Die Geschichte des „Comte Ory“ stammt aus dem Mittelalter und geht auf eine picardische Romanze zurück, „Le Comte Orry et les Nonnes de Farmoutier“. Sie erzählt, wie der Graf Orry, ein begnadeter Verführer, gemeinsam mit 14 Männern in ein Nonnenkloster eindringt und dort sämtliche Nonnen, inklusive ihrer Äbtistin des nächtens geschwängert werden.
Eugène Scribe und Charles-Gaspard Deslestre-Poirson machten aus diesem Stoff ein einaktiges Vaudeville (uraufgeführt im Jahr 1816), also eine Art Singspiel, mit Musik verschiedener Komponisten, das die Drastik der Romanze etwas abmilderte. Die Zensur verlangte beispielsweise, dass sich hier keine Nonnen irgendwelchen Frivolitäten hingeben dürfen. So wurde die Handlung in ein Schloss verlegt, deren männliche Bewohner gerade unterwegs waren, um Jerusalem zu befreien, nicht, ohne die daheimgebliebenen Frauen mit einem Keuschheitsgebot zu belegen und die finale Zuspitzung der Romanze, dass es tatsächlich zum Vollzug des Geschlechtsaktes kommt, wurde dadurch vereitelt, dass die Herren Kreuzritter rechtzeitig wieder nach Hause finden.
Für Rossini wurde nun das Libretto erweitert, aus einem wurden zwei Akte, die Handlung wurde modifiziert, auch nochmals etwas weniger unmoralisch gestaltet und aus den Dialogen wurden Rezitative.
Bei der Musik bediente sich Rossini reichlich bei seiner eigenen Krönungsoper „ Il viaggio a Reims“, etwa 2/3 der Musik stammen aus diesem für den konkreten Anlass der Krönung Karls X. geschriebenen Werks.
Bei den Figuren der Handlung finden sich einige berühmte Vorbilder wieder: im Comte Ory selbst entdeckt man den Verführer par excellence Don Giovanni, in seinem Pagen Isolier unschwer den Kollegen aus der Mozartschen „Nozze, Cherubino.
In Stuttgart inszenierte mit diesem „Comte Ory“ Igor Bauersima, Regisseur, Archtitekt, Theaterautor, Bühnenbildner, zum erstenmal Oper, und so richtig überzeugend gelang ihm das nicht.
Die Bühne zeigt im ersten Teil einen Rummelplatz, im Hintergrund als Videoeinspielung ein Riesenrad, später werden dort auch andere Fahrgeschäfte zu sehen sein. Davor, in der Bühnenmitte, eine Art Spiegelkabinett auf einer Drehscheibe, links und rechts wird die Bühne durch halbrunde, silbrigglänzende Lametta-Vorhänge begrenzt.
Ein Portalrahmen umschliesst das Proszenium. Immer wieder flimmern Videobilder über diesen Rahmen und die Silbervorhänge: Ornamente, Andeutungen von Spielorten, bildhafte Kommentierungen des Bühnengeschehens.
Beim Bühnenaufbau und der Nutzungsmöglichkeit dieser Dekoration ist Bauersima voll in seinem Element, das ist gut gemacht und beeindruckend.
Wenn der Vorhang sich hebt, putzt noch ein Hausmeister die Bühne, der sich irritiert vom Auftrittsapplaus für den Dirigenten, verbeugt und abgeht. Auf dem Bühnenboden der Comte Ory und sein Freund Raimbaud, sie schlafen, notdürftig von Zeitungen zugedeckt.
Ory sieht aus wie eine Mischung aus in die Jahre gekommener Lehrer und Esoterik-Guru: lange, graue Haare und ebensolcher Bart, dazu die Lesebrille am Kettchen um den Hals hängend, helle Hose, helles Jackett, sein Freund Raimbaud ist gleich gekleidet, bei allerdings gänzlich kahlem Haupt.
Dieses Spiel mit Spiegelungen, mit Identitäten, findet sich immer wieder in dieser Inszenierung, das macht auch Spass, das mitzuverfolgen, z. B., wenn die in sich drehbaren Spiegel des Kabinetts in der Bühnenmitte, das sich als Wahrsagebude des Ory entpuppen wird, immer wieder verändert, die Sicht frei gibt oder verschliesst.
Der Tag beginnt und Ory betätigt sich als Jahrmarktswahrsager, zeigt sich zuerst in seiner Bude im Häschenkostüm um dann in seiner – nur vermeintlich – wahren Gestalt zu erscheinen.
Sein Freund Raimbaud sammelt die Geldscheine für diese letztendlich Betrügerei ein.
Die Damenwelt ist von dem falschen Wahrsager entzückt, man fragt sich, was da wohl in dieser Bude wirklich vorgeht, jedenfalls entledigen sich die Frauen nach Besuch der selben schon mal ihres BHs und ihres Höschens (die Oberbekleidung bleibt allerdings da, wo sie hingehört).
Das Schloss liegt vorne im Zuschauerraum, von dort kommen die Bewohnerinnen desselben auf die Bühne, um sich den lauten Rummel ebenfalls anzuschauen. Ragonde, die Freundin der Gräfin Adèle im gouvernantenhaften Kostüm, findet Gefallen an dem merkwürdigen Wahrsager und lädt ihn ins Schloss ein, um die Gräfin aufzumuntern.
Der Frauenheld Ory sagt da nicht nein, hat er doch Adèle schon länger im Blick, was er allerdings mit seinem Lehrbuben Isolier gemeinsam hat.
Der tritt auf, schwarze Hose, schwarzes Jackett, weisses Hemd und die unvermeidlichen Turnschuhe drunter, die junge Männer zwar gerne tragen, aber zum Anzug eher unpassend sind. Im Schlepptau: Karl Marx, der alte Kapitalismuskritiker, grauer Anzug, rote Socken, er ist der Erzieher des Ory – und hat offensichtlich versagt, Ory versteht sich auf kapitalistische Prinzipien.
Kurz laufen zwei Show-Mädchen durchs Bild – stellen fest das sie eigentlich in Bieitos „Holländer“ am gleichen Ort gehören und verschwinden schnell wieder in der Gasse.
Isolier konsultiert den Wahrsager, ohne zu wissen wer das ist und erzählt von seinem Plan, als Nonne verkleidet zu seiner verehrten Adèle vorzudringen.
Das ist wieder sehr schön anzuschauen, wie die beiden, Ory und Isolier sich durch einen Spiegel getrennt, unterhalten und die identischen Bewegungen ausführen.
Nun, der Akt geht zu Ende, wie vorgesehen, Adèle kommt auf die Szene, lässt sich vom Wahrsager überreden, sich der Liebe hinzugeben (womit Adèle allerdings nicht an Ory, sondern an Isolier denkt), Ory warnt vor Isolier und gerade in dem Moment, wo er mit Adèle ins Schloss einziehen will, entarnt Karl Marx den Betrüger. Zu allem Übel wird angekündigt, dass die Männer, unter ihnen Adèles Bruder, von ihrer Geschäftsreise heimkommen.
Der zweite Akt besticht wieder durch das Bühnenbild: der Orchestergraben ist hellblau ausgekleidet – eine Einstiegsleiter und ein Sprungbrett, sowie ein paar Liegestühle suggerieren Pool-Atmosphäre. Links und rechts zwei nach oben führende Treppen, der Hintergrund wird im Halbrund von dem schon bekannten Silberlamettavorhang begrenzt.
Schick sieht das aus, alles ist durchtechnisiert, aber: die Fernbedinung klemmt, erst lässt sich die Musik nicht anstellen, dann geht der Vorhang nicht hoch, und immer wieder dreht sich die Drehbühne auch dann, wenn sie das nicht soll.
Die Frauen treten auf: zwei nehmen schon mal ein Bad im Pool, andere legen eine Gesichtsmaske auf, eine meditiert, mehrere machen Aerobic oder rasieren sich die Beine.
Eine wenig herrscht gediegene Langeweile, doch da naht Rettung: eine Schar Nonnen steht vor der Tür – die allerdings sind gar keine Nonnen, sondern der verkleidete Ory und seine Freunde in entsprechendem Habit.
Die ganze Szene (wie andere Stellen in dieser Inszenierung auch) ist etwas klamottig: zwei der Herren Nonnen dürfen als Pinguine auf die Bühne, später wird Ory obenrum noch als Nonne erkennbar sein, untenrum hat er nur noch seine Boxershorts an, das wirkt etwas altbacken, Slapstick von gestern, und letzendlich doch arg brav.
Alleingelassen trinken die „Nonnen“ einige Flaschen Wein, die Raimbaud organisiert hat, auch Karl Marx tut mit und nach diesem kleinen Gelage werden die Herren im Damenkostüm in die Betten verfrachtet.
Isolier kommt aufgeregt ins Schloss und erzählt, dass die Männer des Haushalts noch in der selben Nacht zurückkommen werden und ihm ist auch klar, wer da als Nonnen verkleidet im Schloss eingedrungen ist.
Ory kommt hinzu und eine merkwürdige Ménage à trois beginnt: im Nachthemd der Adèle tummeln sich nach- und miteinander Adèle selbst, Isolier und Ory: Ory hält Isolier für Adèle, Isolier mach sich an Adèle zu schaffen, die aber glaubt, Isolier wäre Ory...
Der Lehrjunge gibt sich zu erkennen, Ory muss sich geschlagen geben und – weil die Schloss-Bewohner nun direkt vor der Tür stehen, bittet Ory um Gnade: er und seine Kumpanen werden durch einen Geheimgang aus dem Schloss geführt, während die Geschäftsleute mit ihren Aktenkoffern von der Dienstreise heimkehren.
Manches gelingt Igor Bauersima auch bei der Personenführung gut, man merkt allenthalben sein Bemühen um sinnvolle Aktion, anderes sieht dann eher nach Opernkonvention aus, z. B. bei den Finali, wenn sich alle Beteiligten in eine Richtung bewegen oder nur auf der Bühne verharren.
Die komisch gemeinten Einschübe verlieren sich in Ideen à la Isolier bleibt mit dem Fuss im Putzheimer stecken und wird diesen nicht mehr los...
Musikalisch keine Sternstunde, das liegt zuförderst am nicht gerade champagnerspritzigen Dirigat von Enrique Mazzola, bei dem der Klang im Tutti keine Delikatesse verbreitet, die Instrumentalsoli klingen da schon weitaus schöner.
Solide Angelo Scardina als Ory. Zu Beginn arg ungenau mit seinem blassen, meckernden Tenor, der zu sehr auf das Herausstellen der Spitzentöne abzielte. Er musste als einziger an diesem Abend wenige Buh-Rufe hinnehmen.
Ebenfalls durchschnittlich Adam Kim als Raimbaud, dessen Bariton für Rossini zu robust, zu wenig flexibel, zu eindimensional ausfällt.
Matias Tosi, der Erzieher, verfügt über einen etwas unruhigen Bass mit enger Höhe, Ina Kancheva, die Adèle, mit hartem, slawischen Einschlag, bemüht sich nicht immer erfolgreich um eine gesanglich zufriedenstellende Leistung und Ezgi Kutlu, die Ragonde – auch sie mit eher hartem Material gesegnet - verfügt immerhin über eine klangvolle Altstimme, die man vielleicht gerne mal in einer anderen Rolle kennen lernen möchte.
Die beste Leistung bot Tina Hörhold als Isolier, ein heller, ausgeglichener und weitgehend sicher geführter Mezzosopran.
Der Chor war an anderen Abenden schon stärker und bot eher eine routinierte, als engagierte Leistung, der Zusammenhalt Solist/innen, Chor und Orchester war insgesamt auch nicht immer berauschend.
Freundliche Zustimmung und lang anhaltender Applaus vom Stuttgarter Premierenpublikum.