Erfurt, "Ballo", Verdi, 12.04.08

  • Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ wurde 1859 in Rom uraufgeführt. Gegenstand des Stückes sollte eigentlich die Ermordung König Gustav III. von Schweden sein, aber die Zensur zwang Verdi dazu, seine Oper ins ferne Amerika, nach Boston, zu verlegen – ein Königsmord auf der Bühne war den zeitgenössischen Politikern zumindest suspekt und so wurde aus dem schwedischen König Gustav Riccardo, der Gouverneur von Boston.


    Die Neuinszenierung des „Ballo“ am Theater Erfurt lag in den Händen von Johann Kresnik, ein Garant dafür, dass vieles anders aussieht, als man das vielleicht gewohnt ist oder erwartet hätte – ein wie auch immer definierter „Skandal“ ist die Aufführung nicht geworden.


    Kresniks Inszenierung zeigt ein angedeutetes Amerika nach dem 11.09.2001, ein Land, das anfängt, aus den Fugen zu geraten. Neben der Schicht der Herrschenden und so etwas wie einer Mittelschicht wird man immer wieder die Armen sehen, diejenigen, die nichts haben, die vor allem, keine Chance bekommen, am Reichtum zu partizipieren.


    Auf der Bühne sieht man grau-in-grau die Gebäudetrümmer der Zwillingstürme, Autowracks sind zu erkennen, über allem liegt Rauch.


    Von links kommen während des Vorspiels nackte Menschen beiderlei Geschlechts herein, sie tragen Mickey-Mouse-Masken und ihre Körper sind mit Asche überzogen, wie pervertierte Lemuren sehen sie aus, ein gespenstischer Zug ist das, der in völliger Ruhe, die Masken dem Publikum zugewandt, am Zuschauer vorbeizieht.


    In der Bühnenmitte erkennt man Amelia in einem schicken Goldlamékleid, die sich die Pulsadern öffnet. Schon hier wird klar, dass Amelia die tragende und auch tragische Figur der Handlung ist. Die Frau zwischen zwei Männern, dem durchaus an der Macht interessierten Renato und dem Regierungsschef Riccardo.


    Menschen kommen aus den Trümmern – Finanzdienstleister und Militärs, es ist heiss und bald fangen die ersten an, sich die Hemden auszuziehen und sich mit denen Luft zuzufächeln.


    Immer wieder fallen den ganzen Abend über von oben aus dem zerstörten Gebäuden Fetzen herunter.


    Die Führungsschicht vergnügt sich derweil beim Saunieren: in Bademänteln kommt sie herein und die Handtücher, die um die Hüften geschlungen wurden zeigen schon auch mal den Dollarschein.


    Im Hintergrund schickt Amelia ein goldenes Double in den Ring, dass sich auch sogleich Riccardo andient. Fragen tauchen auf, wie tief eigentlich die Beziehung zwischen Amelia und Riccardo ist, oder ob diese überhaupt tragfähig sein kann.


    Bei all dem bleibt Kresnik ganz nah an der Musik. Das ist überhaupt ein grosses Plus dieser Inszenierung: immer wieder nimmt Kresnik mit oft verblüffenden Bewegungselementen die Musik Verdis auf.


    Im zweiten Bild steht im Vordergrund ein grosses Fass mit Öl, die einfachen Menschen betreten die Bühne, sie sehen wie Vertriebene aus und Ulrica, die Wahrsagerin, versucht auf ihre Art, Hoffnung zu spenden. Dass auch sie eine Gauklerin ist, verrät nicht zuletzt ihre Kostümierung: da steht Marilyn Monroe auf dem wohl berühmtesten U-Bahnschacht der Filmgeschichte. Im Verlauf der Szene wird sie sich die Haut schwarz Färben und mit einem Schuss aus einer Pistole das Ölfass zum brennen bringen.


    Aus den Trümmern kommen nackte Menschen mit Koffern und ziehen langsam über die Bühne, surreal wirkt das und auch beklemmend.


    Der Akt geht wie bekannt zu Ende: Amelia holt sich Rat bei Ulrica, Riccardo belauscht die beiden und der erste, der Riccardo die Hand geben und nach dem Spruch der Wahrsagerin den Regierungschef ermorden wird, ist Renato.


    Im zweiten Akt sehen wir die verzweifelte Amelia, wie sie nach jenem Kraut sucht, dass ihr die Wahrsagerin benannt hat, um der gesellschaftlich geächteten Liebe zu Riccardo zu entgehen. Der tritt selbst auf und in einem bedingungslosen aufwallen sexueller Begierde reissen beide sich die Kleider vom Leib. Das ist sehr direkt inszeniert, realistisch und überzeugend..


    Die folgende Szene lebt vor allem von der Verhöhnung durch die Verschwörer Samuel und Tom – wieder bleibt Kresnik direkt an der Musik, wenn die beiden Renato verspotten – und dies auch mit drastischen Gesten tun, eine Kränkung des Mannes Renato, die plausibel machen, warum dieser ob der Situation ausrastet.


    Im dritten Akt wird Renato seine Gattin ziemlich unsanft hinauswerfen. Als besonderen Akt der Demütigung lässt er sie das Los ziehen, dass ihn, Renato, zum Mörder ihres Liebhabers bestimmen wird, was die beiden anderen Verschwörer durchaus mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen.


    Was dann kommt, ist szenisch der stärkste Moment des Abends. Oscar, hier eine androgynes Wesen, das auch schon mal in einer Militäruniform zu sehen war, trägt ein rotes Abendkleid mit Federboa, Frisur und Bärtchen zeigen einen Varitéhitler, das sich Oscar entsetzt abwischen wird, wenn aus einem nur vermeintlichen Spass Ernst wird.


    Zum Maskenball sieht man völlig überzeichnete Klischees, da taucht alles auf der Bühne auf, was einem zu Amerika einfällt: Daisy- und Donaldduckmasken, Goofy und Mickey-Mouse, man erkennt z. B. einen Vietnamverteranen, Schwarzenegger, Elvis oder Miss Liberty und Uncle Sam, die Herren oft im Transgenderlook, die Farben sind zuckersüss bis schweinchenrosa, die Brüste der Frauen monströs vergrössert, Schweine- und Affenmasken bedecken viele Gesichter.


    Renato ermordet Riccardo und gibt ungerührt den Nachfolger von Riccardo: als Präsident der United States, wie ihn das Rednerpult ausweist. Amelia folgt Riccardo in den Tod, das Eingangsbild findet hier seine Entsprechung.


    Konsummüll regnet von oben prasselnd auf den Bühnenboden.


    Die Handlung ist auch für Zuschauerinnen und Zuschauer gut zu verfolgen, die das Stück nicht oder nicht sonderlich gut kennen.


    Die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen oder an der amerikanischen Politik sind Kresnik ein wichtiges Anliegen – da ist er sich über die Jahre hinweg treu geblieben, auch in der Form der künstlerischen Umsetzung in seinen Inszenierungen. Und ganz falsch ist seine Feststellung, dass das Theater unpolitischer geworden sei, sicherlich auch nicht.


    Allerdings wirkt diese Form der Inszenierung heute nicht mehr so provokant, wie noch vor 20 Jahren, die Welt hat sich verändert und auch das Theater müsste heute andere Bilder finden, um einen vergleichbaren Effekt zu erzielen.


    Was bleibt ist eine handwerklich ausgezeichnete Inszenierung, die mit einer tollen Personenregie aufwarten kann, die keinen Moment langweilig ist und immer noch genügend Anlass für eine intensive Auseinandersetzung mit Musik, Stück und Inszenierung bietet, auch da, wo man Kritikpunkte anbringen möchte.


    Darstellerisch waren alle Sängerinnen und Sänger sehr engagiert bei der Sache – stimmlich hatte die Sopranistin Adina Aaron als Amelia die Nase vorn: wunderbar ihre dynamischen Möglichkeiten, gerade die Piani waren hörenswert, die dramatische Kraft wirkte noch etwas gebremst und die Premierennervosität wird sich sicher noch zum Vorteil der Sängerin legen. Bemerkenswert, dass sie gegen Ende des zweiten Aktes Ermüdungserscheinungen zeigte – aber dann im dritten Akt wieder voll präsent war.


    Ihr Partner als Riccardo war Erik Fenton (was ein Name für einen Tenor), der seinen etwas unruhigen Tenor schnell in den Griff bekam und vor allem mit seinen mächtigen, etwas starren und wenig nuancierten, Spitzentönen überzeugen konnte.


    Helena Zubanovich, die Ulrica, kämpfte mit der Tiefe, sie musste da kräftig nach unten drücken und bot, genauso wie Julia Neumann als Oscar eine solide, durchschnittliche Leistung.


    Absolut katastrophal der Bariton Petteri Falck als Renato: eine gnadenlos vor sich hin tremolierende, blass-fahle Stimme, die gänzlich ohne Höhe auskommen muss und mehr als einmal deutlich unter den Tönen lag.


    Er musste als einziger Solist Buh-Rufe entgegen nehmen, die anderen Sängerinnen und Sänger wurden nachhaltig gefeiert.


    Walter E. Gugerbauer dirigierte einen soliden, nicht sehr ambitionierten Verdi, bemühte sich, Bühne und Orchester zusammenzuhalten, die kollektive Chor und Orchester musizierten und sangen ansprechend.


    Wie zu erwarten schlugen Johann Kresnik massive Buhs entgegen und auch die genauso üblichen Bravos waren zu vernehmen, der grosse Mann des choreographischen Theaters nahms gelassen.

  • Zitat

    Original von Alviano
    Die Neuinszenierung des „Ballo“ am Theater Erfurt lag in den Händen von Johann Kresnik, ein Garant dafür, dass vieles anders aussieht, als man das vielleicht gewohnt ist oder erwartet hätte – ein wie auch immer definierter „Skandal“ ist die Aufführung nicht geworden.
    [..]


    Lieber Alviano,


    vielen Dank erst einmal für die sehr ausführliche Kritik, auf die nach den Disskussionen um den Kackedei-Skandal sicher viele sehr gespannt waren. Interessant finde ich, dass aus nahezu allen Richtungen (Presse wie Besucher) das Element der nackten grauen Masse auf der Bühne keinesfalls als anstößig, sondern sehr wirkungsvoll und passend empfunden haben. Die zeigt wiedereinmal, dass ein solch großer Trubel (auch hier im Forum) im Vorfeld der Premiere stark übersteigert und auch unnötig war.



    Ich gehe zu Deinen Ausführungen zu Solisten des Abends in goßen teilen konform, dies hier aber möchte ich so nicht stehen lassen:


    Zitat

    Helena Zubanovich, die Ulrica, kämpfte mit der Tiefe, sie musste da kräftig nach unten drücken und bot, genauso wie Julia Neumann als Oscar eine solide, durchschnittliche Leistung.


    Helena Zubanovich als Ulrica bot gerade in der tiefen Lage eine sehr dunkle stimmliche Farbe, die recht mystisch, regelrecht abgründig wirkte und damit hervorragend zu ihrer Rolle passte.
    Julia Neumann als Oscar fand ich wirklich grandios, mit einer ungeheuren Leichtigkeit bewältigte sie selbst die größten Höhen und unterstrich so den tänzerischen Charakter der Musik eindrucksvoll. Aus meiner Sicht war sie neben Adina Aaron als Amelia das solistische Highlight des Abends.


    Liebe Grüße, der Thomas.

  • Lieber Alviano,


    vielen Dank für diesen engagierten und wie immer sehr eindrucksvollen und perspektivreichen Bericht. Damit dürfte einem nicht unerheblichen Teil der aufgeregten Vorabkommentierung die Luft für weitere blinde Polemik genommen sein, wenn nicht auch dieser Thread, was ich nicht hoffe, aber angesichts mancher bisheriger Pauschalattacken in dem vorangegangenen Thread zum nackten Verdi fürchte, zur x-ten allgemeinen Regietheaterdebatte degeneriert. Es wäre schön, wenn die dann wenigstens dort verbliebe.


    Mir scheint bei allem Lob für das Detail die Crux der Inszenierung bei einem inzwischen seinerseits schon ziemlich verstaubten Grundeinfall zu liegen, dass man nämlich einen bestimmten und im Original eher marginalen Aspekt des Dramas, in diesem Fall die Verarmung und Ausweglosigkeit des Volkes gegenüber einer feiernden Oligarchie, zum Zerrspiegel heran zieht, in dem alles andere betrachtet und im Konfliktfall übersehen wird. Dazu gehört die Person des Riccardo, für mich eine der tragischsten Gestalten der Dramen Verdis, weil er bei besten Absichten, getreu dem antiken Konzept der Tragödie, fast ohne eigenes Zutun unausweichlich zum Opfer bestimmter Strömungen wird, gegen die er nichts ausrichten kann. Man vergleiche ihn mal mit dem von seiner Ausgangslage her sehr ähnlich gepolten Duca des RIGOLETTO.


    Wäre sie halbwegs gut für mich erreichbar, würde ich die Inszenierung wegen der von Dir gelobten Details und allgemein der Personenregie dennoch sehen wollen, solange diese noch frisch ist, aber so richtig reizen tut es mich zwar jetzt schon etwas mehr als vorher, aber noch immer nicht wirklich. Ich frage mich nämlich, ob das Hauptthema der Oper, nämlich das Gift der Liebe zum falschen Objekt und der in einem solchen Fall gegebene Konflikt zwischen Liebe und Freundschaft wirklich so unaktuell oder gar uninteressant geworden ist, dass man unbedingt das soziale Umfeld der damit Geschlagenen in den Vordergrund rücken muss. Gerade bei einem anscheinend sehr musikalischen Regisseur, der sich auf Personenregie versteht, dieses Thema also wohl durchaus angemessen illustrieren könnte, ist das eigentlich eher bedauerlich als empörend.


    Dennoch scheint mir ein Lob für die Erfurter Intendanz angebracht: was soll ein kleineres Haus, das sich keine erstrangigen Künstler leisten kann, mit einem Werk des Mainstream denn sonst machen als für eine vertretbare Provokation zu sorgen? Immerhin haben die geschickten Marketingstrategen dort bewiesen, dass die schlichte Provokation mit Nacktheit noch funktioniert, zumal wenn sie nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten goutieren zu können scheint. Das aber müssen sich eher die Provozierten zurechnen lassen als die Provozierenden, denn nur solange man mit solchen Mitteln noch Effekt machen kann, wird ein solcher auch immer wieder versucht werden.


    Wenn dabei aber wenig mehr neue Erkenntnisse gewonnen werden als die einiger Schniedel der augestellten Erfurter Hartz IV-Empfänger, drängt sich mir der Verdacht auf, dass das sozial fixierte Regietheater, so es das denn in dieser einheitlichen Form überhaupt noch geben sollte, sich eher früher als später von selbst erledigen wird, denn nichts ist tödlicher als die aus der Vorhersehbarkeit geborene Langeweile. Zumindest vor der scheint Kresnik seine Zuschauer immerhin bewahrt zu haben, und das ist gerade in Anbetracht seiner unglücklichen Vorauskommentare zu seinem 9/11 - Konzept schon mal einiges.


    Bleibt die Frage, warum bestimmte Künstler das, was sie im sensiblen Detail wirklich können, immer in den Schatten eines Anspruchs stellen müssen, dem sie allenfalls platt plakativ gerecht werden können.


    :hello: Rideamus

  • Lieber Rideamus,


    vielen Dank für Deine lesenswerten Zeilen, denen ich an keinem Punkt wirklich wiedersprechen kann.


    Bemerkenswert für mich: welcher Eindruck durch das Überbetonen bestimmter Aspekte der Inszenierung und das in einen schlicht falschen Zusammenhang stellen einzelner Bilder, wie das die Boulevardpresse getan hat, erzeugt wurde. Wie ich bereits vermutet hatte, stellt sich das dann innerhalb der Produktion gänzlich anders dar.


    Die Inszenierung von Kresnik ist in sich schlüssig und auch folgerichtig, aber tatsächlich hält er an bestimmten Bildern fest, ohne ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu überprüfen. Die Gefahr, in die er sich dabei begibt, ist eine Verflachung der ihm wichtigen Aussage.


    Bei der Figur des Riccardo bleibt festzuhalten: er ist letztendlich beim Volk beliebt, so zeigt ihn zumindest das Ende des ersten Aktes. Um so perfider, dass in Erfurt nicht nur der Freund zum Mörder wird, sondern dieser auch noch gleich die Gelegenheit nutzt, sich die durch die Tat freigewordene Stelle als Staatschef unter den Nagel zu reissen.


    Für das Erfurter Theater ist das gewiss kein schlechter Abend: überregionales Interesse, auch in der Stadt dürfte diese Produktion für Gesprächsstoff sorgen, dazu ein Spielplan, der z. Zt. mit der "Rosenkönigin" von Leoncavallo eine echte Rarität bietet - das ist tatsächlich gut gemacht.


    Wenn ich in der unmittelbaren Nähe wohnen würde: den "Ballo" würde ich mir gewiss noch mehrfach anschauen, keine Frage.

  • Zitat

    Original von Alviano


    Bei der Figur des Riccardo bleibt festzuhalten: er ist letztendlich beim Volk beliebt, so zeigt ihn zumindest das Ende des ersten Aktes. Um so perfider, dass in Erfurt nicht nur der Freund zum Mörder wird, sondern dieser auch noch gleich die Gelegenheit nutzt, sich die durch die Tat freigewordene Stelle als Staatschef unter den Nagel zu reissen.


    Lieber Alviano,


    ich habe diesen Austausch mal zum Anlass genommen, die anderen BALLO - Threads hier mal durchzulesen. Leider beschäftigt sich der wesentlichste ( Un Ballo in Maschera von Giuseppe Verdi ) auch nur mit den üblichen etwas pauschalen Kommentaren zu diversen Aufführungen und Aufnahmen. Dabei wäre dieses Werk ein besonders guter Anlass, sich einmal nicht nur mit seinen Aufnahmen, sondern mit seinem Gehalt und seinen Charakteren zu beschäftigen. Leider sind solche Threads hier die große Ausnahme. Ich stimme nämlich dem darin von Ulli (!) gegebenen Kommentar, dass diese Oper eines der besten Libretti überhaupt hat, durchaus zu. Mindestens ist es eines der besten von Verdis Opern (natürlich neben denen, die Boito für Verdi verfasste), in dem mich nur die konventionelle Hexe etwas stört, die Verdi allerdings zu einer der besten Alt-Partien überhaupt inspiriert hat.


    Ein solches Libretto sollte eigentlich genügend Herausforderungen an eine starke Umsetzung auf der Bühne stellen, an deren Stärke gemessen Übergewichtungen des sozialen Umfelds fast zwangsläufig zu Mätzchen verkommern müssen. Deshalb nehme ich es Kresnik (unbekannterweise) fast übel, dass er Renato im Handstreich zu einem offenkundig schizophrenen, weil sich offensichtlich sogar selbst täuschenden Paolo (aus SIMON BOCCANEGRA) macht. Schließlich sprechen Text UND Musik bis zum Schluss dafür, dass der zwischen tiefer Freundschaft, Liebe zu seiner Frau und Ehrgefühl zerrissene Renato eine nicht weniger tragische Figur ist als die beiden anderen Hauptpersonen. Sollte ich eine Fortsetzung der Oper im Sinne von Verdis Musik mit Renato als Helden verfassen, würde ich mich an der Figur des Simon Boccanegra orientieren und ihn zum Schluss den Freitod suchen lassen, und nicht an dem Paolo, den Kresnik in ihm sehen möchte.


    Seltsam, dass die Kunstform Film nach einem kurzen Flirt mit der großflächigen Gesellschaftskritik immer mehr das Höchstpersönliche sucht, während das Theater und, wie mir scheint, die Opernpraxis im Besonderen, immer wieder zum sozialkritischen Holzhammer greift. Ist das gattungsbedingt oder "nur" eine sich selbst perpetuierende Mode? Mir scheint jedenfalls, dass ein erklecklicher Teil des Unmuts am sogenannten Regietheater sich nicht ganz zu Unrecht genau daran entzündet. Aber das ist eine andere Diskussion, die nicht hier geführt werden sollte.


    Zum Threadthema selbst: mit einem gewissen grimmigen (Selbst-)Bestätigungsgefühl, vor allem aber mit Bedauern stelle ich fest, dass nach dem großen Aufruhr im Vorfeld, dieser Thread zu dem Ereignis selbst so gut wie kein Echo zu finden scheint, und auch die Zahl der Klicks sich bislang in durchaus engen Grenzen hält. Liegt das daran, dass eine nüchtern-sorgfältige Beschreibung und Analyse nun mal keine Emotionen und daher nicht zum Kommentieren reizt, oder ist das vielleicht auch eine Warnung vor der vorgeschlagenen Systematik der Threadtitel, die für Archivsuchen ideal sind, jedoch kaum zur Lektüre einladen? Ich vermute mal, dass ein Threadtitel wie "Die Wahrheit über die Nackten - Der Erfurter Maskenball" das Interesse mindestens verdoppelt hätte.


    Diese Systemarik scheint also allenfalls bei Spitzenhäusern wie der WSO zu funktionieren, denn ich gestehe gerne, mich auch nur bedingt für Häuser der Provinz zu interessieren. So ungerecht und kurzsichtig das ist, mein durch notorische Zeitnot bedingter Prioritätenraster braucht stärkere Anstöße. Wofür wollen wir uns künftig entscheiden? Vielleicht sollte man diesen Aspekt in diese Diskussion einbringen: Unterforum "Gestern in der Oper" – Wie können wir die Nutzbarkeit erhöhen?


    Übrigens: auf die Aufführung von Leoncavallos selten aufgeführter Operette DIE ROSENKÖNIGIN / LA REGINETTA DELLE ROSE darf man in der Tat gespannt sein. Ich habe nur eine alte und akustisch veraltete Aufführung der RAI Turin von 1951 in italienischer Sprache mit Lina Pagliughi, aber die macht bei aller hübschen Harmlosigkeit definitiv Appetit auf mehr- wenigstens, wenn man allgemein Operetten zu schätzen weiß. Wie man überhaupt Leoncavallo nicht nur auf PAGLIACCI und vielleicht dessen BOHÉME reduzieren sollte. Aber das ist hier OT und einen eigenen Thread wert.


    :hello: Rideamus

  • Hallo Rideamus,
    was mich betrifft, so hat mich die mit den üblichen Vorzeichen geführte "Diskussion"im Vorfeld um die ach so anstößigen Nackten derart frustriert (um nicht zu sagen angewidert), dass ich tatsächlich bis jetzt gezögert habe, diesen Thread anzuklicken, weil ich den befürchteten "Igitt-Kommentaren" ausweichen wollte. Dann überwog aber gottlob meine Neugierde auf Alvianos wie immer äußerst profunde Berichterstattung.
    Ich kann auch deine Einwände gut nachvollziehen, nur in Ulrica sehe ich eigentlich kein Problem. Gerade in unserer doch so esoterisch angehauchten Zeit finde ich diese Figur gar nicht so anachronistisch.
    lg Severina :hello:

  • Lieber Alviano,


    auch ich habe gespannt auf Deinen Bericht gewartet, gerade weil das isolierte Herausgreifen der nackten Provokation zu so viel Wirbel im Vorfeld geführt hat. Dein anschaulicher und informativer Bericht zeigt, dass es auch anders geht, dafür erst einmal Danke!


    ... und liebe alle Mitdiskutanten (ich hoffe, es werden noch mehr!):


    Ich sehe die soziale Frage im "Ballo" eigentlich auch eher am Rande berührt (eine Verdi-Oper, in der man die Inszenierung schon vom Libretto her stärker an dieser Frage orientieren könnte, ist für mich z.B. der "Rigoletto").


    Für mich steht in dieser Oper zum einen der eher persönliche Konflikt in der Dreiecksbeziehung Riccardo - Amelia - Renato im Vordergrund; gesellschaftliche Aspekte spielen meiner Meinung nach jedoch auch eine nicht unerhebliche Rolle, z. B. die Frage, wie mit Macht umgegangen wird, zum anderen wird hier jedoch auch schon im Libretto und bezüglich der Musik eine Gesellschaft "Auf dem Vulkan" oder "aus den Fugen geraten" porträtiert, so dass ich die entsprechenden Bezüge schon nachvollziehen kann: Das Heitere, Ausgelassene wird textlich und musikalisch immer wieder durch düstere Motive konterkariert.


    Ich sehe aber auch ein Problem in der Vorhersehbarkeit der eingesetzten Bilder und dem damit verbundenen Überdruss beim Publikum (schon wieder Amerika, immer dieselben Klischees, allzu platt-plakativ usw.) - obwohl sich in diesem Fall Amerika ja als Schauplatz wirklich anbietet, weil es schon in der von Verdi bearbeiteten Version vorgegeben war. Letztlich könnte aber auch eine andere moderne "Spaßgesellschaft" an dieser Stelle stehen.


    Problematisch ist für mich allerdings die Umfunktionierung Renatos in einen von vornherein machtfixierten Schurken; das kann ich weder mit dem Libretto noch mit der Musik in Einklang bringen. Er verbündet sich doch mit den Verschwörern erst, nachdem er von Amelias vermeintlicher Liaison mit Riccardo erfahren hat - wobei allerdings nicht nur Eifersucht, sondern auch die Angst, vor den Leuten das "Gesicht verloren zu haben", sicherlich eine große Rolle spielen.


    :hello: Petra

  • Liebe Petra,
    d'accord, wobei mich aber schon auch immer eine Frage beschäftigt hat: Warum schließt sich Renato den Verschwörern an? Schließlich ist es ja quasi eine private Sache zwischen ihm und dem König, warum also tötet er ihn nicht einfach als Privatmann, als vermeintlich gehörnter Ehemann? Gelegenheit dazu hätte er mehr als genug, und wahrlich einfachere als so vor aller Augen auf dem Ball! Vielleicht also doch, weil er Angst hat, als "normaler" Mörder durch die Maschen der politischen Macht zu fallen - für die Verschwörer stünde er ja immer noch auf der feindlichen Seite, er hätte zwar den verhassten König getötet (Wie praktisch für dessen Gegner!), aber aus den falschen Motiven. Ich glaube also schon, dass Renato weiter denkt, (Eine reine Affekthandlung aus verletzter Eitelkeit ist es keineswegs!) und sehr genau überlegt, wie er seine Ehre und seine Haut (bzw. seine politische Macht) retten kann. So ganz daneben erscheint mir daher Kresniks Schluss nicht zu sein!
    lg Severina :hello:

  • Die Ulrica-Szene ist in Erfurt insgesamt gut gelöst und fügt sich problemlos in die Inszenierung ein. Bei Claus Guth in Frankfurt sah man eine schwarze Putzfrau, die die Beschwörung ausführte (in der Wahlkampfzentrale des Politikers Riccardo), was für mich eine völlig unbefriedigende Lösung war, die auch seltsam unorganisch wirkte. Gerade auch, weil hier Erinnerungen an eine andere Inszenierung am gleichen Ort wach wurden, die viel zwingender eine Hausangestellte mit Putzdienst gezeigt hatte ("Aida" vom gleichen Komponisten in der Regie von Hans Neuenfels).


    Beim Renato wirds da schon schwieriger - ich würde severina zustimmen, dass genau das, was sie beschreibt, Auslöser für den Inszenierungsansatz in Erfurt war und das verfolgt Kresnik auch konsequent, es wirkt erst mal ungewöhnlich, weil man das so normalerweise nicht zu sehen bekommt.


    Überhaupt stellt Kresnik schon die Frage nach der Beziehung der drei Hauptpersonen zueinander - und da hätte er auch wirklich mehr zeigen können, jenseits einer starken, politischen Konkretisierung, wie man sie in Erfurt sehen kann.

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  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Ist "Un ballo in maschera " eigentlich eine Oper von Verdi,


    oder ein Psychodrama ?


    :hello: Herbert.


    Ist das ein einander ausschließender Widerspruch?


    :hello: Rideamus

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Ist "Un ballo in maschera " eigentlich eine Oper von Verdi,


    oder ein Psychodrama ?


    :hello:Herbert.


    Ich verstehe jetzt generell nicht, wieso das eine das andere ausschließt?? Und speziell zum Ballo: Natürlich ist es das! Oder wie sonst deutest du die gefühlsmäßigen Irrungen/Wirrungen zwischen den Hauptakteuren?
    Kresnik wird vorgeworfen, er hätte die psychologische Komponente zugunsten der politischen vernachlässigt, also ein Politdrama aus dem "Ballo" gemacht. Du wehrst dich dagegen, dass man ein Psychodrama inszeniert - was bleibt dann eigentlich über??
    Dass alle Sänger schön brav an der Rampe stehen und ihre Noten abliefern?
    Tut mir Leid, das wäre ein Fall, wo ich eine CD vorziehen würde!
    lg Severina :hello:


    PS:Rideamus war wieder einmal schneller! :D

  • Ich habe nur den Briefwechsel Verdis mit Antonio Somma und den Briefwechsel Verdis mit Ricordi über "Un ballo in maschera", während meiner Studienzeit und jetzt noch einmal gelesen. Da kommen diese ganzen psychischen Verwicklungen nicht vor. Außerdem habe ich den Renato auch einige Male gesungen. Da sind mir auch keine besonderen psychischen Probleme aufgefallen. (Nackte Männer waren auch nicht da)
    Die Handlung ist ja auch ziemlich klar. Wie wir alle wissen, geht es um den Mord an dem schwedischen König GustavIII. Es ist ja schon Unsinn und gegen den Willen der Autoren, die Handlung wieder in die USA zu verlegen, wo wir doch alle so scharf auf Originalfassungen sind :D


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von petra
    Ich sehe aber auch ein Problem in der Vorhersehbarkeit der eingesetzten Bilder und dem damit verbundenen Überdruss beim Publikum (schon wieder Amerika, immer dieselben Klischees, allzu platt-plakativ usw.) - obwohl sich in diesem Fall Amerika ja als Schauplatz wirklich anbietet, weil es schon in der von Verdi bearbeiteten Version vorgegeben war. Letztlich könnte aber auch eine andere moderne "Spaßgesellschaft" an dieser Stelle stehen.


    Dieser Kritikpunkt, den auch Rideamus in veränderter Form thematisiert hat, ist sicher nicht so einfach zu entkräften. Jetzt ist Kresnik auch nie einer gewesen, der sonderlich subtil zu Werk gegangen wäre, da ist jemand, der auch gehört werden will und dessen Bildmittel immer drastisch waren. Mein Einwand wäre, dass eine Kritik an der Weltmacht Amerika heute anders auf die Bühne gebracht werden sollte, als das Kresnik getan hat (in einer für diesen Künstler allerdings typischen Weise, das sollte nicht ausser Acht gelassen werden), davon wird die grundsätzliche, konzeptionelle Entscheidung, den "Ballo" überhaupt in einem solchen Kontext zu inszenieren, nicht berührt.


    Natürlich wäre ebenfalls denkbar, einen vergleichbaren Ansatz auch ohne die konkrete, räumliche Fixierung umzusetzen.


    Gestern abend habe ich nochmal den Anfang des 3. Aktes auf CD gehört - um die Zeichnung der Renato-Figur anhand der Musik zu überprüfen. Es ist schon möglich, den Renato nicht nur als eifersüchtigen Ehemann zu interpretieren. Bedenkenswert in diesem Zusammenhang allerdings, was Rideamus weiter oben angemerkt hat.


    Was für Kresnik spricht: seine Inszenierung bleibt klar bei der Handlung, so unkonventionell manches auch auf den ersten Blick ausieht. In der Pause habe ich Zuschauerinnen und Zuschauer gehört, die genau das positiv hervorgehoben haben.

  • Lieber Herbert, jetzt bin ich aber wirklich ein bisschen ratlos. ?(
    Sind es für dich keine besonderen psychischen Verwicklungen, wenn eine Frau den besten Freund ihres Mannes liebt und Alles mit Verschwörung und Eifersucht und Mord endet?
    Schön, wenn man das einfach normal findet und wegsteckt, diese Nerven hätten sicher Viele gerne. :D


    Wie geht es denn einem Sänger des Renato, der diese Rolle ja auch irgendwie emotional rüberbringen muss?
    Also wenn ich eine Amelia wäre und darin keine besonderen psychischen Verwicklungen sähe, köinnte ich wohl kaum irgendetwas von dieser Rolle vermitteln.
    ?( ?( ?(


    F.Q.

  • Liebe Fairy Queen,
    diese Verwicklungen um Eifersucht, oder um Mord und Totschlag, gibt es natürlich in jeder Verdi-Oper. Aber diese Zutaten brauchte Verdi nur für seine Musik. Diese Operndramatik muß man doch nicht zu gewaltigen Psychodramen hochjubeln.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Alviano
    Die Ulrica-Szene ist in Erfurt insgesamt gut gelöst und fügt sich problemlos in die Inszenierung ein.


    Kann ich mir nach der Schilderung auch vorstellen, allerdings bereitet mir die genannte Marilyn - Monroe - Kostümierung schon irgendwie Bauchschmerzen. Da fehlt mir, die ich mich mit der Figur sehr intensiv auseinandergesetzt habe, jedweder Bezugspunkt.


    Sie gehört m. E. weder in so ein unpassendes Outfit - nachdem die Oper ja schließlich nicht parodiert wurde - noch zur Durchführung ihrer Beschwörung an den möglichen Arbeitsplatz (sie kann ja Putzfrau sein, warum nicht?), sondern an einen separaten Ort, wo die Leute zu ihr kommen. Das, finde, sollte als Grundidee erhalten bleiben. Es handelt sich um eine archetypische Gestalt, die einen sehr stimmigen Platz in diesem Libretto hat und die eigentlich problemlos in alle möglichen historischen und sozialen Zusammenhänge eingefügt werden kann.


    Hinter dem Erscheinungsbild der Hexe steht die Funktion einer Instanz, die trotz allem Hokuspokus die Fähigkeit ja hat, das Kommende unbeteiligt und neutral tatsächlich treffgenau zu prognostizieren, aus welchen Gründen auch immer. Sie erlebt das Gleiche wie Kassandra, sie wird von den entscheidenden Leuten nicht ernst genommen, was auf diese zurückfällt. Das Libretto spricht hier, m. E. eine sehr eindeutige und folgerichtige Sprache.


    Fast noch deutlicher macht die Arie und die ganze Szene diese Situation; die Musik, die für den Moment der Einführungsszene wie ein Monument im Raum steht. Diese Energie verliert sich im Lauf der Szene, was auch Sinn macht. Es glaubt ihr einfach zunächst keiner.


    Es kostet einige Mühe, das alles mit dieser sperrigen Musik, den stimmtechnischen Klippen, die permanent Anlass zur Kritik sind - weil irgendwas meistens nicht hinhaut - in relativ kurzer Zeit darzustellen.


    Im Falle von Renato wird m. E. auch sehr deutlich, warum dieser Charakter sich so entwickelt, wie er es tut. Er ist m. E. kein Schurke, sondern ein zutiefst Verletzter, der, pardon, ziemlich konform seiner männlichen Erziehung reagiert: Ehre vermeintlich beschädigt - Hirn wird ausgeschaltet, Ehefrau ist zu bestrafen, Nebenbuhler muss weg. Leider funktioniert das ja heute bei vielen auch immer noch so. M. E. trifft es keinesfalls den Kern, dass er die Macht an sich reisst, denn dazu ist er eben nicht skrupellos genug. Er ist am Ende eher darüber erschüttert, was er angerichtet hat.


    ich stimme hundertprozentig mit der Ansicht überein, dass es sich um ein starkes Libretto handelt, weil keine logischen und psychologischen Fehler drin zu finden sind. Die Erfurter Inszenierung würde mich sehr interessieren dahingehend, inwieweit sie letztlich der Geschichte gerecht wird, nachdem ich mich, ausgehend von der vormaligen Erheiterung über die Sache mit den Nackerten, gerne davon überzeugen ließ, dass eine werkgerechte Symbolik dahinterstecken könnte.


    LG


    Ulrica

  • Lieber Herbert!
    Deine Statements machen mich genauso ratlos (bzw. fassungslos) wie Fairy, denn für mich klingt das so, als sei es die einzige Aufgabe eines Sängers, die Partitur zu exekutieren, ohne sich groß um diesen "Psychokram" zu kümmern, der doch eigentlich eine Figur charakterisiert. Jetzt wird mir auch endlich klar, warum du dich so nach der "guten, alten Zeit" sehnst, wo von einem Sänger nicht mehr verlangt wurde als möglichst "schön" zu singen. Einen Renato, der auf der Bühne steht und nichts von "psychischen Verwicklungen" spürt und dementsprechend auch nicht vermitteln kann, möchte ich wirklich nicht erleben müssen!
    lg Severina :hello:

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  • Liebe Ulrica!
    Deine Anmerkungen zu deiner Namensvetterin leuchten mir vollkommen ein, was Renato betrifft, so bleibe ich bei meiner vorherigen Einschätzung, dass ihm der Machterhalt nicht ganz so gleichgültig ist. Gerade das, wie du meinst, "Hirn ausgeschaltet" passt nicht zu seiner sehr überlegten Vorgangsweise. Er tötet Gustavo eben nicht im Affekt, sondern plant die Tat sehr genau unter Berücksichtigung möglicher Konsequenzen für sich. (Siehe meine obigen Überlegungen!) Wenn es ihm nur um die gerächte Ehre ginge, müsste doch unter allen Umständen ER den König töten, er aber lässt das Los entscheiden, also die Möglichkeit offen, dass ihm ein anderer diese Aufgabe abnimmt.
    Natürlich wäre es falsch, wenn Renato von Anfang an als machtgieriger Halunke gezeichnet wird, der nur auf eine Gelegenheit lauert, den König zu stürzen. Dass er aber dann die Gunst der Stunde nutzt, finde ich, wie gesagt, durchaus vertretbar.
    lg Severina :hello:

  • Liebe Severina,
    ich meine doch garnicht, daß ein Sänger auf der Bühne dem Publikum keine Emotionen vermitteln sollte. Das hat aber doch nichts mit nackten Männern, mit Zerstörung New Yorks, oder damit, daß Renato die Eifersucht nur vortäucht und einentlich aus politischen Gründen den Gouverneur ermordet zu tun.
    Es kann natürlich sein,daß wir von verschiedenen Dingen sprechen. Ich spreche von einer Verdi-Oper.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    (...) daß Renato die Eifersucht nur vortäucht und eigentlich aus politischen Gründen den Gouverneur ermordet zu tun.


    Moment, es steht nirgends, dass Renato die Eifersucht nur vortäuschen würde und er nur darauf aus wäre, Riccardo zu ermorden.


    Und es gibt nicht nur nackte Männer, sondern auch nackte Frauen, soviel Zeit muss sein :D

  • Was da von Alviano dankenswerterweise so ausführlich und liebevoll beschrieben wird, klingt für mich ehrlich gesagt nach einem Haufen Müll und widerspricht keineswegs den Erwartungen, die sich bei mir nach den über die Boulevardpresse verbreiteten Skandalnotizen eingestellt haben. Alviano, versteh das bitte nicht falsch, ich bewundere deinen Offenheit und deinen Idealismus für diese Art von Theater (auch wenn er mir bei aller Professionalität des sprachlichen Ausdrucks ein klein wenig naiv erscheint), aber was du da beschreibst, hört sich nach einem zusammenhanglosen Brei aus wahllos verwendeten Versatzstücken des Uralt-68er-Provokationstheaters an, das anscheinend nicht totzukriegen ist.


    Du beschreibst einzelne Szenen als stark, realistisch usw., aber wo ist dabei eigentlich der rote Faden? Du forderst zu Recht ein, dass man keine Nacktszenen ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs bewerten solle, aber letztlich bewertest du auch einzelne Szenen und Eindrücke, ohne dass im ganzen der geforderte Zusammenhang sichtbar wird. Monströse Brüste, Transgenderlook, ein Varietéhitler, nackte Statisten, das klingt für mich vor allem nach einem verzweifelten Kampf um Medienecho. Das ist für mich kein akzeptables künstlerisches Ethos. Du merkst doch selbst an, dass Kresniks Anliegen Kritik an den USA ist. Dagegen ist ja gar nichts zu sagen, aber Verdis Maskenball scheint ihn doch gar nicht zu interessieren, Hauptsache, er kann sein ideologisches Programm abspulen.


    Es wird immer gefordert, Regisseure mögen das Stück interpretieren. Das ist für mich hier nicht zu erkennen. Ich glaube nicht, dass es irgendeine Oper oder irgendein Theaterstück gäbe, in dem Herr Kresnik oder ähnliche Kaliber nicht ihre Transvestiten, Hitlerbärtchen usw. unterbringen könnten, ohne dafür den Beifall ihrer Fans zu ernten.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Lieber Alviano,


    Zitat

    Original von Alviano: Jetzt ist Kresnik auch nie einer gewesen, der sonderlich subtil zu Werk gegangen wäre, da ist jemand, der auch gehört werden will und dessen Bildmittel immer drastisch waren. Mein Einwand wäre, dass eine Kritik an der Weltmacht Amerika heute anders auf die Bühne gebracht werden sollte, als das Kresnik getan hat (in einer für diesen Künstler allerdings typischen Weise, das sollte nicht ausser Acht gelassen werden), davon wird die grundsätzliche, konzeptionelle Entscheidung, den "Ballo" überhaupt in einem solchen Kontext zu inszenieren, nicht berührt.


    ich hatte auch weniger die Kritik an der Weltmacht Amerika an sich als problematisch angesehen, sondern die allzu plakativen Klischeebilder, die vielleicht gerade Kresniks Absicht, aufzurütteln und gehört zu werden, unterlaufen könnten, weil das Publikum schon so oft derartiges vorgesetzt bekommen hat. Und das deckt sich ja auch mit deiner Ansicht, dass heute andere Bilder auf die Bühne gebracht werden sollten.



    Liebe Severina,


    Zitat

    Original von severina: Warum schließt sich Renato den Verschwörern an? Schließlich ist es ja quasi eine private Sache zwischen ihm und dem König, warum also tötet er ihn nicht einfach als Privatmann, als vermeintlich gehörnter Ehemann?


    ich sehe Renato zunächst einmal als jemanden, der nach der Entdeckung der Liebe Amelias zu Riccardo nicht nur aus Eifersucht handelt; der Spott und die Häme, die ihn treffen, sind meiner Meinung nach für ihn eine genauso starke Antriebsfeder.


    Ich hatte mir die obige Frage auch schon überlegt, und meine Antwort darauf war, dass er mit der Teilnahme an diesem Komplott sein Gesicht vielleicht besser wahren kann, als wenn er als gehörnter Ehemann einfach den Nebenbuhler ermorden würde. Er ist dann an einer Verschwörung beteiligt, die sich ja aus politischen und Rachemotiven der ursprünglichen Verschwörer speist und könnte sich daran gut "anhängen". Denn die öffentliche Meinung ist ihm ja immens wichtig, und vielleicht wäre es ihm lieber, als "politischer" denn als "gehörnter" Mörder in die Geschichte einzugehen?


    :hello: Petra

  • Liebe Severina,


    deine Argumentation zur Rolle Renatos und einer Entwicklung dahin, selbst die Macht anzustreben, hat einiges für sich, nur fehlt mir auch nur das geringste Anzeichen in der Handlung, das eine ursprüngliche Unzufriedenheit mit der eigenen Position im Gefüge signalisiert. Mir erschint dieser Charakter lange Zeit frei jeglichen Ehrgeizes, selbst an die Spitze zu wollen, ja, er wirkt wie der typische Mann der zweiten Reihe.


    Daher sehe ich seine Triebfeder doch der Eifersucht und vor allem, in der Ehrkränkung. Ich glaube, nicht die vermeintlich aufgesetzten Hörner an sich im Innenverhältnis mit seiner Frau - mit der er ja vielleicht eine Lösung vor der Eskalation hätte finden können, selbige war am Schluss ja durchaus greifbar, denn das Ehepaar sollte ja in Ehren ausreisen - speist seinen Groll, sondern der Gesichtsverlust nach außen, das Gerede der Leute. Er läßt ab da nur noch eine Option zu: Der Ehebruch muss stattgefunden haben, obwohl dies keineswegs schlüssig sich aus den Fakten ergibt und ja auch falsch ist. Passiert ist ja noch nichts zwischen Ameilia und Ricardo, es lag nur in der Luft. Amelia hat auch nicht die geringste Chance, andere Argumente ins Spiel zu bringen. Das meinte ich mit dem Ausschalten des Hirns, er lebt nur noch für seine Gekränktheit. Dass er bei der Tat planvoll und zielgerichtet vorging und sich taktisch mit politsch motivierten Intriganten - deren Ziele außer dem Mordplan irgendwie im Dunkeln bleiben, zusammentut, steht dem nicht entgegen. Er ist auch ein Opportunist, für den das Dastehen nach außen das Wichtigste ist und der unendlich Angst vor Blamage hat. Ein solcher Mensch übernimmt selten Gesamtverantwortung.



    Lieber Draugur,


    es erweist sich, denke ich, als kaum machbar, die Gesamtinszenierung nun wirklich zu beurteilen, wenn man sie nicht selbst gesehen hat. M. E hat aber Herr Kresnik es aber geschafft, auch unter dieser Prämisse unser aller Fantasie und Nachdenken anzuregen, z. B. zu der Frage, ob die Maskenball - Geschichte mit einer Jetztzeitinszenierung unter Herbeiziehung von 9/11
    und krassen Erscheinungsformen sozialer Gegenwartskonflikte adäquat vermittelt werden kann.


    Es mag ja sein, dass sog. "68 - Versatzstücke" keine ganz neue Idee sind, aber die Grundlagen von Tüll- und Plüsch - Inszenierungen sind noch um einiges älter. Verdi war zu seiner Zeit ein Anhänger von politischen Idealen oder Ideologien, die mit überkommenen Vorstellungen seiner Zeit brachen und der Maskenball bot wohl genug zeitgenössischen Zündstoff für das Wirken von Zensur; wie man weiß, ein ebenso für Beteiligte nervtötendes wie letztlich zweckloses Unterfangen. Vielleicht war zu seiner Zeit seine Opernform auch "Regiertheater"? - Ein Aufreger war es sicher.


    M. E. erstickt Konservatismus um jeden Preis die zeitgemäße Sinnvermittlung mindestens genauso wie fehlgeleitetes oder sängerfeindliches Regietheater, so nervig letzteres auch im Einzelnen sein mag.


    LG


    :hello:


    Ulrica.

  • Liebe Ulrica,


    wenn grundsätzlich die Bereitschaft besteht, auch unkonventionelle Sichtweisen erstmal zu akzeptieren, dürfte gerade das zweite Bild des ersten Aktes in Erfurt keine Problem sein. Kresnik ist auch hier immer mit der Musik, die Beschwörung findet statt - und ist auch klar erkennbar.


    Marilyn Monroe erklärt sich nur im Gesamtkonzept der Inszenierung, wobei es gewiss kein Zufall ist, dass hier eine Schauspielerin visualisiert wurde, die wirklich jeder kennt. Verblüffend ist dass das funktioniert und nicht aufgesetzt wirkt - im Kontext des gesamten Abends. Und genau das habe ich bei Claus Guth in Frankfurt nicht feststellen können, gerade die Ulrica-Szene blieb unbewältigt, weil der Regisseur hier nicht konsequent nach einer tragfähigen Bildlösung gesucht, sondern in einer schick-modernen Umgebung Opernkonvention inszeniert hat.


    Wo ich Dir sofort zustimme: dass Ulrica relativ problemlos in jeden historischen oder sozialen Zusammenhang gestellt werden kann.


    Diese Neuproduktion in der thüringischen Landeshauptstadt bietet über zwei Stunden sehenswertes Theater - und auch dann, wenn man Kresnik nicht in allen Punkten folgen mag, wird man zumindest einen anregenden Opernabend erlebt haben.


    Die Nackten sind übrigens beim Publikum anstandslos durchgegangen, alles andere hätte mich durchaus gewundert.

  • Hallo Ulrica, ich habe hier keineswegs für "Tüll-und-Plüsch-Inszenierungen" oder "Konservatismus um jeden Preis" plädieren wollen. Und wenn man sich jetzt nur zu Inszenierungen äußern darf, die man selbst gesehen hat - auch bei noch so ausführlichen und aufschlussreichen Schilderungen - dann bitte ich eben meine Äußerungen zu ignorieren, aber ich habe keine Lust, dafür durch halb Deutschland zu fahren und mir eine Eintrittskarte zu kaufen.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Zitat

    Original von Ulrica
    M. E. erstickt Konservatismus um jeden Preis die zeitgemäße Sinnvermittlung mindestens genauso wie fehlgeleitetes oder sängerfeindliches Regietheater.


    Auch da ist Kresnik sehr entgegenkommend: der Kontakt zum Dirigenten ist meistens gewährleistet, vieles findet im vorderen Bereich der Bühne statt, auch direkt in Richtung Zuschauerraum, er verlangt nichts wirklich ungewöhnliches, aber natürlich kommt es vor, dass kurzfristig der Partner oder die Partnerin den gerade Singenden verdeckt.

  • Lieber Alviano,


    der Gedanke, der wohl hinter dieser Morroe - Idee steckt, ist m. E. schon ziemlich um fünf Ecken herum, wie man so sagt. Er erschließt sich geistig allmählich, aber, nach wie vor nur im "inneren Kino" beleuchtet, erscheint mir das schon arg kompliziert, um letztlich wirklich beim Betrachter hängenzubleiben.


    Es bleibt auch bei der vordergründigen Erscheinung der Gaukelei und ferner wird wohl aus einer Figur der "Unterschicht" oder gar einer Randgruppe, die auch im Libretto sich maßgeblich aus dieser Position heraus erklärt, etwas ziemlich Diffuses. Ich bleibe zu diesem Thema doch skeptisch.


    Aber, auch das ist spekulativ geschrieben. Aufschluss gäbe wohl letztlich ein leider derzeit nicht machbarer Besuch Erfurts (wobei, ich kann es nicht leugnen, auch der Gesang spannend bleibt.):-(


    LG


    Ulrica

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