Hanns Eisler: Deutsche Symphonie op. 50

  • Hanns Eisler (1898 - 1962)


    Deutsche Symphonie op. 50


    Für Mezzosopran, Bariton, Bass, zwei Sprechstimmen, gemischten Chor und Orchester


    Libretto: Berthold Brecht und Hanns Eisler, nach Ignazio Silone; Anonymus: 8 a-c
    Entstehung: 1930 – 1939, 1947, 1958
    Uraufführung: 24.04.1959, Berlin
    Dirigent: Walter Goehr
    Verlag: Breitkopf & Härtel, Leipzig
    Dauer: ca. 70 Minuten



    Inhalt:


    01. Praeludium: O Deutschland, bleiche Mutter
    02. An die Kämpfer in den Konzentrationslagern (Passacaglia): Kaum erreichbare ihr, in den Lagern begraben
    03. Etüde für Orchester: Allegro energico
    04. Erinnerung: Zu Potsdam unter den Eichen
    05. Sonnenburg: Es steht in Sonnenburg ein deutsches Lager
    06. Etüde für Orchester: Allegro ma non troppo
    07. Begräbnis des Hetzers im Zinksarg: Hier in diesem Zink liegt ein toter Mensch
    08. Bauernkantate
    - a. Missernte: Wenn Gott sich nicht um den Regen kümmert
    - b. Sicherheit: Während des ganzen Lebens
    - c. Flüstergespräche (Melodram): Wenn sie wenigstens den Prozess den Verhafteten machen dürfen
    - d. Bauernliedchen: Bauer, steh auf (Text nach Julius Bittner)
    09. Arbeiterkantate (Das Lied vom Klassenfeind): Als ich klein war, ging ich zur Schule
    10. Allegro für Orchester: Allegro energico
    11. Epilog: Seht unsre Söhne, taub und blutbefleckt



    Orchester:


    2 Flöten (2. auch Piccoloflöte), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott
    4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba
    Pauken, Schlagzeug
    Streicher





    Informationen über die Entstehung des Werkes muss ich an dieser Stelle leider schuldig bleiben. Es war mir nicht möglich irgendetwas darüber in Erfahrung zu bringen (nicht einmal im Bookled meiner CD war darüber zu lesen). Trotzdem wollte ich auf diesen Thread nicht verzichten. Da es aber Sitte in diesem Forum ist, bestehende Threads mit eigenen Beiträgen zu ergänzen, bin ich sicher, das der eine oder andere die fehlenden Infos nachreichen wird. Vielen Dank dafür im Voraus.



    Versuch einer Werkbeschreibung:


    Die Symphonie beginnt mit einem langsamen Vorspiel für Orchester. Tiefe Streicher tragen ein schwermütiges Thema vor, dem sich nach und nach die restlichen Instrumentengruppen anschließen. Nach einem kurzen dramatischen Höhepunkt setzen der Chor und der Sopran mit Berthold Brechts poetischem Bild von Deutschland als der "besudelten, bleichen Mutter" ein. Mit einem gewaltigen Ausbruch des Orchesters wird das Klagelied beendet und das einleitende Thema der Streicher wiederholt.


    In der folgenden Passacaglia für Sopran, Chor und Orchester konkretisiert sich die Klage in eine Anklage gegen den nationalsozialistischen Terror in den Konzentrationslagern. Mit der Textstelle: "Also seid ihr verschwunden, aber nicht vergessen" würdigt der Sopran die wahren Helden Deutschlands bevor dumpfe Schläge im Orchester den Satz abrupt beenden.


    Die Etüde für Orchester ist das erste von drei Orchesterzwischenspielen. Die in ihr dominierenden Blechbläser mit Schlagwerk präsentieren ein rhythmisch abwechslungsreiches und ausdrucksstarkes Klangbild.


    Das Orchesterlied "Zu Potsdam unter den Eichen" für Bariton, Chor und Orchester beschreibt einen Leichenzug am hellen Mittag der blutig niedergeschlagen wird: "So zogen sie durch Potsdam, für den Mann am Chemin des Dames. Da kam die blaue (in anderen Interpretationen „grüne“) Polizei, und haute sie zusamm."


    Das Duett "Es steht in Sonnenburg ein deutsches Lager" für Sopran und Bariton gibt die unerträgliche Situation im Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin (Polen) wieder. Gestopfte Blechbläser eröffnen den kurzen und hastig wirkenden Satz.


    Ein Solocello leitet das verhaltende zweite Orchesterzwischenspiel ein. Der ebenfalls mit "Etüde für Orchester" überschrieben Satz entwickelt sich zu einem hastigen Intermezzo, das aber ruhig ausklingt.


    In der Szene "Begräbnis des Hetzers im Zinksarg" für Sopran, Bariton, Chor und Orchester wird die faschistische Propaganda bloßgestellt. Die dramatische Zuspitzung findet ihren Höhepunkt in einer gewaltigen Eruption des Orchesters bevor die "Lügen" heimlich und leise verstummen.


    Die anschließende "Bauernkantate" besteht aus vier ineinander übergehenden Teilen. "Missernte" und "Sicherheit" sind lebhafte Orchesterlieder für Bariton und Chor. Im dritten Teil "Flüstergespräche" (auch als Melodram überschrieben) lauschen wir einem Dialog über den Verlauf des Krieges. Das aufrüttelnde Lied "Bauernliedchen" (Text von Julius Bittner) für Bariton und Orchester beschließt die Kantate.


    Die "Arbeiterkantate" für Sopran, Bariton, zwei Sprecher, Chor und Orchester ist mit fast 15 Minuten der längste Teil der Symphonie. Das von Berthold Brecht im Exil geschriebene "Lied von Klassenfeind" steht ganz im Mittelpunkt dieses dramatischen Satzes. Eine gewaltige Apotheose aller Beteiligten über den Ausruf "Klassenfeind" verschafft der Kantate einen fesselnden Abschluss.


    Das letzte und längste Orchesterzwischenspiel "Allegro für Orchester" spiegelt noch einmal alle Grausamkeiten des Krieges wieder. Das gespenstische Solo einer Violine leitet zu einem letzten Aufbäumen der Klangmassen über das den Satz ohrenbetäubend beendet.


    Ein kurzer "Epilog", von Hanns Eisler erst kurz vor der Uraufführung 1959 hinzugefügt, lässt das Werk unspektakulär ausklingen. Zu den Textzeilen "Seht, unsre Söhne, taub und blutbefleckt" empfahl Eisler die Projektion von Photos halb erfrorener deutscher Soldaten vor Stalingrad.




    Einspielungen:


    Elisabeth Breul, Sopran
    Hermann Hähnel, Bariton
    Fred Teschler, Bass
    Ekkehard Schall, Sprecher
    Hilmer Thate, Sprecher
    Rundfunkchor Leipzig
    Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig
    Adolf Fritz Guhl


    Berlin Classics / Eterna





    Gisela Burkhardt, Sopran
    Uta Priew, Mezzosopran
    Rosemarie Lang, Alt
    Andreas Sommerfeld, Bariton
    Tomas Möwes, Bass
    Martin Seifert, Sprecher
    Stefan Lisewski, Sprecher
    Rundfunkchor Berlin
    Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin
    Max Pommer


    Berlin Classics




    Sophie Koch, Sopran
    Carolin Masur, Alt
    Eike Wilm Schulte, Bariton
    Kurt Rydl, Bass
    Tomas Möwes, Bass
    Jean-Louis Depoil, Sprecher
    Pierre Roux, Sprecher
    Choeur de Radio France
    Orchestre Philharmonique de Radio France
    Eliahu Inbal


    Naive




    Hendrikje Wangemann, Sopran
    Annet Markert, Alt
    Matthias Görne, Bariton
    Peter Lika, Bass
    Gert Gütschow, Sprecher
    Volker Schwarz, Sprecher
    Ernst Senff Chor Berlin
    Gewandhausorchester Leipzig
    Lothar Zagrosek


    Decca




    Aufführungen 2008:


    22.08.2008 - Kunstfest Weimar, Weimarhalle
    INFO


    31.08.2008 - Beethovenfest Bonn, Beethovenhalle
    INFO


    05./06.09.2008 - Berlin, Konzerthaus
    INFO



    Wer kennt das Werk und kann ergänzende Anmerkungen machen?


    Davidoff

    Verachtet mir die Meister nicht

  • hallo,


    hier einige daten zur entstehung der "deutschen symphonie":


    am 20. juli 1935 schrieb eisler an brecht: "ich habe übrigens einen sehr interessanten kompositionsplan, und zwar will ich eine große symphonie schreiben, die den untertitel "konzentrationslagersymphonie" haben wird. es wird auch an einigen stellen chor verwendet, obwohl es durchaus ein orchesterwerk ist. /.../ die ersten skizzen, die ich dazu gemacht habe, sind äußert vielversprechend. ich hoffe, dass das etwas großariges wird."


    zeittafel (rekostruiert aus dem booklet der pommer-aufnahme):


    1935, detroit (oder chicago, da gibt es widersprüchliche angaben): erste skizzen
    1936, london: sätze 1, 2, 5, 10
    1937, skovsbostrand bei svendborg (dänemark): sätze 4, 7, 8, 9
    1938, new york: weiterführung von satz 10
    1939, new york: satz 6
    1947, malibu/los angeles: ausführung der partitur für satz 10, für satz 3 verwendete er den 4. satz der 1930 entstandenen orchestersuite nr. 1
    1958, berlin (?): epilog - geschrieben zur bevorstehenden uraufführung aus material der 1957 entstandenen "kriegsfibel"


    hat ganz schön lang gedauert von den ersten skizzen bis zur uraufführung...


    greetings, uhlmann

  • Die Inabal-Aufnahme kenne ich nicht.
    Die Zagrosek-Aufnahme ist von der Tonqualität zwar am besten von den drei anderen, aber sie ist mir insgesamt zu schön, die musikalischen Kontraste des Werks nicht hart genug herausspielend, sondern eher weichzeichnend. Die Chorgesänge sind sogar richtig hübsch. Edwin bezeichnete es andernorts "kulinarisch" und, nein, das passt bei Eislers Werk nicht.
    Wesentlich werkadäquater sind sowohl Pommer als auch Guhl. In beiden singen die Sänger eher "episch" im Brechtschen Sinne, die Chöre klingen mehr nach "Arbeiter- und Bauern"-chören. Dabei ist der Rundfunkchor Leipzig bei Guhl nach meinem Eindruck ein klein wenig besser als der Rundfunkchor Berlin. Jedoch finde ich unter Pommers Leitung das Orchester noch besser, noch schärfer engagiert die Kontraste herauspielend. So finde ich insbesondere die drei Orchesterzwischenspiele bei Pommer stärker.


    :hello: Matthias

  • Immerhin, zur Leistung des RSO Leipzig gibt es eine Dankeskarte von Hanns Eisler für die Aufführung der "Deutschen Sinfonie" vom Komponisten selbst:


    "Mit herzlichem Dank für die mühevolle Arbeit. Es ist ein wirklich hervorragendes Orchester und es war eine Freude mit Ihnen zu arbeiten. Hanns Eisler 3.4.1958"
    (Unterstreichung vom Komponisten).


    Zu Davidoffs Einspielungsliste ist noch der Uraufführungsmitschnitt zu erwähnen. Dieser Mitschnitt wurde von dem DDR-Label NOVA veröffentlicht. Bei der Uraufführung vom 24.4.1959 spielte die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Walter Goehr. Solisten waren:


    Irmgard Arnold, Sopran
    Robert Lauhöfer, Bariton
    Fred Teschler, Baß
    Fred Düren, Sprecher
    Ulrich Thein, Sprecher
    Opern- und Konzertchor der deutschen Staatsoper Berlin
    Einstudierung: Paul Schmidt


    Ich finde es durchaus interessant, daß die Schallplattenserie "unsere neue musik" der DDR 1964 gerade mit dieser Sinfonie eröffnet wurde (das Doppelalbum war die Folge 1/2). Mich erstaunt, daß die Verantwortlichen des VEB-Schallplatten für dieses Album nicht den Uraufführungsmitschnitt wählten, sondern die 1964 entstandene Aufnahme mit Adolf Fritz Guhl. Der Mitschnitt der Uraufführung wurde erst 1978 auf dem Label NOVA veröffentlicht, dort gekoppelt mit den Suiten Nr. 5 op. 34 und Nr. 6 op. 40, beide von A.F. Guhl dirigiert.


    Walter Goehr ist 1960 in Sheffield nach einem Dirigat des "Messias" verstorben. Möglicherweise widerstrebte es den Verantwortlichen der Serie "unsere neue musik", die Serie mit einem Werk zu starten, dessen Einspielungsdirigent bereits verstorben war. Und der überdies zu dejenigen von den Nazis Vertriebenen gehörte, der nicht der DDR Fuß fassen wollte, sondern in seiner britrischen Emigration blieb und auch dort - viel zu früh - verstarb.


    Die Einspielung ist außerordentlich hörenswert.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.