu erwähnen wäre noch, dass die Kritiken für die Regie ausnahmslos gut bis sehr gut waren. Dass der Regisseur bei der Premiere ausgebuht wurde, ging zu Lasten des konservativen Wiesbadener Publikums. Wie progressiv muss man sein, um die Intention dieser Regie zu verstehen?
LG
Emotione