Patricia Petibon (* 27. Februar 1970 in Montargis) gehört für mich zu den bedeutendsten zeitgenössischen Sängerinnen. Heutzutage, da viele andere Sängerinnen danach trachten, das Publikum mit Einheitsstimme und gleichförmiger Interpretation zu ermüden, ist sie ein leuchtender Stern am Himmel des klassischen Gesangs. Ihre eigenartige Stimme ist unverwechselbar timbriert, und ihre Interpretationen sind durchdacht und unerhört. Sie scheut sich nicht, mit Klangfarben zu experimentieren, Vokalfärbungen zu übertreiben (ähnlich Tito Gobbi), eigene Kadenzen zu komponieren und gesangsferne Elemente wie Gurgeln, Gähnen etc. in ihre Darbietungen aufzunehmen. Ihrer Stimme stehen unzählige Nuancen zur Verfügung - von kokett bis melancholisch, von Ironie oder gar Parodie bis zur ehrlichen Emotion - und immer lockt die Ablehnung des bloßen Schöngesangs, der Mut zur Hässlichkeit und eine kompromisslose Interpretation.
Ein großartiges Spielfeld für ihre Kunst hat sie in der französischen Barockoper gefunden, die sie ausschweifend üppig und sinnenfroh gestaltet. Zahlreiche Aufnahmen, besonders unter William Christie, halten diese Facette ihres Schaffens fest. Daneben hat sie jedoch viele moderne Klassiker im Repertoire, etwa Soeur Constance in Poulencs "Dialogues des Carmélites" oder die vier aberwitzigen Kochrezeptvertonungen "La bonne cuisine" von Leonard Bernstein, die ihrem surrealen Humor wohl entgegenkommen, oder die mit sanfter, anmutiger Traurigkeit vorgetragenen "Mélodies passagères" Samuel Barbers (nach Rilke).
Mit großem Erfolg hat sie sich dann die französische Oper und Operette zu Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen: Auch hier funktioniert eine "Affektausdeutung" nach barockem Vorbild. Ihre CD "French Touch" halte ich für das Beste, was in puncto französischer Spätromantik in den letzten Jahren auf den Markt gekommen ist und für ein gelungenes Revival des französischen Stils, dem weitere Aufnahmen folgen sollten.
Besonders bemerkenswert ist wohl ihre Darstellung der Olympia, besonders bewegend ihre Manon-Arie "Adieu, notre petite table". Aber sie vermag auch in den Operettenpartien (Chabrier, Messager, Hahn) vollauf zu überzeugen.
Restlos begeistert war ich auch von einem youtube-Video, in dem sie ein berührendes "Send in the clowns" aus dem Sondheim-Musical "A Little Night Music" aufführt, mit ihrer Leibpianistin Susan Manoff am Klavier - nicht gerade das Kernrepertoire lyrischer Koloratursopranistinnen, aber fabelhaft!
Eine neue Solorecital-CD soll bei der Deutschen Grammophon im Herbst herauskommen und wird der Klassik im engeren Sinne (Mozart, Haydn, Gluck) gewidmet sein. Man darf gespannt sein.
Liebe Grüße,
Martin