Vorstellung des "Estonian Philharmonic Chamber Choir"

  • Heute möchte ich ein weiteres Ausnahme-Vokalensemble vorstellen:


    Estonian Philharmonic Chamber Choir


    Biographie


    Der Estonian Philharmonic Chamber Choir wurde 1981 von Tõnu Kaljuste gegründet und ist ein professioneller Kammerchor. Er ging aus dem seit 1966 bestehenden und von Kaljustes Vater gegründeten "Chamber Choir Ellerhein" hervor. Der Chor wand sich zwar von Beginn an auch chorsinfonischer Standardliteratur (Messen, Requien und Passionen) zu, Kern der künstlerischen Arbeit war jedoch die Pflege der estnischen Volksmusik bzw. (Ur)Aufführungen der Werke estnischer Komponisten. Die in diesem Bestreben entstandene Zusammenarbeit des Ensembles mit dem estnischen Komponisten Arvo Pärt und dem Label ECM machte den Chor international sehr äußßerst bekannt.


    Nach 20 Jahren ununterbrochender Leitung übergab Kaljuste die künstlerische Leitung des Ensembles 2001 an den namhaften britischen Chorleiter Paul Hillier. Dieser konnte an die großen Erfolge seines Vorgängers anknüpfen, obgleich er mit dem Enselmble neue Wege der Literatur bestritt. Beschäftigte sich der Estonian Philharmonic Chamber Choir bis dato nahezu ausschließlich mit der Chormusik estnischer Komponisten, wand sich Hillier nun auch anderen europäischen Ländern musikalisch zu. Neben der Zuwendung zur osteuropäischen, vor allem russischen Chormusiktradition begab sich der Chor, gleich einer Entdeckungsreise die baltischen Länder ab. In dem dreijährigen Projekt "Baltic Voices" sang der Chor eine CD-Reihe von drei CDs ein, in welchen sich diese musikalische Reise verfolgen lässt.


    Seit 2008 wird der Estonian Philharmonic Chamber Choir von Daniel Reuss geleitet, welcher ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt in der Chorszene ist, hatte er doch von 2003 bis 2006 die Leitung des RIAS-Kammerchores inne.



    Auszeichnungen


    Zahlreiche Aufnahmen des Estonian Philharmonic Chamber Choir wurden international ausgezeichnet:

    • Grammy-Nominierung für die Pärt-CD "Te Deum"
    • Grammy-Nominierung der CD "Te Deum" mit Werken von Arvo Pärt (ECM)
    • Grammy-Nominierung der CD "Litany" mit Werken von Arvo Pärt (ECM)
    • Grammy-Nominierung der CD "Crystallisatio" mit Werken von Erkki-Sven Tüür (ECM)
    • Grammy-Nominierung der CD "Kanon Pokajanen" mit Werken von Arvo Pärt (ECM)
    • Grammy-Nominierung der CD "Baltic Voices 1" (Harmonia Mundi)
    • Grammy-Nominierung der CD "Baltic Voices 2" (Harmonia Mundi)
    • Grammy-Auszeichnung der CD "Da Pacem" (Harmonia Mundi) als "Best Choral Performance" (2007)


    Klangkultur


    In Estland beheimatet hat der Estonian Philharmonic Chamber Choir die schon häufig beschriebenen Klangeigenschaften eines typischen nordeuropäischen Vokalensembles. Vermutlich ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass dieser Chor wesentlich dazu beigetragen hat, dieses Klangbild in den letzten 20 Jahren in ganz Europa als ein Klangideal zu etablieren. Mit 28 sängers ist er ein recht stark besetzter Kammerchorstärke, groß genug um auch chorsinfonische Werke bewältigen zu können, klein genug, um sich die Fähigkeit zu bewahren, mit allerhöchster Präzision und Transparenz zu aggieren.


    Insbesondere diese Transparenz ist eine der beeindruckenden Eigenschaften des Chores. Selbst bei expressiven stellen wird nichts wattig verwaschen, und auch komplexe Rhythmen und Akkordgebilde erscheinen stets durchsichtig. Dies erreicht der Estonian Philharmonic Chamber Choir einerseits durch eine sehr gerade und vibratoarmer bzw. gar -loser Stimmgebung. Dennoch klingen die Töne nie schneidig oder festgehalten sondern besitzen eine natürliche Lockerheit. Für deutsche Chorverhältnisse beeindruckend profunde Bässe geben dem Klang eine herrliche Fülle und Weite.


    Übrigens: Vergleicht man den Chor mit anderen Vokalensembles der Region, fällt neben der geographischen auch die klangliche Verwandtschaft mit dem Latvian Radio Choir auf.




    Diskographie


    Wie schon erwähnt hängen die verschiedenen künstlerischen Phasen des Chores zu einem nicht unwesentlichen Teil mit der Zusammenarbeit mit verschiedenen Labes zusammen. Daher erscheint es mir sinnvoll, auch bei Vorstellung der Einspielungen des Chores diese Unterscheidung beizubehalten.


    CDs bei ECM New Series


    Werke von Arvo Pärt




    Die Zusammenarbeit mit Arvo Pärt und dem Label ECM New Series wirkte sich äußerst positiv auf den Chor aus. Pärt fand im Estonian Philharmonic Chamber Choir ein Spitzenensemble, welches seine vokalen Werke auf allerhöchstem (ur)aufführen konnte. Das renomierte Label ECM bot Komponisten wie Künstler eine nicht nur in aufnahmetechnischer sondern auch im Sinne des Marketings hervorragende Plattform. Die zahlreichen eingesungenen CDs wurden nicht nur von der Fachwelt gelobt und vielfach ausgezeichnet sondern waren auch kommerziell ein großer Erfolg - bei "neuer Musik" und Chormusik äußerst bemerkenswert. In jedem Fall kan man sämtlichen hier abgebildeten Aufnahmen ein sehr hohes künstlerisches und chorisches Niveau attestieren. Die eher stille und in sich gekehrte Musik Pärts kann der Chor durch herrlich weiche und langantmige Linien voll ausmusizieren. Die häufig offen liegenden melodischen Bögen werden perfekt intoniert. Man kann sämtlichen CDs das Prädikat "Referenzaufnahme" vergeben. :yes:



    Werke von Veljos Tormis



    Die Chorwerke des estnischen Komponisten Veljos Tormis sind in Estland sehr bekannt und beliebt. Die Lieder greifen die Elemente der estnischen Volksmusik auf und transportiert sie in eine moderne aber sehr natürliche Tonsprache. Zumindest die zweiter der oben abgebildeten CDs steht in meinem Regal und auch hier kann nur wiederholen, dass einfach keine Wünsche offen bleiben. Die Lieder sind wundervoll frisch, leicht und ungekünselt gesungen. Gerade hier ist der Estonian Philharmonic Chamber Choir mit seine kraftvollen aber geradlinigien Chorklang wie zu Hause.


    weitere Komponiste



    Diese CDs kenne ich leider nicht, jedoch seien sie der Vollständigkeit erwähnt.



    CDs bei Carus





    Diese CDs kenne ich leider nicht, jedoch seien sie der Vollständigkeit erwähnt.



    CDs bei Harmonie Mundi USA


    CD-Reihe "Baltic Voices"



    Mit dieser CD-Reihe erlangte der Estonian Philharmonic Chamber Choir (erneut) internationale Aufmerksamkeit. Die Idee, die manigfaltige Welt der Chormusik baltischer Länder einer entdeckungsreise gleich für den Zuhörer aufzubereiten, mag keine neue gewesen sein, jedoch war diese CD-Reihe das erste projekt, welches dieses Vorhaben konsequent umsetzte. Auf den CDs sind ausschließlich a capella Werke von Komponisten wie Arvo Pärt, Per Norgard, Alfred Schnittke, Urmas Sisask, Veljo Tormis, Sven-David Sandstroem, Einojuhani Rautavaara oder Knut Nystedt zu hören. Ausnahme bildet das "Dona nobis pacem" für Chor und Streichorchester von Peteris Vasks. Die sehr ausführlichen und liebevoll gestalteten Booklets informieren über die Komponisten und ihre reginalen kompositorischen Besonderheiten. Die CDs sind künstlerisch aber auch aufnahmetechnischen auf allerhöchstem Niveau und seien daher sehr anempfohlen! :jubel:
    Übrigens: Näheres über diese CD-Reihe bzw. das Thema kann im Thread Die Welt der baltischen Chormusik nachgelesen werden.



    Werke russischer Komponisten



    Ein erklärtes Ziel des 2001 den Chor übernehmenden Leiter Paul Hillier war es, die Welt der osteuropäischen Chormusik zu erforschen. Aus diesem Ansinnen heraus entsanden die drei oben abgebildeten CDs. Die Einspielung der "All-Night Vigil" wurde bereits kurz im Thread Vespers - Das große Abend- und Morgenlob besprochen.



    weitere



    Diese CD ist die jünsgte Einspielung des Chores. Das enthaltene Programm ist bunt und reicht über viele Jahrhunderte der Musikgeschichte. So sind Werke von O’Reagan, de Machaut und Dufay, Bryars zu hören. Dem Chor steht das Orlando Consort zur Seite. Vor einigen Wochen hatt ich bei Dussmann in Berlin die Gelegenheit, in diese CD hineinzuhören. Im Gegensatz zu den meisten Einspielungen war ich hier über einen leicht zerfallenen Chorklang ein wenig enttäuscht. Es kann aber auch an den wirklich grottigen Kopfhörer gelegen haben :)




    Zusammenfassung


    Der Estonian Philharmonic Chamber Choir ist ein Ausnahme-Chor und kann getrost als eines der besten Ensembles seiner Art in Europa bezeichnet werden. Seine Aufnahmen haben Referenzcharakter und bieten Klangkultur auf allerhöchstem Niveau. :jubel:



    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:


    __________
    Quellen:
    offizielle Website des Chores
    Artikel aus "Die Welt" vom 02.06.2006

  • Der Estonian Philharmonic Chamber Choir hat eine weitere CD herausgebracht:


    Toivo Tulev - Songs


    Die CD enthält verschiedene neue Werke (die meisten davon zwischen 2003 und 2006 komponiert), welche hier in ihrer Ersteinspielung vorliegen.


    Laut Booklet ist Tulev eine wichtige Größe der estnischen Musiklandschaft. Seine baltischen Wurzeln hört man wie ich meine sehr aus seiner Musik heraus. Insgesamt sind die vorgestellten Werke als ungewöhnlich zu bezeichnen, sie zeichnen sich durch eine eigentümliche Mischung aus moderner Klangmalerei und Schroffheit aus. Desöfteren kam mir beim Hören eine Verwandschaft zu Werken von Arvo Pärt in den Sinn (bspw. Litany).


    Der Estonian Philharmonic Chamber Choir aggiert wie gewohnt auf einem sehr hohen Niveau und lässt keine chorischen Wünsche offen. Auch die aus dem Chor heraus aggierenden Solisten trüben diesen Eindruck nicht. Insgesamt muss jedoch erwähnt werden, dass der Chor über weite Strecken nicht der Protagonist dieser CD ist.


    Ein ungewöhnliche weil extreme CD, die mich aber gerade deswegen eigentümlich fasziniert. Irgendwie mystisch, nordisch, meditativ. Eine Musik, die mich eine Stunde lang aus der Gegenwart zu entführen vermag. Das schaffen nicht viel CDs.. :jubel:


    Liebe Grüße, der Thomas.

  • In das Lob des Estonian Chamber Choirs möchte ich unbedingt einstimmen! Vor allem die oben gelobten drei CDs der "Baltic Voices"-Serie unter Leitung von Paul Hillier dürfen blind gekauft werden!


    In Hamburg habe ich den Chor vor Jahren mit Bach-Motetten gehört. Das war ganz schlimm. Da behaupte ich dreist: Das können sie nicht.


    Aber Pärt und weitere baltische Komponisten werden atemberaubend von ihnen gesungen. Die oben ebenfalls erwähnte "Forgotten People"-Tormis-CD ist auch ein Reinhören wert.


    Weniger überzeugt hat mich "Kanon Pokajanen". Das erscheint mir eine etwas uninspirierte Einspielung zu sein; vielleicht liegt's aber auch an der Komposition. Sonst bin ich ja sehr ein Pärt Fan...


    Mit Grüßen aus Lima,
    hans

    Einmal editiert, zuletzt von hans ()

  • Zitat

    Original von hans
    In Hamburg habe ich den Chor vor Jahren mit Bach-Motetten gehört. Das war ganz schlimm. Da behaupte ich dreist: Das können sie nicht.


    Etwas ähnlich habe ich vor einiger Zeit im Konzert des "Rilke Ensembles" erlebt. Der Chor war hervorragend und hat die schwere Literatur (Berliner Messe von Pärt und bspw. Lux aeterna von Ligeti) hervorragend bewältigt.


    Aber zusätzlich haben sie auch drei Bach-Motetten gesungen, und hier war der Chor wirklich richtig schlecht. Vermutlich ist Bach'sche Musik (insbesondere die Motetten a capella) derart speziell und anspruchsvoll, dass ein Chor und sein Leiter viel Erfahrung damit benötigen um die Musik gut zu intepretieren und aufzuführen.


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Das erstaunt mich sehr, was ich da lese! :yes:


    Wie kann es sein, dass ein Profi-Kammerchor keinen Bach singen kann?
    An der Intonation kann es doch hoffentlich nicht liegen, bei den Motetten.


    Erstaunte Grüße,


    Melisma :hello:

  • Liebe(r) Melisma,


    viele sehr gute Chöre singen rauf und runter neue (und oft wunderschöne) Chormusik. Mit demselben Charakter singen sie dann ältere und noch ältere Musik. Was bei Brahms noch angehen mag - aber auch nicht so richtig - geht bei Bach gar nicht. Da möchte man die Einzelstimmen (also SATB) hören und nicht einen irgendwie seelenlos klingenden Klangblock. So "durchsichtig" diese Chöre also Musik des 20. und 21. Jahrhunderts singen, so undurchsichtig ist ihr "Bachsound".


    Für jedes Musikzeitalter benötigt man eine bestimmte Einstellung. Die lässt sich - auch von Profiensembles - nicht kurz herbeiwünschen, sondern benötigt intensive Arbeit. Da die Noten für die Sänger leicht sind, vermute ich, dass sie sich auch wenig Zeit für "den Rest" nehmen. Ist nicht unbedingt logisch, aber das ist die beste Erklärung, die ich mir dafür zurecht gelegt habe.


    Herzlich,
    hans

  • Ist plausibel, Hans! - Ein Chor ist so gut, wie sein Dirigent. Wenn ER sich nicht mit den verschiedenen Charakteren der Musikepochen auseinander setzt, wer sollte es sonst tun?


    Schöne Grüße nach Lima, wo es bestimmt eine Zeitverschiebung von 6 Stunden gibt oder mehr?


    Melisma :hello:

  • Zitat

    Original von Melisma
    Wie kann es sein, dass ein Profi-Kammerchor keinen Bach singen kann?
    An der Intonation kann es doch hoffentlich nicht liegen, bei den Motetten.


    Moderne Chormusik benötigt wie Hans schon geschrieben hat einen dichten Chorklang, immer am Ton. Bach'sche Musik hingegen benötigt eine leichte und lockere Stimmführung und viel "Belüften" der Phrasen, damit die Musik den unverwechselbaren leichten und tänzerischen Charackter bekommt.


    Natürlich können Profi-Sänger theoretisch die geforderten Qualitäten nach entsprechender Anleitung schnell umsetzen. Praktisch jedoch benötigt ein Ensemble viel Erfahrung mit alter Musik. Und die ist bei diesen Chören eher selten vorhanden. Hinzu kommt, dass Bachmotetten häufig speziell für bestimmte Konzerte vorbereitet werden, also nicht im regulären Repertoir laufen. Für derlei Projekte ist auch häufig nicht allzuviel Probenzeit vorhanden..


    Und zuletzt ist das Repertoir von Profi-Chören häufig auf eher moderne Literatur ausgerichtet. Von daher gibt es auch sonst wenig Berührungspunkte mit alter Musik.


    liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • @Melsima:


    Dank für die Grüße! In der Tat, im Sommer (bei Euch, Winter bei uns) sind es wg. der nach ihr benannten Zeit sieben Stunden. Im Winter (hier Sommer) sind es entsprechend sechs Stunden...


    Chorknabe:


    Vielen Dank für die gelungenen Formulierungen. So hätte ich es auch gern gesagt.


    Viele Grüße aus dem kühlen Lima,
    hans

  • Die Balten haben auch eine sehr ausgeprägte Chortradition.


    Und der Estonian Chamber Chor dürfte da ganz weit vorn mitspielen.


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