Erfreulicherweise gibt es auch herausragende lebende Dirigenten - und einer der interessantesten unter ihnen ist Kent Nagano.
(Hier im Zwiegespräch mit dem Hector Berlioz meines Avatars. Aufgrund seiner gelungenen Aufnahme meiner "Nuits d'été" mit Bernarda Fink erteile ich Kent gnädig meinen Segen - auch wenn's nicht so aussieht. Allerdings kommen bereits in meiner "Damnation de Faust" modernere Telefone vor, als sie da links neben ihm stehen. Aber lassen wir das.)
Kent Nagano wurde 1951 in den USA geboren und wuchs im kalifornischen Morro Bay auf. Seine Großeltern väterlicherseits waren 1917 aus Japan in die Vereinigten Staaten eingewandert. Nagano lernte bereits früh Klavier und Klarinette, studierte Musik in Santa Cruz und San Francisco, wurde 1976 Opernkorrepetitor in Boston und leitete dann das Berkeley Symphony Orchestra. Nagano bewunderte Olivier Messiaen und dirigierte in Berkeley die amerikanische Erstaufführung von Messiaens "La Transfiguration de notre Seigneur Jésus Christ". Der Komponist reiste zu dieser Aufführung an, war begeistert und brachte Nagano 1984 als Assistenten Seiji Ozawas bei der Einstudierung von Messiaens Oper "Saint Francois d'Assise" an der Pariser Oper unter.
Naganos Karriere beschleunigte sich: Ab 1984 dirigierte er regelmäßig das Boston Symphony Orchestra, 1989 wurde er musikalischer Leiter der Opéra National de Lyon. Auf diesem Posten, den er bis 1998 innehatte, machte Nagano die Lyoner Oper zu einem international beachteten Haus. Das teils ungewöhnliche, von ihm dirigierte Repertoire ist gut auf CD und DVD dokumentiert. Parallel zu seiner Operntätigkeit leitete Nagano von 1991 bis 2000 das Hallé Orchestra Manchester.
Von 2000 bis 2007 war Kent Nagano mit großem Erfolg Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Man attestierte ihm oft, die interessantesten Konzertprogramme der Hauptstadt zu gestalten. In dieser Zeit gastierte er auch häufig an der Oper von Los Angeles. Aber auch mit seinem Berliner Orchester führte Nagano gelegentlich Opern auf: so Wagners „Lohengrin“ und „Parsifal“ im Festspielhaus Baden-Baden und Schrekers „Die Gezeichneten“ bei den Salzburger Festspielen.
Seit 2006 nimmt Nagano wiederum parallel zwei Chefposten ein: zum einen als Nachfolger von Charles Dutoit beim Orchestre symphonique de Montréal. Zum anderen als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper München – was mich besonders freut, da ich ihn somit öfter am Pult erleben kann. In München dirigierte er bereits die Uraufführung von Usuk Chins „Alice in Wonderland“ sowie als Premieren Brittens „Billy Budd“, „Chowanschtschina“ von Mussorgsky und einen Abend mit der Uraufführung von Wolfgang Rihms „Das Gehege“ und „Salome“ von Strauss. Diese Saison sind noch „Idomeneo“ und „Ariadne auf Naxos“ geplant. Bei einer kürzlich erlebten Aufführung dirigierte Nagano einen großartigen, überaus nuancen- und farbenreichen, dabei doch schlanken „Parsifal“. Das Orchester hat sich offenbar ganz auf diesen Musizierstil eingestellt – ein enormer Unterschied zu dem vorher von Zubin Mehta geprägten Klangbild.
Drei Aspekte sind m.E. für Nagano besonders bezeichnend:
- Er ist gleichermaßen ein herausragender Dirigent von Opern und symphonischem Repertoire.
- Sein Repertoire ist ungewöhnlich breit gestreckt. Seit seinen Anfängen hat er sich stark der Musik des 20. Jahrhunderts zugewandt, viele Uraufführungen geleitet und sich ständig für weniger bekannte Werke der Moderne eingesetzt. Zum anderen hat er in Berlin und gelegentlich jetzt auch in München immer wieder Alte Musik in die Konzertprogramme integriert, auch solche vor Bach. Das klassisch-romantische Repertoire wird dabei nicht vernachlässigt, steht aber nicht dermaßen im Mittelpunkt wie bei anderen Dirigenten.
- Sein Musizierstil ist zwar durchaus „strukturbetont“ zu nennen, dabei sehr farbenreich und transparent (also „französisch“). Er ist aber immer wieder für Überraschungen gut, gerade was Tempofragen betrifft.
Nun zu einigen Einspielungen.
An erster Stelle nenne ich die einzige vollständige, in jeder Hinsicht grandios gelungene Aufnahme von Messiaens Oper „Saint Francois d’Assise“ mit dem Hallé Orchestra und José van Dam in der Titelrolle. Sie entstand 1998 im Rahmen der von Peter Sellars in der Felsenreitschule inszenierten Produktion bei den Salzburger Festspielen.
Nagano hat interessanterweise einige unvollendete Opern aufgeführt und eingespielt. So dirigierte er in Salzburg mit dem DSO Berlin Zemlinskys „König Kandaules“ und mit dem gleichen Orchester Aufführungen von Schönbergs „Moses und Aron“ und – wie bereits berichtet – in München Mussorgskys „Chowanschtschina“.
Aus seiner Zeit in Lyon möchte ich auf zwei exzeptionelle Einspielungen mit unvollendeten (bzw. von anderen vollendeten) Opern hinweisen. Zum einen die bisher einzige und gleichzeitig maßstäbliche Aufnahme von Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ in der Kaye-Fassung mit Rezitativen:
Zum anderen die vorzügliche Aufnahme von Busonis „Doktor Faust“, in der sowohl die alte Vervollständigung von Philipp Jarnach als auch die neue von Antony Beaumont enthalten ist:
Symphonisches Repertoire: Zunächst eine relativ frühe (1990) Strawinsky-Doppel-CD mit dem London Symphony Orchestra bzw. dem London Philharmonic, die beispielhaft Naganos Musizierstil zeigt (Feuervogel, Sacre, Perséphone, Symphonie für Bläser):
Deutsch-österreichische Symphonik: Bei Bruckner hat sich Nagano neben der Erstfassung der Dritten bezeichnenderweise der weniger gespielten Sechsten angenommen:
Von Mahler hat Nagano ganz zu Anfang seiner Zeit beim DSO Berlin eine vielbeachtete Dritte vorgelegt (inzwischen sehr preiswert zu haben), die besonders durch einen unglaublich sensibel und nuancenreich musizierten ersten Satz auffällt. Außerdem eine ganz außergewöhnliche Achte – trotz einiger sängerischer Schwächen und z.T. ausgesprochen langsamer Tempi ist das in ihrer bohrenden Intensität die Aufnahme, die mir das Werk ein wenig nähergebracht hat:
Was haltet Ihr von Nagano, von seinen Aufnahmen, wie habt Ihr Konzerte und Opernaufführungen mit ihm erlebt?
Viele Grüße
Bernd