Berlin, Staatsoper, Doktor Faust, 4. Mai 2008

  • „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“


    Es sind Bilder, einzelne Bilder, diese werden aneinander gereiht. Der Denker in seiner glutroten Studierstube, eine Schar von Teufeln, die gemessenen Schrittes durch den kaltblauen Raum zieht, Mephistopheles wie ein dekadenter Römer auf einem Wagen liegend, ein Soldat in blutrot japanischer Rüstung in einer Kirche, verzweifelt betend, ein Fürstenhof mir goldglänzendem Herrscherpaar (der Fürst marschiert wie ein Gockel), Protestanten und Katholiken in schwarz und weiß mit absurd hohen Hüten, wie Narren, ein Sternenhimmel, ein Mann, der vor einem riesigen Auge in die Knie sinkt, Schneetreiben in einem schwarzen Raum, eine graue Winterlandschaft, ein Feld mit Stromleitungen im Nichts, ein weiß gekleideter Mann, der in diesem Nichts verschwindet, ein schwarz gekleideter Nachtwächter, er fragt: „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“


    Am Ende ergibt diese Folge von Szenen den „Doktor Faust“ von Ferrucio Busoni in der Inszenierung (des Intendanten) Peter Mussbach an der Berliner Staatsoper. „Es ist, als habe jemand den ,Faust’ gelesen und würde sich tagträumend mit ihm identifizieren“, schreibt Mussbach in dem (wie üblich sehr aufwändigen) Programmbuch (-heft wäre stark untertrieben) zur Aufführung.


    „Eine Reise ins Innere“ (Mussbach).


    Dafür hat Busoni keine (auch für seine Zeit nicht) avancierte Musik verwendet. Ungewöhnlich ist die Erzählweise des Stücks, ist auch der Musikgebrauch, die in verschiedensten Stilen (Choral, Tanzsuite, Orgel-Solo, Intermezzo) doch immer eines sein soll: Musik, die nur für sich allein steht – auch im Intermezzo keine Hinführung auf weitere Themen gibt (oder Leitmotive gar).


    In Berlin nun setzen dies in Klang und Szene:


    Musikalische Leitung: Daniel Barenboim
    Inszenierung: Peter Mussbach
    Bühnenbild: Erich Wonder
    Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer
    Chöre: Eberhard Friedrich


    Doktor Faust: Roman Trekel
    Wagner, sein Famulus (auch Zeremonienmeister, Gravis): Christof Fischesser
    Mephistopheles: John Daszak
    Herzog von Parma: Stephan Rügamer
    Herzogin: Carola Höhn
    Soldat, Bruder des Mädchens: Mirko Janiska
    Leutnant, Beelzebuth: Peter-Jürgen Schmidt
    Drei Studenten aus Krakau: Andreas Bornemann, Mike Keller, Andreas Neher
    Theologe, Levis: Yi Yang
    Jurist: Viktor Rud
    Naturgelehrter: Mirko Janiska
    Asmodus: Arttu Kataja
    Megaros, Tenorsolo: Florian Hoffmann


    Solisten hinter der Bühne: Stefani Szafranski, Adriane Queiroz, Gal James


    Staatskapelle Berlin
    Staatsopernchor


    Die Premiere datiert vom 2. Dezember 2006, es war die sechste Vorstellung.


    Für mich ein insofern neues Elrebnis, als dass ich immer ein wenig skeptisch war, wenn ich gelesen habe, wenn jemand schrieb, dass ihn eine gelungene Inszenierung über Unzulänglichkeiten der Sänger hinweghelfen konnte.
    So war es aber hier für mich.
    Eigentlich hat mich keiner der Sänger vollständig überzeugt. Am ehesten sagte mir noch der (auch darstellerisch) souveräne Christof Fischesser zu; auch die drei Studenten aus Krakau waren ein Gewinn, ebenfalls nicht zuletzt darstellerisch. Roman Trekel musste für mein Empfinden teils forcieren und brachte so Anstrengung in Passagen, wo sie für mein Empfinden nicht hingehörte, auch wirkte er teils doch irgendwie unbeteiligt, was bei einem solchen Stück, einer derartigen Tour de Force in Seelenabgründe für den Hauptdarsteller genau genommen ein Unding ist – aber wer weiß, vielleicht saß ich nur zu weit entfernt. Den Mephistopheles hätte ich mir noch diabolischer gewünscht, die Herzogin sicherer in der Höhe.
    Den meisten Applaus konnte Daniel Barenboim mit seinem Orchester verbuchen. Zu Recht, wie ich denke. Ich habe eine Idee davon erhalten, was alles in der Oper stecken kann (werde mir nun noch die Einspielungen von Nagano und die DVD aus Zürich holen). Am Ende standing ovations.


    Die hätte für mein Empfinden vor allem Mussbach verdient. Er hat der Oper eindringliche, starke Bilder gegeben, die ich noch vor meinem Auge habe. Eine beeindruckende Inszenierung.


    Wer also am 10. Mai in Berlin ist, sollte sehen, ob er noch Karten erwerben kann, dann gibt es den Doktor Faust zum letzten Mal in dieser Spielzeit. Preise 20 bis 80 Euro (die Vorstellung am Sonntag war aber keinesfalls ausverkauft. Wie ich eben nachprüfte, gibt es auch noch reichlich Karten).


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Lieber Ekkehard,


    ich habe die Inszenierung - wohl etwa in der gleichen Besetzung - im Dezember 2006 gesehen. An Trekels Leistung konnte man das Problem gut erkennen, wie ich glaube: das in puncto Dynamik und simpler Lautstärke unmögliche Dirigat Barenboims. Insbesondere im ersten Teil viel Krawall und Brei - da hätte es Ruffos oder Warrens bedurft, um sich stimmlich durchzusetzen. Wie viele Kollegen, kann Barenboim häufig auf das sängerische Material überhaupt nicht eingehen. Ich erlebte den Abend daher als reichlich ernüchternd (ich saß aber auch nicht gut, Parkett Rand).


    LG,


    Christian

  • Hallo Christian,


    da hast Du recht. Barenboim hat auch für mein Empfinden munter drauflos spielen lassen und der Dynamik ihren Lauf gelassen, ohne sich in übertriebenem Maße um die Sänger zu scheren. Mich überzeugten die Sänger allerdings auch dann nicht, wenn sie mehr Raum bekamen. (Grundsätzlich fand ich da aber Jordan - beim Tannhäuser - und auch Rattle - beim Pelleas - einfühlsamer und ausgewogener.)
    Insofern war ich noch recht dankbar, dass ich so viel als möglich vom Orchester erhielt.


    Und die Inszenierung? Gefiel sie Dir - aber wenn Du schreibst, einen ernüchternden Abend erlebt zu haben, dann vermutlich nicht.


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot


  • Hallo Ekkehard,
    die DVD aus Zürich kann ich dir wärmstens empfehlen - das ist eine großartige Produktion, bei der du sicher auch mit den Sängern zufrieden sein wirst. Thomas Hampson ist ein erschütternder Faust, Gregory Kunde ein eiskalter Mephisto, auch die übrigen (besonders Günther Groissböck als Famulus) wirklich gut. Ausnahmsweise ist auch der Bonusteil, ein Interview mit Hampson, nicht so für den Hugo, wie das üblicherweise der Fall ist.
    lg Severina :hello:

  • Lieber Ekkehard,


    so genau habe ich sie nicht mehr im Gedächtnis, ich kann mich noch an die expressionistischen Studenten aus Krakau erinnern - wie einem Murnau-Film entsprungen und durchaus eindrücklich mit der Musik korreliert. Manches empfand ich als unmotiviert, etwa die Schlußsequenz, wo m. E. die Personenregie eher diffus wirkte. Aber ich gebe zu, die Inszenierung wurde überschattet durch die musikalischen Probleme. Zudem scheint das Libretto auch nicht auf der absoluten Höhe, so daß die Übertitel für einen ohnehin zermürbten Besucher teils unfreiwillig komisch anmuteten. War aber wohl eher der aufnahmeunwilligen Situation geschuldet...



    LG,


    Christian

  • Hallo Ekkehard,


    Zitat

    Original von lohengrins
    Ich habe eine Idee davon erhalten, was alles in der Oper stecken kann (werde mir nun noch die Einspielungen von Nagano und die DVD aus Zürich holen).


    die einzige Einspielung, die (meiner Meinung nach) in allen Punkten (Solisten, Chor und Orchester) keine Wünsche offen läßt, ist nach wie vor diese:


    Ferruccio Busoni (1866-1924):
    Doktor Faust -
    Dichtung für Musik in 2 Vorspielen, 1 Zwischenspiel und 3 Hauptbildern 1916-24
    (unvollendet; ergänzt von Philipp Jarnach 1925)
    Dietrich Fischer-Dieskau, Karl Christian Kohn, William Cochran, Anton de Ridder, Hildegard Hillebrecht, Franz Grundheber, Manfred Schmidt, Hans Sotin, Marius Rintzler;
    Chor und Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks, Ferdinand Leitner
    DG, 1969, 3 CD



    Nagano ist zwar nicht schlecht, aber Busonis Meisterwerk hat mich unter Leitners Dirigat und mit der oben genannten erstklassigen Sängerriege am tiefsten beeindruckt.


    Schöne Grüße
    Johannes

  • Hallo severina, hallo Johannes,


    vielen Dank für eure Hinweise. Ich werde am Sonnabend mal durch die einschlägigen Berliner Geschäfte marschieren. Wir haben uns auf jeden Fall vorgenommen, solange die Eindrücke frisch sind, den Doktor Faust noch mal zu hören (zu sehen). Ich denke, dass es da viel zu entdecken gibt.


    :hello:


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Hallo Johannes,


    kurzer Nachtrag: Ist die von Dir genannte Aufnahme noch irgendwo zu erwerben? Unter jpc und kulturkaufhaus bin ich jedenfalls nicht fündig geworden.


    Hoffentlich habe ich dann beim Vor-Ort-Stöbern mehr Erfolg.


    :hello:


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Hallo Ekkehard,


    Zitat

    Original von lohengrins
    Ist die von Dir genannte Aufnahme noch irgendwo zu erwerben? Unter jpc und kulturkaufhaus bin ich jedenfalls nicht fündig geworden.


    in der Tat dürfte es schwierig werden, diese Aufnahme zu einem fairen Preis aufzutreiben. Leider weiß ich diesbezüglich keinen Anlaufpunkt. Wünsche Dir jedenfalls viel Erfolg beim Stöbern.


    Herzliche Grüße
    Johannes

  • Hallo Ekkehard,


    wenn nicht anders beschaffbar und es nicht unbedingt das Original sein muß, gibt es diese vorzügliche Aufnahme zumindest noch in verschiedenen Berliner öffentlichen und Musikbibliotheken.


    :hello: Matthias

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  • Hallo.


    Danke für eure Tipps. :yes:


    Unterdessen bin ich in dem angekommen, was ich als Gegenwart für Musikfreunde annehmen muss: So gibt es die Busoni-Faust/Leitner-Aufnahme nicht mehr neu zu erwerben. Richtig? Fast. Denn über iTunes oder den DGG-Internet-Auftritt kann der Interessierte die Aufnahme sehr wohl "neu" kaufen.
    Dem muss ich dann wohl in puncto Musikwiedergabe/Anlage Rechnung tragen, denn diese Entwicklung wird ja wohl eher in eben diese Richtung fortschreiten. Aber das ist hier natürlich OT, entschuldigt.


    :hello:


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot