Oper Zürch, Carmen (Bizet), PR am 28.Juni 2008

  • Am 28. Juni ging die PR von Bizets "Carmen" über die Bühne des Opernhauses Zürich, der mit Spannung erwartete Höhepunkt der Opernfestspiele. Gespielt wurde die Rezitativfassung auf Grundlage der kritischen Neuausgabe von Michael Rot, für mich ein kleiner Wermutstropfen pgleich zu Beginn, weil ich die Dialogfassung ungleich stimmiger und stringenter finde.
    Zum letzten Mal stand Franz Welser-Möst in seiner Funktion als GMD im Orchestergraben, und zumindest bei den Bläsern machte sich der Abschiedsschmerz in Form einiger Patzer schon zu Beginn der Ouvertüre bemerkbar. Ansonsten agierte das Opernorchester Zürich aber auf gewohnt hohem Niveau, und an Welser-Mösts Dirigat gefiel mir wie immer die Durchsichtigkeit, die Kleinteiligkeit, dass man bei ihm auch dort Details der Partitur wahrnimmt, wo andere mit effektvollen, aber oft nur diffusen Klangmassen beeindrucken wollen. Das zeigte sich schon bei der Ouvertüre, die er nicht wie so manche seiner Kollegen als wahres Furioso durchpeitschte, sondern auch hier sehr subtil musizieren ließ.
    Als sich der Vorhang öffnete, wusste ich schon, dass es zumindest optisch eine wunderbare Aufführung werden würde, denn das Bühnenbild war so ganz nach meinem Geschmack. "Welches Bühnenbild?" würden jetzt vermutlich einige konsterniert fragen, denn vorerst sah man nur eine weiße, leicht nach vorne geneigte Scheibe, die von einem ebenfalls hellen Rundhorizont abgeschlossen wurde. Aber da mir bekanntlich eine Bühne nicht leer genug sein kann, schien mir dieser Beginn sehr vielversprechend. Volker Hintermeier ging äußerst sparsam mit Requisiten um, die übrigens immer von den Sängern auf die Bühne gebracht werden. Im 1. Akt genügen ein weißer Sessel mit Sonnenschirm und ein vom Schnürboden heruntergelassenes Tor, das durch eine darüber applizierte Leuchtreklame in Zigarrenform als Eingang zur Tabakfabrik definiert wird. Aber mehr braucht es auch nicht, und gemeinsam mit der hervorragenden Lichtregie von Martin Gebhardt wird eindrucksvoller als auf so mancher vollgeräumten Bühne diese ganz spezielle Atmosphäre eines drückend heißen Nachmittags unter südlicher Sonne suggeriert. Die Scheibe bleibt auch nicht weiß, sondern nimmt sehr oft die Farbe eines sandigen Untergrunds an, während der Rundhorizont nicht nur situativ gefärbt ist, sondern oft auch auf die seelischen Vorgänge der Protagonisten Bezug nimmt, allerdings nicht so plakativ, wie ich das schon oft in anderen Inszenierungen erlebt habe. (Wutausbruch = roter Hintergrund, so in dieser Art) Ganz leer ist die Bühne übrigens nicht, denn der Souffleurkasten tarnt sich als großer, schlafender Hund, der mit dem Schwanz wedeln und mit den Ohren wackeln kann, wenn er gestreichelt wird oder er seine Begeisterung nach der Habanera zum Ausdruck bringen will. Ein ziemlich alberner und höchst überflüssiger Gag, aber dem Publikum gefällt es, wie die große Heiterkeit zumindest bei der PR bezeugte.
    Natürlich war ich auf die Regie unseres designierten Burgtheaterdirektors Matthias Hartmann besonders neugierig, betrachtete ich sie doch als kleinen Vorgeschmack, was uns erwarten würde. Nun, ehrlich gesagt weiß ich es nach dieser "Carmen" nicht wirklich, denn irgendwie schienen die vielen interessanten Ansätze des ersten Aktes im Laufe des Abends im wahrsten Sinn des Wortes im Wüstensand zu versickern, sodass im letzten Bild mit weniger begabten Singschauspielern nur mehr statisches Rampentheater übrig geblieben wäre. Aber Vesselina Kasarova und ganz besonders natürlich Jonas Kaufmann wissen auch ohne Regisseur, wie man sich auf einer Bühne bewegt.
    Hartmann verzichtet auf die gesamte Statisterie, deren Rollen quasi das Publikum einnimmt, denn sowohl im 1.wie auch im 4. Akt reagiert der Chor auf imaginäre Vorgänge im Zuschauerraum. Auch kein neuer Einfall, aber immer wieder praktikabel. Leider ist Hartmann zum Chor selbst so gut wie nichts eingefallen, außer dass sich die Polizisten (zu solchen mutieren Meilhacs und Halevys Soldaten) im Gleichtakt in den Schritt langen müssen (Merke: Spanier sind Machos, und die tun so was!) und von links nach rechts rennen. Auch in den folgenden Akten führt der Chor ein stiefmütterliches Dasein, denn Hartmanns Interesse gilt einzig und alleine Don José und etwas eingeschränkter Carmen (Das leidige Problem, wenn ein Spezialist für Sprechtheater mit einer Opernregie betraut wird....) Aber auch da scheint ihn nach dem 1. Akt die Inspiration, die Lust oder schlicht und einfach die Zeit verlassen zu haben, denn von der Regie merkt man von Akt zu Akt wie oben bereits erwähnt immer weniger.
    Dabei beginnt es durchaus interessant: Jonas Kaufmanns Don José ist weder der naive Naturbursche, noch der testosterongesteuerte Heißsporn, wie er üblicherweise gezeichnet wird, sondern ein verklemmter Pedant mit Ödipuskomplex. Ziemlich befremdlich, auch ich brauchte einige Augenblicke, um mich an diese Interpretation zu gewöhnen, aber warum nicht? Zunächst aber sind die Polizisten (ihre Uniformen erinnerten mich an Carabinieri)am Zug, die ihre überschüssigen Hormone und ihre Langeweile an Micaela abregagieren: Dieses hübsche junge Ding komt ihnen gerade recht, und ziemlich bald folgen den zudringlichen Worten ebensolche Gesten, Micaela wird eingekreist und kann gerade noch flüchten, allerdings im Unterkleid. Don José erscheint zur Wachablöse und richtet sich unter dem Sonnenschirm ein: Aus einer großen Tasche zieht er einen batteriegesteuerten Miniventilator, der an der Stange befestigt wird, die Jacke wird über den Sessel gehängt und immer wieder zurechtgezupft, bis sie ganz symmetrisch ausgerichtet ist, die Kappe ebenso sorgfältig an den Ständer gelehnt, und während sein Vorgänger Pornohefte und Bierflaschen bei sich hatte, verpflegt sich Don José mit sorgfältig verpackten Broten (Butterbrotpapier und Blechdose), selbstverständlich breitet er vorher eine Serviette über die Knie und selbstverständlich trinkt er nur Orangensaft. Diesem Spießer glaubt man aufs Wort, dass ihn die Tabakarbeiterinnen überhaupt nicht interessieren, und als ihm Zunige hämisch grinsend Micaelas Kleid überreicht, das ihr die Meute vorhin ausgezogen hat, weiß er damit sichtlich überhaupt nichts anzufangen und lässt es fallen. Er löst lieber Kreuzworträtsel (Oder Sudoko??), und zwar so eifrig, dass ihm Carmens Auftritt völlig entgeht. Erst als sie immer dichter um seinen Sessel streicht, blickt er irritiert auf, nimmt seine Brille ab und setzt sie wieder auf, und vertieft sich wieder in sein Rätsel. (Mit der Brille spielt er von Anfang an herum, sie scheint für ihn so eine Art Schutz vor der "schmutzigen Welt" zu sein) Zwar schaut er hin und wieder flüchtig auf Carmen, aber weniger aus echtem Interesse und schon gar nicht, weil ihn Amors Pfeil getroffen hätte, sondern aus Pflichtbewusstsein - schließlich repräsentiert er das Auge des Gesetzes. Auch als ihn Carmen provoziert und die Blume in den Schoß wirft, bleibt das ohne besondere Wirkung - er kann das Verhalten dieser ihm ganz und gar nicht geheuren Person sichtlich nicht einordnen.
    Als dann Micaela, immer noch im Unterkleid, auftritt, umarmt er sie zwar stürmisch, aber so wie ein Bruder seine Schwester umarmen würde, und wendet sich peinlich berührt ab, als er ihre Blöße bemerkt. Wobei peinlich berührt noch untertrieben ist für Kaufmanns Körpersprache und Mimik - das ist pure Panik, denn der eine Blick hat genügt um ihm zu zeigen, dass aus der Jugendfreundin eine - Hilfe!!!!!!!! - Frau geworden ist. Immer noch abgewendet nimmt er den Brief in Empfang - nur ja nicht hinschauen!! Ganz deutlich wird nun, dass Micaela nur als Medium zwischen Don José und der Mutter fungiert, denn die beinahe religiöse Verzückung, mit welcher er den Brief an die Lippen drückt, spricht eine mehr als deutliche Sprache. Ebenso entrückt bietet er Micaela die Wange zum Kuss, die sichtliche Enttäuschung des Mädchens über dieses sehr platonische Angebot nimmt er überhaupt nicht wahr. Hartmann nimmt hier einen kompletten Rollenwechsel vor, denn während Micaela üblicherweise als schüchternes Mädchen auftritt, das den "baiser de la mere" nur zögernd überbringt, ist es hier genau umgekehrt: Sie weiß ganz genau, was sie will, nämlich Don José heiraten, und sein offenkundiges Desinteresse an ihr als Frau frustriert sie zunehmend. Immer wieder versucht sie Körperkontakt herzustellen, schmiegt sich an ihn, dreht sogar sein Gesicht herum, um ihn auf den Mund zu küssen, aber er nimmt es entweder gar nicht wahr oder reagiert befremdet. Statt dessen träumt er verzückt von seiner Mutter und bemerkt gar nicht, dass Micaela abgeht, während er den Brief liest. Er versucht nicht wie üblich, sie zurückzuhalten, er vergisst völlig, dass sie überhaupt da ist. Micaela bleibt noch einige Male stehen in der Hoffnung, er würde sie zurückrufen, aber er ist völlig in den Brief vertieft, den er wie eine kostbare Reliquie behandelt und immer wieder an den Mund drückt. Seine enthusiastische Bereitschaft, Micaela zu heiraten, ist völlig losgelöst vom Objekt, ist nur Ausdruck seiner Hingabe an die geliebte Mutter, Ausdruck einer Mutter-Sohn-Bindung, die nicht ganz frei von pathologischen Zügen ist.
    Wie wenig ihn Micaela interessiert, zeigt Josés indifferente Haltung, mit der er wenig später Zuniga entgegentritt. Nun weiß er ja, wessen Kleid dieser ihm vorhin überreicht hat (Micaela findet es neben dem Sessel und zieht es schnell über), aber weder seine Mimik noch seine Körpersprache verraten, dass er ihm die Beinahe-Vergewaltigung seiner Braut übel nimmt.
    Dafür reagiert er panisch, als er Carmen verhaften soll, und sein Versuch, sie zu fesseln, ohne sie dabei zu berühren, ist wieder köstlich zu beobachten. Carmen weiß, dass sie mit diesem Klemmi leichtes Spiel hat, sie braucht sich nur an ihn zu schmiegen (Rücken an Rücken), und den Körperkontakt wirken zu lassen .... Und er wirkt prompt, denn in Don José erwachen Gefühle, von denen ihm la mere nichts erzählt hat, und wie Jonas Kaufmann diese ganze Gefühlspalette von anfänglichem Entsetzen, immer schwächer werdendem Widerstand bis hin zur vollständigen Kapitulation spielt, ist wirklich oscarreif. Am Beginn dieser Szene nimmt ihm Carmen übrigens die Brille ab und lässt sie in ihrem Ausschnitt verschwinden, und da er sie in den folgenden drei Akten nicht mehr trägt, deute ich das so, dass sie ihn "sehend" macht, während bisher eine gläserne Wand zwischen ihm und dem realen Leben gestanden ist.
    Schwach inszeniert ist hingegen Carmens Flucht, wobei mir auch nach der 2. Aufführung immer noch nicht klar ist, was da genau passiert oder vielmehr nicht passiert. Die Arbeiterinnen und Polizisten umringen Carmen und Don José, die ihn keineswegs zu Boden stößt, wie es das Libretto vorsieht, sondern ziemlich ruhig durch die Menge, die zurückweicht, davongeht, während José zu Boden sinkt.
    Nun aber endlich zur Titelheldin, nämlich Carmen: Auch sie entspricht überhaupt nicht dem üblichen Rollenbild, aber anders als bei Don José wird mir hier die Intention des Regisseurs nicht wirklich klar. Vesselina Kasarova ist eine völlig temperamentlose, statische Carmen, die vor allem auch jene rickelnde Erotik vermissen lässt, die meiner Meinung nach unumgänglich notwendig ist, um ihre Wirkung auf die Männer und besonders Don José plausibel zu machen. Es ist alles so beiläufig, indifferent, und mir ist bis zum Schluss nicht wirklich klar geworden, wer diese Carmen wirklich ist, was sie antreibt. Aber vielleicht bin ich durch "meine" Carmen Agnes Baltsa wirklich für alle anderen verdorben......
    Der 2. Akt spielt bekanntlich vor den Wällen Sevillas, in der Schenke von Lillas Pastia. Links erhebt sich nun ein Telegrafenmast, auf halber Höhe eine kleine Marienstatue, eine Girlande aus Glühbirnen spannt sich davon ausgehend über die Bühne und endet irgendwo in der Gasse, ein kleiner Tisch mit Fernsehapparat steht unter dem Mast, auf dem Sessel davor schläft ein Polizist (Der sich später als verkleideter Remendado entpuppt) Über den Schirm flimmert ein Fußballmatch (Merke: Es ist EM-Zeit!!), aber niemand sieht hin, alle langweilen sich, liegen auf dem Boden und warten, bis die Hitze des Tages abebbt. Der Souffleurkasten versteckt sich nun hinter einer Getränkekiste.
    Als Escamillo auftritt, bringt sein Gefolge Tische und Sessel mit, die rasch aufgestellt werden. Michele Pertusi ist ein recht grobschlächtiger, hemdsärmeliger Escamillo, der nichts von der Eleganz und Grandezza eines Torero verströmt, wie man sich das vorstellt. So schwerfällig wie er vom Tisch springt, kann sich kaum vorstellen, wie er leichtfüßig den Hörnern eines Stieres ausweichen will. Aber bitte. Stimmlich hingegen ist er für mich seit langem der beste Escamillo, nur seine Tiefe könnte man bemäkeln, wenn man ganz streng sein will. Für meine Ohren, die in der Vergangenheit von zu vielen inferioren Toreadores gequält worden sind, klingt Michele Pertusi jedenfalls wie ein wahres Labsal.
    Don José ist zwar von Amors Pfeil getroffen, seine völlige Unerfahrenheit im Umgang mit Frauen tritt aber immer noch deutlich zu Tage. Er will Carmen gerne stürmisch umarmen und küssen, weiß aber nicht recht, wie, ist immer noch viel zu gehemmt, um einfach seinem Instinkt zu folgen.
    Wunderbar inszeniert finde ich Carmens Tanz, nur dass die Castagnetten aus dem Off ertönen, störte mich etwas. Don José sitzt auf einem Sessel, die Bühne verdunkelt sich, nur ein kleiner Lichtkreis ist zu sehen, in dem zunächst nur der Schatten von Carmens Hand auftaucht. Dann betritt sie den Lichtkegel, beginnt zu tanzen, der Scheinwerfer springt plötzlich auf Don José, nimmt ihn quasi gefangen, wandert ein Stück zurück und nun vereinigen sich beide im Tanz, bis der Zapfenstreich ertönt, der Zauber erlischt und die Bühne allmählich wieder hell wird.
    "La fleur che tu m'avais jetèe" singt Jonas Kaufmann nicht nur berückend schön, sondern auch sehr verinnerlicht - er gibt mehr sich selbst Rechenschaft über diese für ihn völlig neuen Gefühle als Carmen. Erst danach brechen bei ihm die Dämme und sie finden sich in einer leidenschaftlichen Umarmung, aus der sie der zurückkommende Zuniga reißt. Don Josés Eifersucht erwacht zwar sofort, trotzdem spürt man (im Unterschied zu meinen anderen Josés) den Respekt vor dem Vorgesetzen. Er traut sich nicht, ihn wirklich anzugreifen, wird von ihm zusammengeschlagen und kriegt überhaupt nicht mit, dass Zuniga ermordet wird. (Ja, das wird er auch bei Hartmann, genau wie bei Kusej in Berlin, nur dass dort José selbst der Mörder ist!) Don José wird daher vor vollendete Tatsachen gestellt, und als der Vorhang fällt, kniet er entsetzt vor der Leiche Zunigas.
    3. Akt: Wunderbar auch das Bühnenbild der Schmugglerschlucht: Eine riesiger Vollmond dominiert den Bühnenhintergrund, der helle Boden wird auf offener Bühne mit einem schwarz-grauen Teppich bedeckt, der einen morastigen Untergrund suggeriert, die Schmuggler tauchen am Rand der Scheibe auf, Schattenrisse von Bergen vor sich herschiebend, die sie vor dem Mond platzieren, Carmen bringt einen Felsbrocken, der den Soffleurkasten cachiert, das Schmuggelgut wird herbeigeschleppt, offensichtlich in erster Linie elektronische Artikel, wie die Verpackungen andeuten. Leider hat sich Hartmann bereits mehr oder weniger von seiner Inszenierung verabschiedet, zumindest passiert in diesem Akt nichts, was besonderer Erwähnung wert wäre, sieht man davon ab, dass Don José immer noch seine Tasche vom 1. Akt dabei hat, aus der Micaela später eine Puppe herauszieht, die sie während ihrer Arie zerlegt. Voodoo-Zauber??? Ein plausible Erklärung fällt mir dazu nicht ein. Vielleicht kann Radagast da aushelfen, der diese Szene auf der großen Leinwand gesehen hat.
    Eine kleine Panne dann, als Micaela sich eigentlich völlig unter der Tarndecke, welche die Schmuggler vor ihrem Abgang über die Kisten werfen, verbergen soll, es aber nur schafft, sie über Kopf und Oberkörper zu ziehen, sodass der Rest für alle deutlich sichtbar bleibt. (Bei der GP hat es wunderbar geklappt....)
    Ziemlich fantasielos auch der Kampf Don José-Escamillo, das habe ich schon wesentlich spannender erlebt, man hat hier nie den Eindruck, dass es da auf Leben und Tod geht. Was mir aber am meisten fehlte in diesem 3. Akt war das beklemmende Gefühl, dass alles auf eine unabwendbare Katastrophe zusteuert, und das lag wieder einmal an Vesselina Kasarowa. Sie kann mir nicht den Fatalismus glaubhaft vermitteln, der hier spürbar sein muss, dieses "Alles oder nichts!" Absolut glaubhaft ist nur, dass sie Don José über hat, ihre Verachtung für seines "unmännlichen" Verhalten angesichts des nahen Todes der geliebten Mutter.
    Der 4. Akt wartet mit dem schönsten der vier Bühnenbilder auf: Ein knorriger Olivenbaum dominiert die Scheibe, die nun wieder sandgelb beleuchtet ist, während der Rundhorizont dieses ganz spezielle Blau eines südlichen Himmels widerspiegelt. Da ging ein Aufraunen durch den Zuschauerraum, denn der Wirkung dieses schlichten, aber einfach stimmigen Bildes konnte sich niemand entziehen. Man spürt förmlich die Hitze, glaubt das Flirren in der Luft wahrzunehmen. Von irgendeiner nennenswerten Aktivität des Regisseurs ist wieder nichts zu bemerken, sieht man von der Banalität ab, Carmen und Escamillo durch ein Spalier von Leuten schreiten zu lassen, die sie mit Blumenblüten bewerfen und während ihres Duetts Feuerzeuge schwenken. Kitschiger geht's wirklich nicht mehr.
    Dann leert sich die Bühne, Carmen spürt die Anwesenheit Don Josés, der sich hinter dem Baumstamm verbirgt,bevor sie ihn noch sieht, und nach einigen Umkreisungen der Olive (Die ich nicht ganz so lächerlich finde wie meine Freunde) kommt es zur finalen und letalen Auseinandersetzung. Jonas Kaufmann bleibt seiner Softie-Rolle (Ist nicht negativ gemeint!) auch jetzt treu: Während ein Domingo, Lima, selbst Carreras das aufgeklappte Messer scheinbar von Anfang an im Sack hatten, sie selbst nicht daran zu glauben schienen, dass diese letzte Aussprache von Erfolg gekrönt sein würde, setzt dieser Don José auf völlige Selbstentäußerung in der verzweifelten Hoffnung, damit die Geliebte zurückzugewinnen. Dabei ist er sehr sparsam in seinen Gesten, aber ein Jonas Kaufmann kann mit einem Blick, einer fast unmerklichen Bewegung mehr ausdrücken als so mancher Sänger, der glaubt, sich in dieser Szene als manisch Besessener austoben zu müssen. Erst als ihm Carmen seinen Ring vor die Füße wirft, erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen, und in einer verzweifelten Gefühlsaufwallung ersticht er sie. Schön finde ich, dass die beiden alleine bleiben, sich der Vorhang ber Don José senkt, der verzweifelt über der Geliebten zusammenbricht, weniger schön, dass auch das Züricher Publikum nicht warten kann, bis der letzte Ton verklungen ist, sondern diese ergreifende Stimmung zerklatschen musste.
    Musikalisch war es eine wunderbare Aufführung. Dirigat und Orchester habe ich bereits erwähnt, Vesselina Kasarova wunderschön timbrierter Mezzo klang im 1. Akt noch etwas Verhalten, was wahrscheinlich ihrem Carmen-Debut zuzuschreiben ist, sang sich aber bald frei und ließ dann vokal keinen Wunsch offen, darstellerisch allerdings einige.
    Nicht sonderlich angetan war ich diesmal von Isabel Rey, die ich an sich sehr schätze, aber ihre zunehmend schärfer klingenden Höhen störten mich doch sehr.
    Der Star des Abends war eindeutig Jonas Kaufmann, wie der große Jubel bei seinen Solovorhängen zeigte. Beim Duett mit Micaela kritisierte ich noch ein wenig seine Piani, die für meinen Geschmack zu "kopfstimmig" klangen (was mich schon bei seinem Carlo irritiert hatte), aber das verlor sich im Laufe des Abends (Oder trat bei mir ein Gewöhnungseffekt ein?) und spätestens mit der Blumenarie wischte er alle Einwände beiseite. Fulminant der Schluss, wo ich schon so viele Tenöre auf dem letzten Loch pfeifen gehört habe, Kaufmann aber noch einmal so richtig aufdrehte, dass es eine wahre Freude war. Meine Begeisterung über seine Stimme an sich brauche ich hier wohl nicht zu wiederholen ;)
    Ein großes Lob gebührt auch Chor und Zusatzchor der Oper Zürich, die perfekt einstudiert waren und sich einen Regisseur verdient hätten, der sie nicht nur als lästige Anhängsel zu Carmen und Don José betrachtet, sondern ihnen die Möglichkeit gegeben hätte, sich auch szenisch zu profilieren.
    Insgesamt ein musikalisch großartiger Opernabend, der leider inszenatorisch die Versprechungen des 1. Aktes nicht einlöste.
    lg Severina :hello:

  • Moin,


    was ich noch ergänzen möchte:


    Ich hatte den Eindruck, dass sich die Regie in der Ausarbeitung des Konzeptes zu 90 % auf die beiden Hauptdarsteller fokussiert hat. Köstlich ist hierbei wirklich die Figur des Don Joses, der quasi als Provinzbeamter dargestellt wird. Wie Kaufmann seine Servierte zusammenfaltet und die Krümmel von seinen Butterbroten abwischt, ist einfach köstlich. Laut Kritik im Tagesanzeiger war es übrigends eine Gartenzeitung. Ob die Butterbrote in einer Tupperdose oder nur in Alufolie waren ist mir leider nicht mehr present.


    Carmen war ganz anders dargestellt als in der klassischen Rolle. Sie war eher auf dem "Ich bin angewiedert"-Tripp, schon wieder ein Mann, der mich im Bett haben will. Eigentlich langweilen mich diese Männer, die ständig um mich herum scharwenzeln. Insofern sieht sie vielleicht in dem spiessigen Jose mal eine Abwechslung oder einen Neuanfang, ein ganz anderer Typ von Mann. Leider merkt sie dann ziemlich schnell, dass er ganz bestimmt nicht der Mann ist, den sie haben will. Man spürt die deutliche Verachtung. Dann lieber nur Sex.


    Das mit der Puppe habe ich nicht mitbekommen. Bei Micaelas Arie zeigte die Kamera die Totale. Der Mond war ja auch wirklich toll.


    Mir scheppern immer noch die Ohren von der viel zu lauten Lautsprecheranlage.


    Und hier der Link zu den Photos:


    Carmen


    Sehe gerade, dass da Micaela mit Puppe in Grossaufnahme dabei ist.

    Grüsse aus Rhosgobel


    Radagast

  • Liebe Severina,


    ich danke Dir für diese enorm detaillierte, eindrucksvolle Darstellung, die einen fast glauben lässt, man habe an der Premiere selbst teilgenommen. Auch Dir Dank, Radagast, für die ergänzenden Kommentare. :jubel: :jubel:


    Weiß jemand, ob die Aufführung aufgezeichnet wird und man sie vielleicht einmal auf 3SAT oder DVD zu sehen bekommt? Ich wäre jedenfalls sehr begierig, sie einmal zu sehen ohne deshalb gleich in die Schweiz aufbrechen zu müssen.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Das Zürcher Opernhaus ist Weltmeister im Aufzeichnen von Opern. Da die Aufführung parallel zeitverschoben schon zu sehen war, wird es sie auch sicherlich mittelfristig im TV und auf DVD geben.


    Die gruselige Zauberflöte aus der letzten Saison hat nur knapp ein halbes Jahr bis zur DVD gebraucht.

    Grüsse aus Rhosgobel


    Radagast

  • Ja, auf diese DVD freue ich mich auch schon, nicht zuletzt deshalb, weil die Züricher DVDs die mit Abstand professionellsten sind, was Bildregie, Schnitt usw. betrifft. Angeblich soll Felix Breisach nächste Saison auch von der WSO etwas produzieren, das wäre mehr als wünschenswert.
    lg Severina :hello:

  • Liebe Severina,


    danke für diese großartige Berichterstattung, die wieder einmal so plastisch ausfällt, dass ich das Gefühl habe, die Inszenierung selbst gesehen zu haben. Fehlt nur noch Musik und Gesang.


    Jetzt freue ich mich umso mehr auf den kommenden Sonntag, wenn ich die Aufführung sehe und hoffe, dass mich die von Dir erwähnten kopfstimmlastigen Pianis von Kaufmann nicht allzu stören. Der Einsatz von Kopfstimme außerhalb des barocken Repertoires ist für mich nahezu unerträglich.


    LG :hello:


    Emotione

  • Vor 10 Tagen hatte ich das Vergnügen, diese Carmen in Zürich zu erleben.


    Zunächst kann ich nur den Bericht von Severina bezüglich Bühnenbild und Lichtregie bestätigen. Hier auch ganz besonders der vierte Akte. Kaum zu glauben, welche Athmosphäre Licht und ein einzelner Olivenbaum erzeugen können. Bei der Personenregie hatte ich den Eindruck, dass sich Matthias Hartmann lediglich auf die beiden Hauptdarsteller konzentrierte. Die anderen Darsteller blieben sich selbst überlassen, und der Chor durfte das Publikum ansingen. Die Quadrille im vierten Akt zog imaginär im Publikum auf, wobei ich zu Beginn das à deux quartos sehr vermisste, es hätte aber nicht in das Konzept gepasst, weil man im Chor dann selbst hätte agieren müssen.


    Nun zu meinem Eindruck von den Sängern. Zunächst trat ein Sprecher vor den Vorhang, was zunächst nichts Gutes verhieß. Der Name Kaufmann fiel und ein Welle der Enttäuschung machte sich breit. Ich habe kein Wort verstanden, meine Nachbarn auch nicht, nur den Schlusssatz "drücken sie ihm die Daumen." Der Tenor war wohl, dass Kaufmann sich nicht wohl fühle aber dennoch singen werde. Das tat er dann auch und zwar sehr ordentlich. Beim Duett mit Micaela kamen einige etwas verwackelte Töne, danach war aber von einer Indisposition nichts mehr zu spüren und er sang und spielte die Partie überzeugend bis zum Schluss. Nun bin ich bei der eigentlichen Hauptdarstellerin, Vesselina Kasarova. Stimmlich für mich eine absolut überzeugende Carmen. Ein Kabinettstück allein schon die so abgedroschene Habanera. Wirklich beeindruckend, was diese Frau mit ihrer Stimme anstellen kann. Schade, dass sie darstellerisch in meinen Augen so gar nicht ihren stimmlichen Möglichkeiten entspricht. Bei ihr hatte ich bis zum Schluss den Eindruck, sie spielt Carmen, und das kann nicht nur an Regieanweisungen liegen. Michele Pertussi hat mir als Escamillo eigentlich sehr gut gefallen, obwohl er bei den Kritiken, die ich las, nicht sehr positiv beurteilt wurde, im Gegenssatz zu Isabel Rey, von der ich einige Aufnahmen habe, die mich aber an diesem Abend sehr enttäuschte. Selten habe ich eine Micaela mit derart unangenehm klingender Höhe gehört.


    Sehr gut gefallen hat mir das Orchester unter Welser-Möst. Er verzichtete weitgehend auf Zirkusmusik und dirigierte einen für meine Ohren wunderbaren Bizet.


    @ Severina
    Bei der Verhaftungsszene im ersten Akt, bei der Carmen dann einfach abgeht, stellt sich heraus, dass José die Fesseln an den Händen hat. Das Pendant zu der Szene, in der Carmen ihm die Brille abnimmt. Er wird sehend und letztendlich gefesselt. Für mich der letzte gute Einfall des Regisseurs in diesem Stück. Die Szene mit Micaela und der Puppe im dritten Akt bleibt mir verschlossen. Voodoo und Micaela kann ich mir nicht vorstellen. Und wie kommt die Puppe in Josés Aktentasche? Fragen üder Fragen.


    LG


    Emotione

  • Liebe Emotione,
    ich habe schon sehr auf deinen Bericht gewartet! :D Schön, dass wir so übereinstimmen, was Bühnenbild und Sängerleistungen betrifft. Ich fand Pertusi auch sehr gut, zumindest um Klassen besser als sämtliche Wiener Escamillos der letzten Jahre. (Offizielle Kritiken habe ich keine gelesen :O )
    Danke für deine Aufklärung bezüglich der Verhaftungsszene. Ich konnte zwar sehen, dass Carmen Don José fesselt, nicht aber, ob er die Fesseln wieder abstreift. Trotzdem bleibt es für mich unlogisch, warum auch die Polizisten zurückweichen und Carmen seelenruhig davonspazieren kann.
    Zur Puppe: Ich denke, er hat sie von Anfang an in seiner Tasche, als "Souvenir" an Zuhause, seine von Mami behütete Kindheit. Das würde für mich passen, nicht aber, warum Micaela während ihrer Arie die Puppe zerstört. Wut, Enttäuschung, weil sich ihre Hoffnungen in Bezug auf DJ nicht erfüllt haben? Weil er lieber als outlaw mit einer "Zigeunerin" zusammenlebt, anstatt mit ihr ein "anständiges" Familienleben zu führen? Dann müsste aber die Regie deutlich machen, dass sie ihn verabscheut, jetzt wirklich nur mehr im Auftrag der Mutter zu ihm kommt, im Unterschied zum 1. Akt, wo sie ihm als verliebtes Mädchen gegenübertritt, in der Hoffnung, er werde sich (endlich!) erklären. Bloß ist Don José da eben noch das Muttersöhnchen, dem andere Frauen eher Furcht einjagen anstatt adäquatere Gefühle auszulösen. Da muss erst eine Carmen kommen, um aus diesem Klemmi einen Mann zu machen. Dass allerdings diese Carmen in der Interpretation der Kasarova dieses Wunder zustande bringt, war für mich nicht ganz nachvollziehbar.
    Schade, dass Kaufmann stimmlich etwas angeschlagen war, denn speziell im letzten Akt finde ich ihn einfach fulminant. Wo viele Tenöre schon auf dem letzten Loch pfeifen, kann er noch voll attackieren, ohne dass auch nur ein Ton wackelt. Das habe ich auch schon lange nicht mehr erlebt! (Der 1. Akt klang allerdings auch in der PR wie eine Aufwärmübung, erst im 2. Akt war Kaufmann wirklich voll da, im Unterschied zur GP, wo er gleich zu Beginn mit wesentlich mehr Power los legte. Dabei dachte ich immer, der Mann hätte keine Nerven ;) )
    lg Severina :hello:

  • Zitat


    Original von Severina
    Dass allerdings diese Carmen in der Interpretation der Kasarova dieses Wunder zustande bringt, war für mich nicht ganz nachvollziehbar.


    Liebe Sevi,


    bei der psychologischen Zeichnung dieses DJ war mir das schon eher nachvollziehbar. Bei ihm hätte eine erotisch aggressiver wirkende Carmen wohl weniger Chancen gehabt. Da komme ich eher bei ihrer Wirkung auf Escamillo und den Zöllnern ins Zweifeln. Jetzt, nachdem ich so lange Zeit hatte, darüber Nachzudenken, müsste diese Inszenierung eigentlich Don José heißen.


    :hello:


    Emotione


  • Liebe Emotione,
    da hast du auch wieder recht, unter diesem Blickwinkel habe ich das noch gar nicht betrachtet. Ja, Don José hat Hartmann zweifellos am meisten interessiert, obwohl es bei den Proben ziemlich gekracht haben muss......
    lg Sevi :hello:

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Liebe Severina, Emotione und Radagast :hello:,


    vielen lieben Dank für die herrlichen Kommentare zur neuen Vorstellung von Carmen in Zürich! :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:Eure Beschreibungen zusammen mit den Bildern lassen wirklich keinen Wusch offen!


    Ach, hattet ihr Glück, das Ganze sehen zu dürfen!.. So ein bisschen erinnert mich diese Situation an Aschenputtel, wie ihre Schwestern ihr vom Ball (und dem Prinzen! :hahahaha: ) berichten... :no:


    Jetzt bleibt es mir nur, auf die DVD davon zu warten... Hoffentlich kommt sie bald! Und es ist doch sehr erfreulich zu hören dass sich Jonas Kaufmann weiterhin in der Aufblüh-Phase seines Talents befindet! :yes:


    Vielen Dank nochmal von Theodora! :jubel:

  • Liebe Theodora,
    danke für die complimenti! Jonas Kaufmann ist schon eine ziemlich fertige Blüte, wenn du mich fragst, so jung ist der Gute nicht mehr, auch wenn er manchmal wie ein Schlingel wirkt, der noch nicht ganz trocken hinter den Ohren ist.
    Tja, und dein Aschenputtelgefühl kenne ich sehr gut, mir geht's genauso, wenn andere meine Lieblinge irgendwo live erleben dürfen und ich mich mit den Schilderungen begnügen muss. Gottlob treten alle immer wieder in Wien auf, aber natürlich viiiiiiel zu selten ;) (Und oft in den "falschen" Partien....)
    lg Severina :hello:

  • Liebe Severina,


    ich meinte bei Jonas Kaufmann vor allem nicht seine Stimme selbst, ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich meinte vor allem seinen Karriere-Aufstieg. Oder findest Du nicht, dass er immer bekannter wird? Ich habe jetzt vor ein paar Tagen seinen Live-Auftritt bei Schubertiade im Radio gehört, da war das Publikum doch ziemlich hart am Brüllen...


    Danke nochmal und alles Liebe,


    Thoedora