Die nachfolgende Fragestellung, die in diesem Thread Alban Berg: Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels" aufkam, hätte diesen gesprengt. Deswegen greife ich sie hier auf. Ausgelöst wurde sie durch diese Anmerkung zu der Interpretation des Violinkonzerts durch Leonard Bernstein und Isaac Stern:
ZitatAlles anzeigenOriginal von Edwin Baumgartner
Lieber BBB,
Leider
Eine typisch Bernstein'sche Anverwandlung eines Werkes an die eigene Vorstellungswelt. Bernstein begriff das Werk einerseits als Mahler-Ausläufer, andererseits glaubte er darin die Gegenüberstellung von Tonalität und Reihentechnik zu erkennen, die für seine eigenen Werke wesentlich war. Statt dies aber im Hinterkopf zu behalten und aus ihrer Kenntnis heraus Bergs Sprache zu gestalten, versucht er, diese (an sich gar nicht so verfehlten) Ideen relativ vordergründig hörbar zu machen, was, kombiniert mit dem emotionalen Überdruck, relativ seltsam wirkt.
Ich finde nach wie vor die Aufnahmen von Boulez und Abbado sehr gut, in denen der musikhistorische Bezug ebenfalls eine große Rolle spielt, aber nicht zum Interpretationsinhalt wird.
Eure sachkundige Analyse bestreite ich nicht, da ich sie mangels ausreichender Sachkenntnis weder nachvollziehen noch widerlegen kann. Aber ich knüpfe eine andere Frage daran, die vielleicht einen eigenen Thread wert wäre, wenn es ihn nicht schon gibt:
Was ist das entscheidende Kriterium für die "Richtigkeit" einer Aufführung?
Natürlich gehört die Treue zur Partitur dazu. Kann man Bernstein/Stern vorwerfen, dieser im Falle des Violinkonzertes nicht gefolgt zu sein? Ist es wirklich einfach nur falsch, wenn sich ein Interpret ein Werk zu eigen macht, indem er es im Lichte seiner "eigenen Vorstellungswelt" wiedergibt?
Ist es nicht auch ein wichtiges Kriterium, wenn ein Stück - unter Wahrung des Notentextes - beim Publikum so ankommt, dass es davon besonders berührt wird, zumal dann, wenn dies offensichtlich der Absicht des Komponisten entsprach? Einige hier scheinen ja auf diese Einspielung ähnlich stark zu reagieren wie ich. Liegen wir damit wirklich so falsch? Oder ignorieren wir damit "nur" die korrekte Exegese der Partitur unter strukturellen Aspekten?
Mir ist klar, dass das ausschließliche Abheben auf die "Wirkung" auch als Entschuldigung für ein Karajansches Verträglichmachen einer sperrigen Partitur herangezogen werden könnte. Das ist aber nicht gemeint. Auch sonst bitte ich die Frage nicht als polemisch misszuverstehen. Ich frage mich manchmal nur, ob bei (großen?) Teilen unserer Musikkritik nicht das Pendel zu weit zugunsten des Analytischen ausschlägt. Ich denke da an das häufige Lob für Aufnahmen etwa eines Boulez oder Gielen, in denen regelmäßig deren klare Analyse und Herausarbeitung der Struktur der jeweiligen betont wird, weswegen die einen sie stark loben, während sie andere, und darunter wohl auch die Mehrheit des Publikums, (deswegen?) eher kalt lassen.
Mir ist klar, dass diese Fragestellung etwa so schwierig ist wie die Definition der Liebe und irgendwann zwangsläufig beim rein Subjektiven enden muss. Wahrscheinlich bringt hier der Mittelweg zwischen der Betonung der Struktur und der Emotionalität auch nicht den Tod.
Dennoch würden mich Eure Gedanken zu der allgemeinen Fragestellung, die natürlich weit über Berg hinaus führt, interessieren.
Jacques Rideamus