Karajan vs. Rattle - Diktator vs. Demokrat ?

  • Lieber Musikfreunde,


    mit diesem Thread ist aus meiner Sicht die KARAJAN VERSUS ... Serie fürs erste abgeschlossen.
    Auf Grund etlicher Ablehnung der Karajan-Threatschwemme habe ich kurzzeitig erwogen das Projekt vorzeitig abzubrechen, allein der Ablehnung steht eine relativ starke Beteiligung gegenüber - ein Widerspruch an sich.
    Aber ich habe den dunklen Verdacht im Hinterkopf, daß es nicht eigentlich die Menge der Threads an sich ist, die die viele so aufregt, sondern der Dirigent um den sie sich drehen. Hätte ich beispielsweise Carlos Kleiber gewählt und 10 Threads über seine 7 Aufnahmen gestaltet - der Jubel wäre mir sicher gewesen......


    Warum ich gerade Ratltle als Kontrast gewählt habe liegt ja auf der Hand:
    Allen Ernstes hat die EMI geglaubt mit Rattle einen Dirigenten an der Hand (unter Vertrag) zu haben, der über ähnliches Charisma wie Karajan verfügt wie Karajan.
    Mit der Übernahme der Berliner Philharmoniker indes hat sich gezeigt, daß die Schuhe die er da übergestreift bekommen hat offenbar doch ein wenig zu groß für ihn sind, selbst seine Anhänger, die ihm, als er noch ein englisches Provinzorchester leitete, zugejubelt haben, sind seit dem Wechsel zunehmend kritischer geworden.


    Aber formulieren wir lieber das Thema:
    Über welche Eigenschaften verfügt Rattle, die ihn als "Karajan-Ersatz" prädestiniert erscheinen ließen ? Abbado verfügte je über dies Eigenschaften leider nicht. Wie sieht es mit Rattle aus ?
    Im Gegensatz zum bisherigen Rattle Thread soll hier an Karajan gemessen werden und auf seine neuesten Einspielungen - wenn möglich vergleichend eingegangen werden....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred.


    In gewisser Weise hinkt Dein Vergleich. Denn ich glaube, dass die von Dir formulierte Annahme, dass es bei einem Chefdirigenten der BPhil automatisch um einen Mann gehen muss, der Karajan möglichst ähnlich sein sollte, letztlich von Deinen Vorstellungen geleitet ist - nicht von denen der Musiker, die sich ihren Dirigenten wählen. "Karajan-Ersatz" ist insofern auch nur aus Deiner Sicht die richtige Maßgabe.


    Schon die Wahl von Abbado zeigte, dass der Typus gottgleicher Über-Dirigent nicht mehr gewünscht war - mit der Kür Rattles zeigt sich, dass dies nach wie vor gilt. Dass Abbado nicht über Karajans Eigenschaften verfügte, wie Du etwas nebulös in den Raum stellst, dürfte insofern richtig sein. Das Wort "Demokrat", das Du auf Rattle anwendest, könnte vor allem auch bei Abbado gelten. Ob dies zu Lasten seiner Ausstrahlung geht - ich denke nicht (und nur weil ich Karajan nie live erlebte, sage ich hier nicht: ganz im Gegenteil). Eine Randnotiz: Für den diesjährigen Auftritt Abbados bei den BPhil waren über das Internet überhaupt keine Karten mehr zu erwerben, das habe ich hier noch in keinem anderen Fall erlebt.


    Aber es geht ja um den anderen Demokraten, um Rattle. Ob die Schuhe des Chefdirigenten zu groß für ihn sind, ich weiß es nicht. Es ist richtig, dass zumindest hier bei Tamino eine gefühlte Mehrheit der von Dir gespiegelten Ansicht zuneigt, dass Rattle seine besseren Zeiten in England erlebte - da würde ich dann auch gar nicht von "zunehmend kritischer", sondern von "ablehnend" sprechen; die durchaus häufige Bezeichnung Rattles als "der Wischmob" lässt das ja deutlich werden. Da ich aus jener Zeit nicht allzu viele Aufnahmen kenne, kann ich das nicht beurteilen, ich sehe auch wenig Sinn darin, mich jetzt durch diesen Katalog zu arbeiten, so akademisch ist mein Interesse nicht.


    Auch was den direkten Vergleich mit Karajan angeht, fällt mir jetzt wenig Konkretes ein. Die Bruckner 4 von Rattle sagt mir nun auch nicht entscheidend mehr zu, als fast alle Bruckner-Einspielungen von Karajan. Ich kenne nicht das "Heldenleben" unter Karajan, schätze aber gleichwohl das von Rattle über die Maßen, weil er dort Ironie anbringt (auch wenn das nicht in Strauss' Sinne sein mag). Rattles Beethoven höre ich derzeit live und kann da abschließend noch nichts sagen. Bei Mahler ist er schon quantitativ seinem Vorgänger weit enteilt. Aber diesen Punkt können andere gewiss sehr viel profunder bewerten.


    Ich möchte dann noch anmerken, dass ich denke, dass Rattle der nachdenkliche Typ ist, der sich ein Werk auch abseits des Partitur-Studiums erschließen will. Seine grundsätzliche Herangehensweise an seine Arbeit scheint mir schon skrupulös zu sein. Und ich glaube auch, dass er erst jetzt begreift, was es bedeutet, Chefdirigent der BPhil zu sein. Nimmt man die von Loge andernorts hinreichend zitierten Passagen Rattles zu Karajan, so kommt dies für mein Empfinden auch zum Ausdruck. Gleichwohl wird Rattle ja gern vorgeworfen, ebenfalls ein Show-Man zu sein. Nun weiß ich nicht, ob man sagen kann, dass er Projekte wie "Rhythm is it" vorrangig im Interesse seines Gutmenschen-Images absolvierte, wasa ich aber weiß, ist, dass er auf dem Podium anders agiert als Karajan (so ich letzteren von Filmaufnahmen kenne). Rattle ist nicht als der Klangmagier unterwegs, der seinem Orchester sogar mit geschlossenen Augen seinen Willen aufzwingen kann. Wie Rattle selbst sagt, kann er Filmaufnahmen seines Dirigierens nicht ertragen, es sehe fürchterlich aus. So viel in Sachen "Selbstdarstellung". Zudem ist Rattle erkennbar bemüht um "moderne" Musik, das trennt ihn von Karajan - zum Glück.


    Abschließend eine Antwort Rattles auf die Frage im Tagesspiegel "Erinnern Sie sich an Ihr erstes Mal?" Das ist etwas abseitig formuliert, wir wissen aber gleich: Es geht um Rattles erstes Dirigat bei den BPhil.
    Rattle: "Oh ja! Mahlers Sechste, eins von Karajans absoluten Paradestücken. Der Klang des Orchesters ist wie eine glühende Walze über mich hinweggerollt, die haben gespielt wie im Konzert und nicht wie bei einer ersten Probe. Und dann wollten sie wissen, was ich anders machen würde. Die waren neugierig auf den Unterschied, auf die Differenz, auf Korrekturen! Damit haben sie mir von Anfang an zu verstehen gegeben, dass es den philharmonischen Klang nicht gibt. Das hat mich tief beeindruckt. Und tut es noch."


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Lieber Alfred,
    wie wir wissen, wählen die Berliner Philharmoniker ihren Chefdirigenten in einer demokratischen Abstimmung. Und nun überlegen wir einmal, wie es nach dem Tod Karajans zur Wahl Abbados kommen konnte. Dirigenten, die in die engere Wahl gekommen sind, waren Lorin Maazel (Diktator), Barenboim (Demokrat) und Abbado (Demokrat). Die Entscheidung fiel indessen aber nur zwischen Barenboim und Abbado.


    Was lernen wir daraus? - Nun. Daß das Orchester nach den Karajan-Jahren von diesem Dirigententypus einfach genug hatte. Was einzelne Orchestermusiker jetzt anläßlich des Jubiläums über Karajan sagen, tut nichts zur Sache. Das läuft unter "de mortuis..." und Vergangenheitsverklärung. Seinerzeit wollten sie jedenfalls nur Eines: Weg von Karajan.


    Das muß Gründe gehabt haben.


    Und zwar nachhaltige. Denn als Abbado zurücktrat, sagten die Musiker nicht etwa: "Jetzt haben wir den demokratischen Schwachsinn aber satt, wir brauchen wieder einen wie den Alten". Nein. Sie wollten wieder einen Demokraten und entschieden sich gegen den Karajan-nahen mit leichten diktatorischen Zügen ausgestatteten Mariss Jansons.


    Sind die Musiker verblödet? Haben sie keine Ahnung mehr, wer sie zu Höchstleitungen führt?


    Mitnichten. Nur weg von allem, was karajanisch ist, scheint mir eher das Motto zu sein. Dann schon lieber einen Briten, der nicht so sehr gut hört und nicht so wahnsinnig am Klang feilt, dafür aber ein breites Repertoire abdeckt und damit ein Mann für die Gegenwart ist.


    Ein sinnvoller Vergleich zwischen Karajan und Rattle ist meiner Meinung nach fast unmöglich, die beiden sind grundverschieden. Ähnlich sind sie sich nur insoferne, als weder der eine noch der andere besonders in die Tiefe geht, beide sind weniger abgründigen Interpreten sondern Wiedergabe-Maschinen. Dann aber beginnen schon die Unterschiede. Karajan war nur am Oberflächenglanz interessiert, Rattle schert um den nicht die Bohne. Karajan ebnete Details ein, Rattle macht alles hörbar. Rattle hat sich mit Alter Musik unter dem Aspekt "historische Aufführungspraxis" auseinandergesetzt, was für Karajan ein Tabu-Thema war. Rattle dirigiert ein breites Spektrum an zeitgenössischer Musik, was für Karajan ein Randthema war. Rattle engagiert sich für junge Komponisten, was Karajan überhaupt nicht interessierte, usw.


    Für mich ist die Bevorzugung gerade Rattles das Signal, daß für die Berliner Philharmoniker die Ära Karajan endgültig abgeschlossen ist. Gegenüber diesem klaren "Nie mehr wieder" sind die pro-Karajan-Bekenntnisse bestenfalls als Trost für die Karajan-Fraktion zu werten.


    :hello:

    ...



  • Lieber Edwin,


    Widerspruch in diesen zwei Punkten:


    1. Im letzten Konzert, das ich mit Rattle erlebt habe, war der Detailreichtum etwa von Beethovens 2. nicht zu hören, sondern ein glatter, flacher Allerweltsklang, der eher nach schlampiger Probenarbeit klang und einiges einebnete. Ein Oberflächenglanz entstand da zwar nicht, aber Mahlers 2. hängte er den IMO schon auf und machte daraus ein großes, funkelndes und lautes Spektakel.
    Ich weiß daher nicht, ob Rattle in Berlin überhaupt ein eindeutiges Ideal verfolgt.


    2. Ich halte Rattle im Gegensatz zu Dir für ein Weiterleben der Ära Karajan, womöglich nicht in musikalischer Hinsicht. Die medialen Qualitäten des Sir Simon sind aber so schlecht nicht, etwa denen von Herrn Jansons oder Herrn Thielemann weit überlegen. Daher hieß, so denke ich, der einzige Konkurrent Barenboim, der allerdings schon weit über jeglichen Zenith hinaus ist. Der süßlich lächelnde Rattle ist für mich mittlerweile ein ähnliches Marken-Konterfei wie der sich in die Kunst versenkende Meister mit geschlossenen Lidern und stolzer Haarpracht. Die Vermarktung des Orchesters und seines Leiters wirkt "demokratischer", klar, aber die Vermarktung war gerade nach Abbado aus meiner Sicht entscheidendes Kriterium. Und da lugt die lange Hand des Herbert doch hervor.


    LG,


    Christian

  • Zitat

    Denn als Abbado zurücktrat, sagten die Musiker nicht etwa: "Jetzt haben wir den demokratischen Schwachsinn aber satt, wir brauchen wieder einen wie den Alten". Nein. Sie wollten wieder einen Demokraten und entschieden sich gegen den Karajan-nahen mit leichten diktatorischen Zügen ausgestatteten Mariss Jansons.


    Durchaus nachvollziehbar.
    Ich würde auch den "bequemeren" Dirigenten wählen.


    Allerdings hat dieser "Demokrat" - so habe ich es gehört - sein Orchester "ausgemistet" und "verjüngt" und sich somit von den Gegnern der Moderne befreit. Nun befindet er sich unter "Gleichgesinnten"


    So weit so schlecht.


    Was ihn IMO mit Karajan verbindet ist, daß er als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker immer wieder mit den Wienern kokettiert - ja die allerwichtigste Aufnahme hat er mit den "Wienern" gemacht - Den Beethoven-Sinfonien Zyklus.


    Mariss Jansons


    Es ist eigenartig - aber ich bin der Meinung- ein Deutsches Orchester sollte einen deutschen Chefdirigenten haben. Meine Wahl wäre aus strategischen Gründen auf den "skandalumwitterten" Christian Thielemann gefallen (ich weiß daß den einige meiner Freunde im Forum nicht so sehr lieben - aber marktstrategisch wäre er die beste Wahl gewesen -


    Bertrand de Billy - wahrscheinlich die musikalisch beste Wahl -war zum Zeitpunkt der Besetzung noch zu unbekannt - und ist es wahrscheinlich heute noch. (?) Aber natürlich ist auch er kein Deutscher.


    Zum Thema "Diktatoren"


    Sie sind momentan aus der Mode, teilweise sogar posthum verhasst.
    Aber HÖCHSTLEISTUNGEN wurden und werden nur unter höchstem Druck vollbracht. In internationalen Konzernen greift man deshalb noch heute gerne auf solche Diktatoren (manche tragen Samthandschuhe) zurück.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Christian,

    Zitat

    1. Im letzten Konzert, das ich mit Rattle erlebt habe, war der Detailreichtum etwa von Beethovens 2. nicht zu hören, sondern ein glatter, flacher Allerweltsklang, der eher nach schlampiger Probenarbeit klang und einiges einebnete.


    Obwohl ich das Konzert nicht gehört habe, glaube ich Dir: Rattle ist nur noch die Verfallserscheinung seiner selbst. Aber ich meinte nicht den Rattle in seiner derzeitigen ruinösen Verfassung, sondern den Rattle wie er war, als er Chef in Berlin wurde. Damals arbeitete er wirklich noch an Details, und damals ging es ihm auch noch um Strukturen, wenngleich er sich nie als so briillanter Analytiker erwies wie etwa Boulez oder Gielen.


    Beim zweiten Punkt stimme ich Dir, wenn man die Komponente der musikalischen Interpretation, von der ich ausging, abzieht, völlig zu.


    :hello:

    ...

  • Lieber Alfred,
    Demokratie hat aber nichts mit Akzeptanz von Unwilligkeit zu tun. Als Rattle Birmingham übernahm, hatte er eine klare Linie, nämlich eine Erkundung des repertoires vom Barock bis zur Gegenwart ohne Schwerpunktsetzung. Das Orchester war etwas überaltert, einige Musiker weigerten sich, die ungewohnten Gefilde zu erkunden. Rattle ließ sie ersetzen. Was hätte er sonst tun sollen? Nur noch Händel, Beethoven und Elgar spielen, weil sein zweiter Trompeter und drei Bratschisten das so lieber gesehen hätten?
    In Berlin stieß Rattle zuerst auf ähnliche Widerstände seitens einiger Musiker, die ihn nicht gewählt hatten. Rattle tauschte sie aus, als ihr Widerstand seine Programmpolitik gefährdete. Ein Chefdirigent, der das nicht macht, gehört gefeuert.


    Jetzt bringt mich dieser Karajan-Thread noch dazu, Rattle zu verteidigen. Meine Verzweiflung steigt... ;( :( :)
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Es ist eigenartig - aber ich bin der Meinung- ein Deutsches Orchester sollte einen deutschen Chefdirigenten haben. Meine Wahl wäre aus strategischen Gründen auf den "skandalumwitterten" Christian Thielemann gefallen (ich weiß daß den einige meiner Freunde im Forum nicht so sehr lieben - aber marktstrategisch wäre er die beste Wahl gewesen -


    Das kann ich nicht nachvollziehen, da ein Großteil der Orchester inner- wie auch außerhalb Deutschlands international sind, das heißt dass eine deutsches Orchester - noch dazu so ein Spitzenorchester wie die Berliner - nicht zwangsweise von überwiegend deutschen Musikern gebildet wird. Warum dann der Dirigent einer Deutscher (oder eine Deutsche :untertauch:) sind muss, ist mir da schleierhaft.
    Hätten die Amerikaner so gedacht, hätten die heute bei weitem nicht soviele Orchester von Weltrang. Wichtiger ist, dass er mit dem jeweiligen Repertoire vertraut ist.


    Ob Thielemann marktstrategisch günstig wäre, wage ich zu bezweifeln. Denn ein skandalumwitterter Dirigent, läuft Gefahr außermusikalisch interessanter oder im Falle von Thielemann eben suspekt zu werden und gerade da lag doch eine der Vorteile Karajans. Und eine Überfigur wie Karajan ist heute nicht mehr attraktiv, da sich das Bild des Dirigenten gewandelt hat.
    Zudem täte sich ein Dirigent mit eher eingeschränktem Repertoire wie Thielemann schwer, nachdem Abbado die Tore zur Moderne weit aufgestoßen hat.
    Und wenn Jansons den Berlinern zu diktatorisch war, dann kam Thielemann sicher nichtmal in die engere Wahl.



    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Sind die Musiker verblödet? Haben sie keine Ahnung mehr, wer sie zu Höchstleitungen führt?


    Mitnichten.


    Vollste Zustimmung! Das ist ja auch der Grund, warum sich die Orchester um Karajan rissen und er mit den Philharmonikern aus Berlin und Wien, nicht die Geringsten ihrer Zunft, unvergleichlich Epoche machte!


    Loge

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ein sinnvoller Vergleich zwischen Karajan und Rattle ist meiner Meinung nach fast unmöglich, die beiden sind grundverschieden. Ähnlich sind sie sich nur insoferne, als weder der eine noch der andere besonders in die Tiefe geht, beide sind weniger abgründigen Interpreten sondern Wiedergabe-Maschinen.


    Abgesehen davon, dass ich das Doppelwort im Abschluss für eine vollkommen verunglückte Diktion halte, erscheint mir diese Behauptung auch inhaltlich verfehlt. Dirigenten sind in gewissem Sinne Wiedergabe-Medien. Wenn sie gerühmte Interpretationen eines Werkes gestalten, darf man getrost von einer tiefen Durchdringung des musikalischen Materials ausgehen (das ist Vorbedingung), das sie dann mit individueller Schwerpunktbildung und Gewichtung der Ausdrucksmittel, vielleicht auch modifiziert durch außermusikalische Ideen zum Erklingen bringen. Und selbst wenn man Dirigenten allzu kühl als "Maschinen" bezeichnen wollte, so würde diese Umschreibung eher auf emotionslose Dirigenten wie Boulez oder auch Gielen zutreffen, die jede Musik im Sinne totalitärer Tendenzen der Avantgarde unterschiedslos einer bedingungslosen und scharfkonturierten Rhythmik sowie nach den Prinzipien einer vertikal ausbalancierten Transparenz sezieren. Boulez selbst legte Wert darauf nicht Dirigent, sondern "Koordinator" oder, noch lieber, "Operateur" genannt zu werden.


    Veranschaulichendes Beispiel (unter Verwendung der kursiv hervorgehobenen, sinnfälligen Umschreibungen aus Peter Uehlings Karajan-Biografie): Schönberg, Variationen für Orchester op. 31, IV. Variation (Walzertempo): Karajan (DG) gestaltet die Variation sehr gestisch, ein stilisierter Tanz wird vorstellbar. Nicht so bei Boulez (Sony), der seine volle Aufmerksamkeit der Balancen widmet. Entscheidend ist der Schluss, in dem die Musik in einem poco ritardando ausklingt. Bei Karajan hat man den Eindruck, dass die Musik wie untröstlich zerbricht [1:06 - 1:11]. Bei Boulez wirkt die gleiche Stelle wie ein mechanisches Bremsen [1:11 - 1:18]. Es ist, als ob ein ICE zum Stehen kommt - maschinell.


    Mir sind derlei mechanistische Wiedergaben, die bei Boulez aufgrund seiner Ausdrucksprinzipien öfter entstehen, weder bei Karajan noch bei Rattle bekannt. Letztgenannte sind nach meinem Empfinden stets bemüht, der Musik im Zuge ihrer interpretatorischen Umsetzung noch eine humane Dimension beizugeben, den (technischen) Notentext zu "vermenschlichen".


    Loge

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    da sich das Bild des Dirigenten gewandelt hat.


    Ich lese solche Statements immer mit einem gewissen Misstrauen - ebenso wenn ich in der Zeitung lesen muß was "die Bevölkerung" will.


    Ich finde hier selten Übereinstimmung mit meinen Wünschen -
    vielmehr wird das als "Wille des Volkes" verkauft, was den Regierenden und der Wirtschaftsmafia in den Kram passt.


    Das Publikum sähe sehr gerne "autokratische Leitfiguren" - wie die Hinneigung zu "Gurus", "Kritikerpäpsten", "Modezaren" und dergleichen beweist.


    Amerikanische Orchester sind ein gutes Beispiel für ewas, das ich nicht will - sie ind eine Promenadenmischung aus zusammengewürfelten Musikern aller Kontinente - und haben somit kein einheitliches Profil. Sie mögen perfekt spielen, sind in der Regel aber "auswechselbar" wie jedes Werkzeug.


    In Europa gibt es hingegen noch einige Orchester mit Eigenklang und eigenständischer Musikauffassung. Soweit mir bekannt kommen die Wiener Philharmoniker vorzugsweise aus dem Österreich-ungarischen bzw böhmischen Raum.


    Daß Abbado die Tore zur Moderne weit aufgestoßen hat, hat ihm niemand gedankt. Als er die Berliner verließ, konnte man lesen, daß mit Rattle jetzt endlich Frischer Wind eingekehrt sei.


    Als CELIBIDACHE hingegen starb, oder Sandor VEGH - beides konservative Musiker - da war das für deren jeweilige Orchester eine mittlere Kathastrophe.......


    Rattle - so scheint es mir jedenfalls - kann (zumindest medial) die Erwartungen nicht erfüllen die in ihn zu Beginn gesetzt wurden....
    (ich spreche von Tonaufnahmen)


    Der Dirigent ist das Zugpferd des Orchesters - Orchester mit andauernden Dirigentenwechseln bleiben zumeist farblos.
    Eine Ausnahme - wie könnte es auch anders sein - stellen natürlich einmal mehr die Wiener Philharmoniker dar. SIE sind die Stars - nicht der Dirigent....



    mfg aus Wien
    ALfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich wollte nur noch anfügen, daß ich auch unter Rattle einige Sternstunden mit den Philharmonikern erlebt habe (jüngst Mahler 9). Ich empfinde ihn nicht als ruinös, sondern als zwischen Schlamperei und Überzeugendem pendelnd. Vielleicht bin ich da auch zu gutwillig.


    LG,


    Christian


    PS: Thielemann hätte ich in einigem Repertoire als Totengräber empfunden, bei dem Hautgout, der ihn umspielt, auch nicht als kluge Marketingmaßnahme, obwohl sein alt gewordenes Westberliner Publikum ihn sicher gern gesehen hätte.

  • Hallo.


    Als ruinös mag auch ich Rattle nicht empfinden (danke für den berechtigten Hinweis auf Mahlers 9., Christian). Warum er aber in Marketing-Fragen quasi auf Augenhöhe mit Karajan sein soll, geht mir nicht ganz ein. Ich denke, dass Karajan erkennbar mehr am Zelebrieren seiner selbst gelegen war, als es bei Rattle der Fall ist. Bei aller Eitelkeit - da liegen für mein Empfinden Welten dazwischen.
    Dass wiederum Rattle in Marketing-Dingen überhaupt wahrzunehmen ist, folgt meines Erachtens schlicht aus seiner Position. Ich denke, dass jeder Chefdirigent der Berliner Philharmoniker besondere Beachtung erfährt - und sich, nebenbei bemerkt, besonderer Kritik sicher sein darf, da er eines der bekanntesten Orchester der Welt leitet.


    Der entscheidende Unterschied besteht für mich aber im Repertoire. Rattle will neben dem klassischen und spätromantischen Kern-Repertoire auch modernere oder allgemein unbekanntere Werke vorstellen. Ich begrüße das. Dass er damit an sich ein größeres Risiko eingeht, dürfte dabei klar sein; aber lieber Risiko denn Nivellierung als Prinzip.


    Gruß, Ekkehard.


    P.S.: Auch wenn ich einer der wenigen Thielemamn-Freunde hier bin - mittlerweile könnte ich ihn mir als Chef der BPhil auch nicht mehr vorstellen. Dazu ist sein Repertoire schlicht zu eng. In München (und Bayreuth?) scheint er mir da letztlich besser aufgehoben.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Lieber lohengrins,


    empfandest Du Abbado als ähnlich marketingträchtig wie heute Rattle?


    Ich glaube auch nicht, daß Rattle Karajan im Erfolg gleichkommt, aber das "Sich-in Szene-setzen" (auf andere Weise) betreibt er aus meiner Sicht mit ähnlicher Akribie wie weiland der Herr Generalkapellmeister. Natürlich spielt der Posten eine Rolle, das ist es aber nicht allein (siehe Kultfiguren wie Kleiber).


    Dennoch: die neue Medienstrategie der "offenen Tür" mit Charming Simon allerorten ist schon bemüht, die "Macht der Bilder" intensiv zu nutzen. So gab es das unter Abbado nicht.


    Vermutlich gierte das Publikum aujch stärker nach der unnahbaren Autorität Karajan, als es heute nach dem verfügbaren Sonnyboy Rattle jiepert. Der Aufwand ist aber beträchtlich, ihn zur stilisierten Marke zu machen.


    LG,


    Christian

  • ... und ich glaube auch, daß es viel Abonnenten geben wird, denen seine "Hang zu Moderne" mißfällt. Und je nach Einfluß und Macht dieser Gruppe werden sie motzen oder versuchen ihn zu Fall zu bringen.....


    Karajan hat sich natürlich auch nicht selbst inszeniert -
    Das haben andere für ihn getan -
    und er ließ es geschehen, als er begriffen hatte wie angenehm und vor allem nützlich das für ihn war.
    Zu Beginn seiner Karriere war er nämlich introvertiert und medienscheu.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Christian,


    nein, Abbado war natürlich nicht so marketingträchtig. Ich denke aber, dass das Marketing in der Position einfach dazu gehört. (Und es wäre durchaus einen Extra-Thread wert, darüber zu sinnieren, warum - abgesehen von seiner schweren Erkrankung - Abbado so früh ging. Ich denke, dass man nicht vergessen sollte, dass Abbado bis zur Verkündung seines Abschieds weder im Orchester noch im Publikum so außerordentlich beliebt war, wie es heute der Fall ist. Wobei ich mir durchaus gewünscht hätte, dass er geblieben wäre.)


    Ich denke, dass die "Medienstrategie der offenen Tür" auch ein wenig ein Fall von Notwehr ist, wenn man sich neuem Publikum öffnen will resp. es überhaupt erreichen will (ich verweise da auf das "alt gewordene West-Berliner Publikum"). Ich erinnere mich jedenfalls noch gut an das Familienkonzert in der Arena; so viele Kinder im Saal und gleichwohl so viel Disziplin, wie ich sie keineswegs bei jedem Konzert in der Philharmonie erlebe. Mit einem unnahbaren Karajan ginge das nicht.


    Letztlich habe ich bei Rattle eher das Gefühl, das mit ihm für die Berliner Philharmoniker geworben wird. Es geht dabei aber weniger um die "Marke Rattle" als es früher um die "Marke Karajan" ging (die auch wichtiger und größer schien als das eigene Orchester).


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Zitat

    Zitat Loge
    Veranschaulichendes Beispiel: Schönberg, Variationen für Orchester op. 31


    Das ist ein denkbar schlechtes Beispiel. Boulez hat, was jeder halbwegs Informierte weiß, ein gespaltenes Verhältnis zu Schönberg (-> Essay "Schönberg ist tot"). Prinzipiell begreift Boulez die gesamte Musikgeschichte als einen Strom, der durch einzelne Phänomene verdeutlicht wird. Ihm geht es nicht um die romantische Einstellung "Ach, wie schön", sondern um Stationen einer Entwicklung, die für ihn darzulegen sind. Der Interpret hat eine Verantwortung gegenüber der Musikgeschichte, nicht gegenüber seinem eigenen Geschmack. Die Interpretation hat sich also verwandelt von einer rein werkbezogenen zu einer philosophisch-entwicklungsgeschichtlichen.
    Innerhalb der nimmt das Schönberg-Werk in einem bestimmten Aspekt eine für Boulez relevante Position ein. Dieser Aspekt ist der Umgang mit dem Motiv bzw. die Verwandlungsmöglichkeiten der Reihe. Boulez geht dabei, wie stets, minutiös von der Partitur aus. D.h., sein oberstes Gebot ist, das Notierte zu realisieren, während die persönliche Interpretation eine untergeordnete Rolle spielt. Karajan hingegen liest auch in dieses Werk seine eigenen Klangvorstellungen hinein, die etwa in der 2. Variation ab Partitur Takt 90, Einsatz Posaune - aber keineswegs nur hier - so nicht notiert sind. (Im Gegensatz zu Loge, der das sonst heiß liebt, enthalte ich mich einer "Falsch-richtig-Diskussion", ich stelle nur fest.)

    Und jetzt kommt meine furchtbare Einstellung: Mir ist Schönberg wichtiger als Karajan. Ist nett gewesen von Karajan, seine Fans nicht nur so nebenbei mit Marschmusik und Nationalhymnen zu beglücken, sondern sie auch einmal Musik der Wiener Schule kosten zu lassen, ist in dieser abgeschliffenen Aufführungsweise (dissonierende Stimmen sind auch dann nur Farbwert, wenn Schönberg sie eindeutig als HS, also Hauptstimme, bezeichnet) sowieso nicht so schlimm.


    Wenn es um diese Wiedergabe des Notierten geht, der allen anderen Parametern der Vorzug zu geben ist, weil das Notierte sozusagen die Mindestanforderung an einen Interpreten darstellt, ist im Fall der Variationen op. 31 übrigens auch Rattle der Karajan-Einspielung beträchtlich vorzuziehen.


    Womit der Thread vielleicht nach einer gehässigen, gleichwohl unsachlichlichen Nebenbemerkung wieder dort gelandet ist, wo er hinwollte: Bei Karajan kontra Peter - äh: Rattle.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    ... und ich glaube auch, daß es viel Abonnenten geben wird, denen seine "Hang zu Moderne" mißfällt. Und je nach Einfluß und Macht dieser Gruppe werden sie motzen oder versuchen ihn zu Fall zu bringen.....


    Das glaube ich auch.


    Würde heute noch jemand die Berliner Philharmoniker als das beste Orchester der Welt bezeichnen?
    Unter Karajan wurde ihnen diese Spitzenstellung viel häufiger zugeschrieben.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Alfred,

    Zitat

    und ich glaube auch, daß es viel Abonnenten geben wird, denen seine "Hang zu Moderne" mißfällt.


    Das verstehe ich jetzt aber nicht. Im Thread "Herbert von Karajan zum 100. Geburtstag - Was bleibt?" unternimmt Loge einen bei ihm wie immer beredten und sicherlich auch kenntnisreichen Versuch zum Nachweis, daß Karajan ein wesentlicher Förderer der zeitgenössischen Musik war.


    Was nebenbei für meinen Vorschlag spricht, Threads stärker zu bündeln. Sonst widersprechen einander die Karajan-Fans noch in der Argumentation zugunsten ihres Idols. Und dann wird's noch absurder, als es ohnedies schon ist... :D


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Karajan hingegen liest auch in dieses Werk seine eigenen Klangvorstellungen hinein, die etwa in der 2. Variation ab Partitur Takt 90, Einsatz Posaune - aber keineswegs nur hier - so nicht notiert sind.


    Ich habe diese m. E. unrichtige Behauptung im Schönberg op. 31 Thread erwidert, denn hier wäre die weitergehende Diskussion OT.

    Loge

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Lieber Alfred,


    Das verstehe ich jetzt aber nicht. Im Thread "Herbert von Karajan zum 100. Geburtstag - Was bleibt?" unternimmt Loge einen bei ihm wie immer beredten und sicherlich auch kenntnisreichen Versuch zum Nachweis, daß Karajan ein wesentlicher Förderer der zeitgenössischen Musik war.


    Ich gaube nicht, dass Alfred damit Recht hat. Verfolgt man das aktuelle Programm der Berliner Philharmoniker, so fällt auf, dass es, wie in den 60er und 70er Jahren unter Karajan (in den 80er Jahren hat Karajan oftmals nur noch ein Werk pro Abend aufgeführt) in einer Mischung aus Zeitgenössischem und "Klassikern" zusammengestellt ist. Dass das schon bei Karajan so war, habe ich im Thread "Bernstein vs. Karajan" mit Aufführungszahlen näher ausgeführt. Wolfgang Stresemann hat das auch verschiedentlich bestätigt. Im Thread "Herbert von Karajan zum 100. Geburtstag - Was bleibt?" habe ich nur die Worte Flimms zitiert, der Karajan als einen wesentlichen Förderer zeitgenössischer Musik preist. Seine Worte leuchten auch unmittelbar ein, denn es ist bekannt, dass Karajan der zeitgenössichen Musik aufgeschlossen war (auch wenn er selbst das Meiste nicht dirigiert hat). Und als einer der maßgeblichen Leiter eines der bedeutendsten Musikfestivals seiner Zeit, der Salzburger Festspiele, kommt es nicht von ungefähr, ihn als wesentlichen Förderer zu bezeichnen. Hierin unterscheidet sich Karajan dem Grunde nach nicht so sehr von Rattle, wobei letzterem natürlich entgegen kommt, dass seine Ausbildung in die Zeit der Avantgarde fällt, so dass er mit der Neuen Musik groß wurde.


    Loge

  • Na ja, Karajan als "Förderer Neuer Musik" ist nun wirklich ein wenig unsinnig. Karajan hat einiges an Neuer Musik aufgeführt, vor allem in seinen jüngeren Jahren, später hat er dann zurückgeschaltet. Nachweisbar ist jedenfalls, daß sich Karajan (sieht man von Honeggers Zweiter und Dritter Symphonie und Schostakowitschs Zehnter ab, wobei Honegger eigentlich schon als Klassiker galt) für kein einziges dieser Werke wirklich eingesetzt hat. Er hat nichts davon aufgenommen, was bei seinem Aufnahme-Pensum eigentümlich ist, nichts davon mehrfach gespielt. Davon leite ich ab, daß Karajan entweder nur einer in Wahrheit lästigen Moderne-Pflicht nachkommen wollte oder ein für einen so bedeutenden Dirigenten bemerkenswert schlechtes Gespür für die Auswahl moderner Komponisten gehabt hat.
    Übrigens ist ja auch die Uraufführung von Orffs "De temporum finde comoedia" zuerst eine Verhandlungssache zwischen Verlag und Festspielleitung gewesen, dann wollte Karajan Wiedergutmachung an Orff leisten, da er ja die Uraufführung der "Trionfi" verbockt hatte, Orff war mit Karajan unglücklich, den er nicht ausstehen konnte, Karajan mit dem Werk, das er, der ja eigener Aussage zufolge keine besondere literarische Bildung hatte, nicht wirklich verstehen konnte. Jedenfalls machte die musikalische Einstudierung Gerhard Lenssen und Karajan übernahm lediglich ab einem bestimmten späten Probenstand (Quelle: Achtbändige Orff-/Auto-/Biographie "Leben und Werk).
    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    mit deinen Ausführungen hast du weitesgehen recht, aber, was Loge meinte, ist der Tatbestand, dass er die Neue Musik tatsächlich förderte, auch wenn er in den letzten Jahren sehr wenig aufführte oder aufnahm.


    Dennoch: gerade bei den Salzburger Festspielen hätte er die Möglichkeit gehabt, als Chef dieser Festspiele die Neue Musik zu blockieren, oder auf ein ganz geringes Minimum zu reduzieren. Das tat er jedoch nicht. Im Gegenteil: bei den Festspielen gab es viele Ur- und Erstaufführungen sinfonischer, vokaler und Opern-Werke.


    Dass du jedoch immer und immer wieder Orff in die Runde wirfst, finde ich nicht gut. Denn es ist ein Einzefall, der aber immerhin belegt, dass Karajan selbst Neue Musik aufführen wollte!



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Hallo Liebestraum,
    das ist ja das Problem: Er förderte die Neue Musik eben nicht. Er machte hie und da Uraufführungen, ließ aber sogar Werke links liegen, die ihm eigentlich entsprechen hätten müssen (manches von Henze, von Einem, Blacher, Messiaen etc.).
    Ein Dirigent, der Neue Musik fördert, setzt sich für sie auch durch Aufnahmen ein (Karajan konnte sich aussuchen, was er aufnehmen wollte!) und/oder durch wiederholte Aufführungen, was Karajan meines Wissens nach nur mit Schostakowitschs 10. Symphonie machte. Vielleicht kommen noch dre, vier Stücke hinzu, aber sehr viel ist das insgesamt nicht.
    Vielmehr betrachtete Karajan die Aufführungen von zeitgenössischer Musik als lästige Pflicht und handelte danach, wodurch auch Komponisten wie Sutermeister, Berger und von Einem konsterniert waren. Tatsächlich findet man kaum einen Komponisten mit Ausnahme von Francis Burt, der wirklich vorteilhaft über Karajans Aufführung von einem seiner Werke sprach oder spricht. Lediglich Schostakowitsch und Sibelius sind Ausnahmen, aber deren kritische Bemerkungen über Dirigenten ihrer Werke halten sich bekanntlich auch sonst in allerallerengsten Grenzen.
    Und wie Karajan in Salzburg neue Werke, die er nicht dirigierte, behandelt hat, ist auch nicht unbedingt ein Ruhmesblatt für ihn. Sämtliche Proben hatten sich nach Karajans Wünschen zu richten. Und wenn ein Werk mehr Proben gebraucht hätte - dann war halt nichts zu machen, weil Karajan nahm sich selbst immer noch eine Spur wichtiger als etwa Henzes "Bassariden"...
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Vielmehr betrachtete Karajan die Aufführungen von zeitgenössischer Musik als lästige Pflicht und handelte danach


    Ich kann das gut verstehen.
    Was ich NICHT verstehe ist, daß man ihn daran misst.
    Es ist doch das Recht jeden Künstlers Dinge zu mögen oder nicht zu mögen. Im Falle Karajan bildeten IMO Künstler und SEIN Publikum eine ideale Symbiose.....


    Ich werde doch nicht Werke, die ich selbst nicht mag - und MEIN Publikum auch nicht mag forcieren. Die Ablehnung zeitgenössischer Musik ist allenfalls ein Geschmacksfrage - aber keine Qualitätsfrage...


    Ich sehe das bei jungen Interpreten - wo kjeder in seinen Intervies beton, wie sehr ihm die Zeitgenössische Musik am Herzen liegt.


    Kein Wunder - ohne solche Aussagen bigts keine Plattenverträge...


    Oder kennt jemand einen jungen Dirigenten oder Solisten, der sich öffentlich traut zu sagen, daß er zeitgenössiche Musik ABSCHEULICH findet ????


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Rattle ist nur noch die Verfallserscheinung seiner selbst. Aber ich meinte nicht den Rattle in seiner derzeitigen ruinösen Verfassung:


    hallo, edwin, warum glaubst du, ist das so. was geschah/geschieht mit einem dirigenten, der früher einmal in england erhebliches geleistet hat? ausgebrannt? offenbarungseid des überfordertseins? keine künstlerische kraft mehr?


    leider ist also tatsächlich eingetreten, was ich schon vor jahren vorhergesagt und vor langem schon im forum gepostet habe ...daß ich mit größtem schrecken die berufung zum chefdirigenten vernommen hatte und nicht nur einen überforderten dirigenten, sondern - noch schlimmer - den berlinern selbst einen niedergang vorgesagt habe. vom einstmal wunderbaren klang ist m.e. fast nichts mehr übrig - ein orchester wie so viele andere.... ein drama ...

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Lieber klingsor,


    ob das, was Du vorhergesagt hast, eingetreten ist, würde ich zumindest nicht als Faktum darstellen. Also: Die Berliner Philharmoniker als Allerwelts-Klangkörper, die ihren alten (vermutlich karajan'schen) Glanz verspielt haben? Ich denke nein.
    Wie die von einem Journalisten angezettelte Diskussion um Rattles Arbeit samt Nennung der Nachfolge-Kandidaten Barenboim und Thielemann gezeigt hat, ist die Unzufriedenheit mit Rattle nicht so groß, wie von manchem gewünscht wurde. Die entsprechende Debatte entpuppte sich als Sturm im Wasserglas und führte keineswegs zu Rattles Demission.
    Damals ging es um etwas, das auch Du angesprochen hast - die Befürchtung, dass dieses Vorzeige-Orchester seinen Klang einbüßen könnte; die Streicher würden mehr und mehr ausgedünnt, das (teutonisch) Schwere (Verschwiemelte) würde verloren gehen. Ist das so? Zum Teil vermutlich schon. Rattle verfolgt meines Erachtens tatsächlich eine andere Klang-Vorstellung als Karajan, transparenter, weniger erdenschwer, weniger ätherische Streicher-Schönheit.
    Ist ihnen deshalb der Klang abhanden gekommen? Ich denke nicht. Zum einen: Nimmt man den "richtigen" Dirigenten, dann liefert das Orchester nach wie vor eine unglaubliche weite Palette an samtenen Klangfarben, dann können die Streicher bei Bedarf schwelgen und die Musik tragen - man nehme Thielemann und ein Werk von Strauss, zum Beispiel.
    Zum anderen: Definieren sich die Berliner tatsächlich über diesen "einen" Klang? Ist es nicht vielleicht die solistische Meisterschaft des einzelnen, die einen technisch perfekten und im Verbund (und bei treffendem Dirigat) staunenswert homogenen Klang (das wäre dann übrigens durchaus ein Erbe Karajans) erreichen kann?
    Letztlich hat sich das Orchester für mein Empfinden insofern verändert, als dass es etwas weniger staatstragend daherkommt, mehr Risiko geht und dem schönen Stillstand das unerwartet Neue vorzieht. Ich begrüße das in jeder Hinsicht.


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Hallo Lohengrins,


    ich teile leider die Befürchtungen, die Klingsor ob des "Gesichtsverlustes" der
    Berliner Philharmoniker geäussert hat, durchaus, was bei mir letztendlich dazu geführt hat, daß ich mein Uralt-Abo von 1978 nach einem Jahr Rattle kündigte, was immerhin bei mir schon etwas heissen will, da dieses selbst 10 Jahre Karajan in seiner Spätphase NICHT schaffte. :D


    An die Abbado-Jahre erinnere ich mich wirklich gerne als Zeit einer großartigen Orchesterkultur und wenn mir heute, was zugegeben selten vorkommt, der Sinn nach ätherischer Streicher-Schönheit oder Schwelgen im Wohlklang zumute ist, dann geh ich nicht in die Philharmonie sondern fahre nach Leipzig zu Chailly !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Lieber Klingsor,

    Zitat

    hallo, edwin, warum glaubst du, ist das so. was geschah/geschieht mit einem dirigenten, der früher einmal in england erhebliches geleistet hat? ausgebrannt? offenbarungseid des überfordertseins? keine künstlerische kraft mehr?


    Es gibt, glaube ich, Dirigenten, die nur dann wirklich gut sind, wenn sie kämpfen. Der Kampf ist es, der ihr Feuer entfacht und ihre künstlerische Kraft ins Unermeßliche steigert. Zu diesen Dirigenten gehört Rattle.
    In Bournemouth mußte er kämpfen, nämlich um seine eigene Position - er war jung, praktisch unbekannt, und er hatte Ideen, die damals in England noch shocking waren.
    In Birmingham kämpfte Rattle um die Positionierung seines Orchesters - und um die seines Repertoires. Er war nicht nur ein unermüdlicher Kämpfer für die zeitgenössische Musik, sondern auch für entlegenere Werke aus früheren Zeiten.
    In Berlin braucht Rattle nicht mehr zu kämpfen: Er gilt als Star, das Orchester ist seit den Tagen Furtwänglers positioniert, seine Programmpolitik ist weitgehend akzeptiert.
    Dazu kommt, daß Rattle ein unglaubliches Pensum an Werken absolviert. Er hat gleichwohl eine brillante rhythmische Auffassungsgabe und ein faszinierendes Talent, ein Werk schon beim ersten Lesen in den Grundzügen zu erfassen. Angesichts seines Arbeitspensums läßt er es nun zunehmend dabei und ersetzt seine frühere Detailarbeit, bei der es wirklich darum ging, ein Werk in allen darstellbaren Facetten zu erfassen, durch bestimmte Manierismen, neigt also, ganz wie Karajan, dazu, jedem Werk seinen eigenen Rattle-Stil überzustülpen - und das mit zunehmender Ungenauigkeit der Partiturwiedergabe.
    Übrigens war Rattle schon früher nicht sehr interessant, wenn er Klassiker dirigierte: Ich habe einige Aufnahmen aus Birmingham, die bestenfalls "lauwarm" sind. In Berlin dürfte man auf einen großen Namen hereingefallen sein, vielleicht auch auf Rattles geschickt platzierte Koketterie, er werde nach Birmingham bei keinem anderen Orchester Chefdirigent werden (welche Leistung, ihn doch zu gewinnen...!) usw.
    Meiner Meinung nach wäre es für Berlin und Rattle jetzt am besten, man würde sich langsam voneinander verabschieden, ohne Schmutzwäsche zu waschen, das haben beide Seiten nicht notwendig. Und dann sollte das Orchester vier Dirigenten in die engere Wahl nehmen: Barenboim, Jansons, Nagano und Chailly, wobei vereinfacht gesagt Barenboim vergangenheitsorientiert wäre (das ist a priori nichts Schlechtes), Jansons und Chailly gegenwartsorientiert und Nagano (eine vielleicht zu riskante?) Investition in die Zukunft wären.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    In Bournemouth mußte er kämpfen, ...
    In Birmingham kämpfte Rattle ...
    In Berlin braucht Rattle nicht mehr zu kämpfen: Er gilt als Star, das Orchester ist seit den Tagen Furtwänglers positioniert, seine Programmpolitik ist weitgehend akzeptiert.


    Das glaube ich nicht. Es ist schwer, überhaupt in eine solche Position zu gelangen. Aber noch schwerer ist es, sie über einen längeren Zeitraum zu halten. Man darf nicht vergessen, dass die Berliner Philharmoniker neben ihrem jeweiligen Chefdirigenten schon immer und permanent auch von vielen anderen Spitzendirigenten geleitet werden. Wenn der "Chef" in diesem Umfeld künstlerische (oder selbst körperliche) Schwächen zeigt, ist er bald Geschichte. Eine solche Position ist nicht garantiert, egal was in Verträgen steht.


    Zitat

    durch bestimmte Manierismen, neigt also, ganz wie Karajan, dazu, jedem Werk seinen eigenen Rattle-Stil überzustülpen


    Gleiches lässt sich von Furtwängler, Tocanini, Bernstein, Boulez, Harnoncourt und vielen anderen sagen.


    Zitat

    - und das mit zunehmender Ungenauigkeit der Partiturwiedergabe.


    Das kann ich nicht glauben.

    Zitat

    Übrigens war Rattle schon früher nicht sehr interessant, wenn er Klassiker dirigierte:


    Ich meine auch, dass Rattle die Musik des 20. Jahrhunderts am besten liegt. Für ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker, dessen Aufgabe als nationale Institution nicht zuletzt auch darin besteht, die "große Tradition" am leben zu halten, war Rattle mit seiner Biographie m. E. noch nie der richtige Mann.


    Zitat

    In Berlin dürfte man auf einen großen Namen hereingefallen sein, vielleicht auch auf Rattles geschickt platzierte Koketterie, er werde nach Birmingham bei keinem anderen Orchester Chefdirigent werden (welche Leistung, ihn doch zu gewinnen...!) usw.


    Ich glaube nicht, dass man auf ihn reingefallen ist. Man wollte Neues erschließen und medial mit ihm gut positioniert sein. Beides hat er eingelöst. Falsch eingeschätzt hat man wohl seine Fähigkeiten, den Standard eines Spitzenorchesters im klassisch-romantischen Repertoire zu erhalten und ein solches Orchester weiter zu formen.


    Zitat

    Meiner Meinung nach wäre es für Berlin und Rattle jetzt am besten, man würde sich langsam voneinander verabschieden, ohne Schmutzwäsche zu waschen, das haben beide Seiten nicht notwendig.


    Sehe ich auch so. Auch wenn es mir um ihn leid tut, weil ich ihn mag.


    Zitat

    Und dann sollte das Orchester vier Dirigenten in die engere Wahl nehmen: Barenboim, Jansons, Nagano und Chailly, wobei vereinfacht gesagt Barenboim vergangenheitsorientiert wäre (das ist a priori nichts Schlechtes), Jansons und Chailly gegenwartsorientiert und Nagano (eine vielleicht zu riskante?)


    Nagano wäre eine Fortsetzung Rattles. Chailly eine Fortsetzung Abbados. Jansons zu riskant. Barenboim hat es bisher nicht bewiesen, dass er mit den Berlinern Außergewöhnliches leistet, warum dann in Zukunft. Der Mann, der vielleicht anknüpfen könnte an die große Zeit und das Beste aus diesem Orchester herausholen könnte, ist Thielemann 8o (Ich weiß sehr wohl, dass einige hier über dieses Votum herfallen werden, aber die dabei genannten Gründe sind ja ganz überwiegend außermusikalische, kulturpolitische und deshalb zweitrangig).


    Loge

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose