Der Wagner-Clan. Geschichte einer deutschen Familie

  • Ich habe mir - nach guten Besprechungen in Zeitungen - Der Wagner-Clan. Geschichte einer deutschen Familie von Jonathan Carr (Autor), Hermann Kusterer (Übersetzer) gekauft und in der erstzen Woch e meines Urlaubs gelesen.


    Der positiven Besprechung kann ich nicht zustimmen. Zugegeben: das Buch liest sich flüssig und ist durchaus spannend. Ich habe auch eine ganze Menge erfahren. Ob das vorher schon Bekannte zwingendes kulturelles Allgemeinwissen ist, wage ich zu bezweifeln. Weiter zugegeben: Das Buch bringt eine Geschichte der moralischen Fehltritte eines Familienclans. Aber leider bringt mich das Buch eben nicht weiter auf dem Verständnis der Arbeit am Gesamtkunstwerk. Es gibt mir keine Aufarbeitung der Festspielpolitik. Zudem wird für mich zu deutlich Partei ergriffen, obwohl dies natürlich das Recht eines Autors ist.


    Trotzdem habe ich es mit großem Interesse gelesen und werde es als Ausgangspunkt für weitere "Forschung" zum Thema Wagner - Bayreuth und Festspiele nehmen.

  • Etwas Neues unter der Wagner-Sonne brachte der kürzlich verstorbene Jonathan Carr nicht zutage. Wie sollte er auch, da sich die Quellenlage ja nicht geändert hat. Neu-Bayreuth lässt sich zwar journalistisch aufarbeiten, aber noch nicht historisch.
    Die gute Besprechung in der "Zeit" veranlasste mich zum Kauf der Neuerscheinung. Desto größer war meine Enttäuschung. Die Übersetzung ist schlicht ein Ärgernis. Vom Musikvokabular hat der Übersetzer keine Ahnung, was an vielerlei Kleinigkeiten erkennbar ist. Einen Lektor kann dieses Buch nie gesehen haben. Wie sonst kämen sprachliche Putzigkeiten der Art zustande: "Materienauswahl" statt Themenauswahl; in der Weimarer Zeit, "in der Komponisten wie... pulsierten"; Hitler "erlitt übelstes Versagen"; Siegfried wurde "ver(ab)göttert"; Rätsel auch hier, "als Abgesandte der anschwellenden Ränge der Wagner-Gesellschaften sie (Cosima) aufsuchen"; wo es um einen schlichten Klavierauszug geht, wird eine "Klavierpartitur" erfunden - und so weiter und so weiter; von sachlichen Fehlern nicht zu reden, die natürlich auch nicht fehlen dürfen. Nur ein Beispiel von etlichen: 1868 konnte der berühmte Adolf Stoecker seine Wortgewalt noch nicht als kaiserlicher Hofprediger demonstrieren, alldieweil das Kaiserreich erst 1871 proklamiert wurde.
    Lesen die Rezensenten eigentlich das, was sie empfehlen oder genügt ihnen für ihr Votum ein kursorischer Blick?
    Ich bin der altmodischen Ansicht, daß man angesichts der heutigen Buchpreise eine handwerklich solide Präsentation erwarten darf, und davon kann in diesem Falle (der nach meiner Erfahrung übrigens kein Einzelfall ist) nun wirklich keine Rede sein.


    Florian

  • Hallo JL,


    einen wesentlich seriöseren (und weit weniger klatschhaften) Zugang zur Geschichte der Familie Wagner und der Bayreuther Festspiele bietet das allerdings schon 1994 erschienene Buch von Frederic Spotts "Bayreuth - A History of the Wagner Festival" (am besten im Original lesen, die Übersetzung ist so lala):



    .


    Auf deutsch sind Nike Wagners Essays zu Familie und Werk m.E. sehr lesenswert. Sie ist trotz durchaus dezidierter Meinungen insgesamt erstaunlich sachlich und fair und beweist große Kenntnis gerade auch der abseitigen und verschlungenen Pfade:


    .


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Vielen Dank für die zwei Buchtipps. Ich werde heute mal in den Buchladen meines Vertrauens gehen.


    Ich hatte nach den Besprechungen nicht erwartet, dass es um die Musik selbst sondern um eine Art kritischer Familienchronik geht. Das löst Carr ein, ist aber bei vielem zu ungenau und bleibt beim Überblick und der Chronologie des latenten Antisemitismus hängen. Nach dem 25mal Betonen, dass Wolfgang Wagner ein Stellungnahme dazu abzugeben versäumt hat, dürfte es dann auch der letzte Leser verstanden haben. Dagegen ist die Analyse der Arbeit für die Festspiele unpräzise. Geschäftlicher Erfolg wird nur mit diesen Begriffen benannt. Auch eine nähere Betrachtung der künstlerischen Arbeit unterbleibt.
    Fazit: Wenn im Titel auf DEUTSCH abgestellt wird, geht es um Antisemitismus und die Rolle im III.Reich.


    Trotzdem würde ich das Buch bei allen technischen Fehlern nicht mißlungen nennen. Immerhin liest es sich gut und flüssig.

  • Ich habe gerade im Internetauftritt der Siegfried-Wagner-Gesellschaft gesehen, dass der Autor des hier besprochenen Buches verstorben ist. Dort stand unter http://www.siegfried-wagner.org/html/mitteilungen2008.html folgendes:


    Während der Proben zur Aufführung von Siegfried Wagners op. 13, Der Schmied von Marienburg, in Danzig bestürzte uns die Nachricht vom Tode des Autors Jonathan Carr. – Der Verlag Hoffmann & Campe teilte mit:
    Jonathan Carr, Autor und langjähriger Korrespondent der Financial Times in Frankfurt und Bonn, ist tot. Der Autor, dessen Buch »Der Wagner Clan« vor wenigen Tagen erst im Hoffmann und Campe Verlag erschienen ist, verstarb am 12. Juni.


    Carr, der sein Buch »so witzig, scharfzüngig und unterhaltsam« schrieb, »wie man es in der umfangreichen Wagner-Literatur nur selten findet« (Welt am Sonntag), wurde 1942 in Berkhamsted bei London geboren.


    Mehr als drei Jahrzehnte war er Auslandskorrespondent und Büroleiter der Financial Times in Frankfurt und Bonn. Für seine Reportagen aus Deutschland bekam er mehrere Preise. 1985 veröffentlichte er seine anerkannte und erfolgreiche Biografie von Helmut Schmidt. Es folgte unter anderem 1997 eine ebenso gelobte Biografie von Gustav Mahler. Als Wagner-Kenner und -Liebhaber besuchte er seit 1970 regelmäßig Bayreuth.


    Hoffmann und Campe-Verlagsleiter Günter Berg und Prof. Dieter Borchmeyer werden den »Wagner-Clan« am 28. Juli in der Markgrafenbuchhandlung in Bayreuth präsentieren und Jonathan Carr würdigen, der den großen Erfolg seines Buches leider nicht mehr erleben konnte.

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  • Vielen Dank für die Literaturtipps. Leider ist ist Wagner Theater von Nike Wagner zur Zeit vergriffen und wird "im Juli 2008" neu aufgelegt, konnte bisher aber nicht geliefert werden. Ich habe es aber in der Buchhandlung meines Vertrauens inzwischen bestellt.

  • kurz und knapp informiert einen auch dieses Büchlein über die interessante Familie Wagner:



    seit ich Wolfgang Wagners giftelndes Buch gelesen habe, ist mir dieser Mensch leider noch unsymphatischer.


  • Nach langem Warten, habe ich seit gestern das Buch von Nike Wagner und habe angefangen es zu lesen.
    Nach ein paar Seiten is klar: Besser als Carr.
    Danke für den Tipp.

  • Es bietet zwar nur einen kleinen Ausschnitt aus der Geschiche des Wagnerclans, aber ich finde Brigitte Hamanns Buch über Winifred Wagner ausgesprochen gut. Hamann ist Historikerin, ihre Bücher sind ausgezeichnet recherchiert, und sie versteht es auch - was bei Wissenschaftlern nicht selbstverständlich ist :wacky: - äußerst lebendig und spannend zu schreiben. Sie bemüht sich um eine objektive Darstellung von WW, stempelt sie also nicht von vornherein als Obernarzisse ab, und zeichnet ein sehr interessantes Bild von Bayreuth in der NS-Zeit.
    lg Severina :hello:

  • Ich habe Brigitte Hamanns Buch ebenfalls gelesen und ich finde Severina hat völlig recht: Gut geschrieben, gut recherchiert und differenziert argumentiert ohne sich im Argumentationsdschungel zu verirren. Wer sich für Bayreuths Geschichte im Dritten Reich interessiert für den ist das Buch ein Muss:



    Zudem ist das Buch als Taschenbuch erhältlich.



    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

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  • und wenn, sollte man auch die Taschenbuchausgabe benutzen ; die gebundene Erstauflage war sehr schwach lektoriert...

  • Brigitte Hamann leuchtet sehr dezidiert die gesamte, extrem widersprüchliche Persönlichkeit Winifred Wagners aus, die sich, folgt man dem argumentativen Strang, eher an die Person Hitlers als an die Nazi - Ideologie gebunden fühlte.


    Man kann sich die hier gut belegte andere Seite Winifred Wagners, die gleichzeitig und zunehmend häufiger und bewuster Gefährdete durch Anstellung in ihrem Haus dem Zugriff des Regimes entzogen hat, kaum vorstellen, jedoch ist dies in diesem Buch sehr gut nachvollziehbar dokumentiert und kam bei der zweiten Spruchkammer - Verhandlung auch zum Tragen.


    Dennoch war sie wohl eine Meisterin im Ausblenden unangenehmer Wahrheiten, gerade, als sie sich - ihre eigenen Aktivitäten völlig ignorierend - nach dem Krieg so demonstrativ mit allen möglichen Altnazis einließ. Altersstarrsinn, übersteigerte Loyalitäten?


    Es ist ein sehr stimmiges Psychogramm gezeichnet von einer sehr extrem tickenden Persönlichkeit und es erhebt sich in vielen Etappen dieses Lebens die Frage, warum eine Frau, die die Fähigkeiten besass, ein solches Unternehmen zu leiten, obwohl ihre Herkunft sie hierin überhaupt nicht bestärkt hat und die auch klar gesehen hat, was dieses Regime anrichtet, ja sogar ihre Position zu Aktivitäten genutzt hat, die andere in höchste Gefahr gebracht hätten, gleichzeitig so enorme Realitätsverluste aufwies. Warum gab es keinen Weg hinaus aus dem Sumpf?


    In der aufgezeigten Sammlung fehlt noch "Nacht über Bayreuth" von Friedelind Wagner, die Sicht der Tochter, die in die erklärte Gegenerschaft zum Nazi - Regime gegangen ist. Beide Bücher berühren zum Teil die gleichen Ereignisse. Sollte man fast hintereinander lesen.


    LG
    :hello:


    Ulrica

  • Zitat

    Original von florian
    Nur ein Beispiel von etlichen: 1868 konnte der berühmte Adolf Stoecker seine Wortgewalt noch nicht als kaiserlicher Hofprediger demonstrieren, alldieweil das Kaiserreich erst 1871 proklamiert wurde.


    Mich interessiert die ganze Familie Wagner nicht. Und ihre Biographen ebenso wenig.
    Dennoch finde ich diese Aussage ungerecht.


    Ich erinnere mich einen Witz von zwanzig Jahre her. Da wurde einem alten Russen gefragt
    "Wo bist Du geboren" => Sankt Petersburg
    "Wo folgtest Du die Schule" => Petrograd
    "Wo hast Du gearbeitet" => Leningrad
    "Wo möchtest Du wohnen" => Sankt Petersburg


    Als was war Stoecker bei vielen bekannt? Vermutlich als kaiserlicher Hofprediger. Dann könnte man heute sogar sagen "der ehemalige kaiserliche Hofprediger"


    LG, Paul

  • Hallo Ulrica,


    ergänzend zur Hamann-Biographie (und weil Hamann darauf ja auch explizit Bezug nimmt und daraus zitiert) sollte man sich mal den fünfstündigen Syberberg-Interviewfilm "Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914-1975" zu Gemüte führen. Auch wenn Syberberg der alten Winifred gegenüber nicht ganz fair agiert, so ist auf diese Weise doch das faszinierende Dokument eines merkwürdigen Lebens entstanden. Von Kindheit an auf Wagner und Deutschtum von den Adoptiveltern abgerichtet, in Bayreuth zunächst nur als Gebärmaschine zur Sicherung der Erbfolge geduldet, erkämpft sie sich Stück für Stück ihre Position bis hin zur "Herrin des Hügels". Man schwankt beim Anschauen und Anhören immer wieder zwischen Fassungslosigkeit und Mitleid. Die DVD kann man über Syberbergs Website für 25 Euro beziehen.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Auf deutsch sind Nike Wagners Essays zu Familie und Werk m.E. sehr lesenswert. Sie ist trotz durchaus dezidierter Meinungen insgesamt erstaunlich sachlich und fair und beweist große Kenntnis gerade auch der abseitigen und verschlungenen Pfade:



    Vielen Dank für den guten Tip:
    Hab's grad in großen Teilen gelesen, um nicht zu sagen: verschlungen. Sehr informativ! Die darin ebenfalls enthaltenen Werk-Analysen des Tannhäuser und der Meistersinger finde ich ebenfalls recht instruktiv, darüber vielleicht an passender Stelle gelegentlich mehr.

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  • Nachdem ich am Sonntag den ersten Höhepunkt meines Wagnerspätsommer/ Hebstrausch hatte (Premiere Walküre in Lübeck) möchte ich mich ebenfalls für den Buchtipp Nike Wagner: Wagnertheater bedanken. Ich bin zwar nicht ganz so schnell beim lesen, aber ich wollte mich auch intensiv auf die Walküre vorbereiten und habe die Musik vorher intensiv gehört.


    An NWs Buch gefällt mir im ersten Teil die Heranführung an die großen Werke RWs. Der zweite Teil ist dann die Aufarbeitung der Familiengeschichte und ich fühle mich stellenweise als Zuschauer im Wagnertheater. Ich finde es erstauntlich mit welcher Distanz sie ihre eigene Familiengeschichte aufschreiben kann: Messerscharf und präzise.


    Danke für den Tipp.


    Und danke an Gott, dass ich nicht in diese Familie hineingeboren worden bin

  • Zitat

    Original von JL
    Und danke an Gott, dass ich nicht in diese Familie hineingeboren worden bin


    Genau dieser Stoßseufzer war auch meine erste Reaktion nach der Lektüre!