München, Bayerische Staatsoper. Richard Strauss: Ariadne auf Naxos

  • Ariadne auf Naxos ist und bleibt eine meiner Lieblingsopern, auch wenn sich das Werk im Forum keiner allzugroßen Beliebtheit erfreut – insofern war ein Besuch der neuen Produktion der Bayerischen Staatsoper im Rahmen der Opernfestspiele für mich unumgänglich. Premiere war am letzten Donnerstag, ich habe die zweite Vorstellung am gestrigen Sonntag gesehen. Regie führt Robert Carsen im Bühnenbild von Peter Pabst, die musikalische Leitung hat Kent Nagano, die Hauptrollen werden von Adrienne Pieczonka, Diana Damrau, Daniela Sindram und Burkhard Fritz verkörpert.


    Besonderheit: die Ariadne wird nicht im Nationaltheater gegeben, sondern im nur halb so großen Prinzregententheater, das mit seinen gut 1000 Plätzen und seinem Bayreuth kopierenden Zuschauerraum den angemessenen Rahmen für das kammermusikalische Stück bietet. Nachteil: es gibt nur teuere Tickets (und zudem natürlich viel zu wenige, da vorerst nur drei Vorstellungen gezeigt werden: Horden von Kartensuchenden standen vor dem Theater).


    Bereits beim Betreten des Zuschauerraums ist der Vorhang offen. Ungefähr zwanzig Tänzer/innen absolvieren auf der von Spiegelwänden umstellten Bühne ein Aufwärmtraining, das auch während des Orchestervorspiels weiterläuft – unter den Augen von zwei Männern, die sich schnell als der Haushofmeister und der (im Libretto eigentlich unsichtbare und hier nur als Beobachter agierende) Hausherr entpuppen. Der Musiklehrer – hervorragend gespielt und gesungen von Martin Gantner – tritt türenknallend und mit hochrotem Kopf aus dem Zuschauerraum auf und bildet so einen heftigen Kontrast zum ungewöhnlich jungen, gänzlich unwienerischen und extrem schneidend-distanzierten Haushofmeister von Johannes Klama.


    Mehrfach kommen während des Vorspiels die Figuren aus dem Zuschauerraum, auch durch das variabel gehandhabte Licht wird das Publikum in das Spiel einbezogen. Die Inszenierung spielt unter uns, im Hier und Heute: die Bühne, für die Peter Pabst verantwortlich zeichnet, ist meist gänzlich leer, nur zu Anfang mit den erwähnten Spiegelwänden umstellt (die sehr variabel gehandhabt werden – mal spiegeln sie sich gegenseitig, mal das Publikum, mal den Dirigenten, mal zeigen sie ihre unattraktive hölzerne Rückseite), später wird die Bühne nach hinten entweder durch eine senkrechte oder durch eine schräge schwarze Wand begrenzt und ist nur mit sehr wenigen Requisiten (vorzugsweise Klavieren) ausgestattet.


    Eine Schlüsselrolle spielen bei dieser Inszenierung die Kostüme (Falk Bauer): sie tragen natürlich zur Charakterisierung der vielen Figuren bei, wobei zunächst einmal die erwarteten Fronten klar sind – der Tanzmeister (solide: Guy de Mey) kommt als Altrocker in Lederkluft, die vier Commedia-Figuren tragen grellbunte Klamotten von ausgesuchter Geschmacklosigkeit, trinken zudem Dosenbier (was Joachim Kaiser in der SZ nachhaltig erzürnte…). Die „seriösen“ Personen sind auch seriös gekleidet: durchgehend schwarz – nur die Primadonna tritt am Anfang als sonnenbebrillter Vamp mit Unmengen von Gepäck auf, ist dann aber schon bald ein einfaches schwarzes Trägerkleid gewandet, das sie auch als Ariadne tragen wird. Damit ist das Stichwort gegeben, das in Hofmannsthals Text eine so große Rolle spielt: Verwandlung. Insbesondere die Tänzer und die Comedians wechseln ständig die Kleidung. Meisterin der Verwandlung ist aber Diana Damrau als Zerbinetta, die einschließlich Perücke permanent ihre Erscheinung verändert. „Wahrheit“ oder „Lüge“ gibt es bei diesem Vexierspiel nicht mehr und die zunächst scheinbar platten kostümtechnischen Gegensätze werden im Lauf der Oper mehr und mehr verwischt.


    Das gilt auch für die Regie von Robert Carsen und ihre Bespielung des Bühnenbilds: zuerst sind die beiden Bühnenhälften eindeutig den beiden Gruppen zugewiesen, rechts ist der Eingang zu Zerbinettas Garderobe, links die Türen, hinter die sich Primadonna und Tenor zurückziehen. Aber auch hier vermischen sich die beiden Parteien bald. Carsen ist ein Virtuose der Personenregie: er kann die teilweise simultan sich überstürzenden Ereignisse brillant, teilweise unkonventionell und fast immer witzig umsetzen, er kann an den richtigen Stellen aber auch das Tempo rausnehmen, die Bühne leerräumen und sich auf den Komponisten und Zerbinetta konzentrieren – wenn der erstere voller Inbrunst den Inhalt der Oper erzählt, wenn die letztere den ersteren umgarnt. Daniela Sindram gibt einen Komponisten, der an beiden Enden brennt, wild gestikuliert und sich verzweifelt an seine Partitur klammert. So singt sie auch voller Leidenschaft, vielleicht etwas unausgeglichen, aber immer wieder sowohl mit ganz leisen verinnerlichten Tönen als auch mit strahlenden Höhen begeisternd. Zum Schluss des Vorspiels reißen den Komponisten nicht die Bocksprünge der Comedians aus seinen Illusionen, sondern eine Reihe von auf die Bühne gerollten Garderoben mit geschmacklosester Kleidung – ein weiterer Verweis auf die zentrale Rolle der Kostüme.


    Zu den Schlusstakten des Vorspiels bleibt der Komponist verzweifelt allein vor dem geschlossenen Vorhang stehen. Ein einzelner Buhruf aus dem Publikum provoziert donnernde Ovationen. Schließlich fasst er sich ein Herz, reicht Nagano seine Partitur hinunter und bleibt dann bis (fast) zum Schluss links neben dem Orchestergraben stehen.


    Es ist zwar schon fast langweilig, aber das Dirigat von Kent Nagano muss ich wieder mal in den höchsten Tönen loben. Die Ariadne ist natürlich ohnehin ein Stück, das ihm liegt. Der kammermusikalische Charakter wird nicht – wie so oft – großorchestral aufgebauscht, sondern bleibt immer filigran und wundervoll zwischen den Instrumentengruppen austariert. Dabei dominiert eben nicht der satte Streicherklang. Harmonium und Klavier kommen zu ihrem Recht, geschärfte Bläserklänge überraschen, das Schlagzeug wird klanglich ganz präzise kalkuliert. Eine Nagano-Spezialität sind die markanten Pizzicati. Flüssige Tempi, die im Vorspiel sehr variabel gehandhabt werden. Wunderschönes Spiel der Instrumentalisten, z.B. im Orchestervorspiel zur eigentlichen Oper. Das Ganze wirkte exzellent geprobt – das enervierende Ungefähr in der Koordination mit der Bühne, das man oft in Repertoireaufführungen insbesondere des Vorspiels hört, hatte hier keinen Platz.


    Der Beginn der eigentlichen Ariadne wird von Carsen auf der einen Seite konventionell, auf der anderen Seite sehr ungewöhnlich inszeniert. Konventionell, weil Ariadne librettogemäß auf dem Boden liegt und von den drei Nymphen (mustergültig aufeinander abgestimmt: Aga Mikolaj, Anaïk Morel, Sine Bundgaard) umstanden wird. Unkonventionell, weil Ariadne bis zum Ende ihrer ersten Arie von fast zwanzig täuschend ähnlichen (und exakt so gekleideten) Doppelgängerinnen begleitet wird, die ebenso wie die Sängerin auf dem Boden liegen und exakt die gleichen Gesten vollziehen. Ein sehr strenges, choreographisches Theater, das ein interessantes visuelles Pendant zum stilisierten Opera-Seria-Charakter der Musik liefert. Umso größer die Überraschung, wenn sich bald einige der schwarzgewandeten Doppelgängerinnen als Zerbinetta und ihre vier Liebhaber entpuppen: die eindeutigen Zuordnungen des Vorspiels sind aufgebrochen. Die fünf versuchen jetzt zunehmend, das strenge choreographische Ritual aufzulockern, z.B. (natürlich) durch Kostümwechsel sowie durch das Lied des Harlekin (vorzüglich: Nikolay Borchev).


    Darauf aber kann Adrienne Pieczonka noch ungestört ihr „Es gibt ein Reich“ singen – und wie sie das tut, kann nicht genug bewundert werden. Ihre Stimme ist ideal für die Ariadne, mit beeindruckender Tiefe und ganz müheloser, frei flutender Höhe, gut textverständlich, zudem immer höcht ausdrucksvoll, ohne Expression mit übermäßigem Vibrato zu verwechseln. Rein gesanglich sicherlich die großartigste Leistung des Abends.


    Es schlägt die große Stunde der Zerbinetta. Ihre Szene beginnt als wirklicher, flehender Überzeugungsversuch und Ariadne scheint sich zunächst aufgeschlossen zu zeigen. Bald aber verlässt sie (wie auch im Libretto vorgeschrieben) die Szene, nachdem Zerbinettas Arie immer mehr zur Ein-Frau-Show mutiert. Diana Damrau bietet die brillanteste sängerschauspielerische Leistung des Abends, sie geht völlig in ihrer Rolle auf. Rein gesanglich ist sie zwar immer noch eine vorzügliche, aber keine perfekte Zerbinetta mehr: einige extreme Höhen klingen scharf, insbesondere wenn sie mit größeren Intervallsprüngen von unten angesungen werden. Aber wie sie mit der Stimme schauspielert, degradiert die meisten anderen Gestalterinnen der Rolle zu Singautomaten. Die Funktion der Koloraturen als Ausdrucksträger ist mir noch nie so klar geworden wie hier, wenn Damrau sie wahlweise gurrt, flötet und unnachahmlich maliziös perlen lässt. Bereits im Vorspiel wechselte sie chamäleongleich zwischen den Tonlagen und überzeugte auch mit hervorragender Textverständlichkeit. In ihrer Arie wird auch sie von Tänzern begleitet, die sie aber nicht verdoppeln wie Ariadne, sondern in einer brillanten Choreographie sehr eindeutig sowohl Subjekte wie auch Objekte sexueller Verführung sind und sich schließlich zur Freude Damraus/Zerbinettas (und zum Leidwesen Joachim Kaisers…) bis auf die Unterhose entkleiden. Damrau spielte nicht nur hinreißend, sondern sah auch ebenso aus (ihr Agieren im kurzen knallroten Kostüm und in Pumps mit 20 cm hohen Absätzen wirkte nie dick aufgetragen, sondern allenfalls leicht ironisch). Zu Recht minutenlange Ovationen des Publikums nach der Arie.


    Die komische, darauffolgende Szene mit den vier Liebhabern setzt Carsen angemessen virtuos um, sie wurde mir aber wie so oft auch hier ein wenig lang. Immerhin wandte sich Zerbinetta am Schluss wieder unter Brechung der Illusion dem hingerissenen Komponisten zu, bevor sie mit Harlekin in den Kulissen verschwand…


    Schließlich Ariadne und Bacchus: Burkhard Fritz meistert die undankbare Partie achtbar, ohne besondere Glanzlichter zu setzen. Carsen inszeniert auch diese Szene als strenge, stilisierte Choreographie, in der sowohl Ariadne als auch Bacchus von zahlreichen Doppelgängern imitiert werden. Für das Erscheinen des Gottes öffnet sich ein blendend heller Spalt in der Rückwand. Als sich die beiden aneinander annähern, verschwinden die Doppelgänger allmählich, der Spalt verbreitert sich und schließlich sieht man Ariadne und Bacchus nur noch als Schattenrisse vor einer gleißend hellen Neonwand. Zerbinetta geht noch einmal über die Bühne, spricht mit ihren letzten Worten den Komponisten an, der Vorhang schließt sich. Der Komponist geht nach vorne, öffnet den Vorhang und schreitet zu den letzten Takten der Musik über die jetzt wieder völlig leere „wüste Insel“ (Bühne).


    Dann setzt der Beifall des Publikums ein und gleichzeitig stürmen alle anderen Sänger, Tänzer, Bühnenarbeiter auf die Bühne und feiern frenetisch den Komponisten und sein Werk. Auch während des langandauernden, begeisterten Beifalls des Publikums werden die Grenzen zwischen den Ebenen noch verwischt: beim ersten Durchgang überreicht der Haushofmeister dem Musiklehrer und dem Tanzmeister Umschläge (mit dem Honorar, wie sich vermuten lässt), beim zweiten Durchgang verweigert er die Verbeugung und marschiert mit maliziösen Blicken am Publikum vorbei, und erst in der dritten Runde ist er wirklich der Schauspieler Johannes Klama, der sich verbeugt.


    Ein allein schon wegen der großartigen musikalischen Leistungen wunderbarer Abend mit einer brillanten, sehr musikalischen Regie. Dass man stellenweise vielleicht noch mehr gegen die Klischees der Darstellungstradition hätte aninszenieren können, muss allenfalls als Wermutstropfen verbucht werden.


    Die Produktion wird im Februar 2009, allerdings mit anderem Dirigenten und anderer Besetzung, von der Deutschen Oper Berlin übernommen.



    Viele Grüße


    Bernd