Requiem und Neuanfang - Toshio Hosokawa: Voiceless Voice in Hiroshima

  • Reinhard Schulz schrieb 2001 in der Neuen Musikzeitung über die Uraufführung dieses Werkes am 4. Mai 2001 im Herkulessaal in München:


    Radioaktive Zerfallsrhythmen, die Ausbreitung von Detonationswellen, ihr Anwachsen und ihr Verebben, dazu das Geheul von Sirenen bildeten die formale Hüllkurve zu diesem Traueroratorium. Immer wieder schien sich dieses Requiem des unfassbaren Ereignisses zu vergewissern, als könne das Nachstellen der Schreckensgewalt, ihre Vergegenwärtigung die Wucht des Unbegreiflichen mildern. Arnold Schönbergs „Überlebender aus Warschau“, Luigi Nonos „Ricorda cosi ti hanno fatto in Auschwitz“, seine „Canti di vita e d’amore: Sul Ponte di Hiroshima“, Herbert Eimerts elektroakustische Komposition „Epitaph für Aikichi Kuboyama“ versuchten sich schon vor etwa fünf Jahrzehnten dem Unsagbaren ästhetisch zu stellen. Mit dem zu Ende gehenden Jahrhundert, so als müsse man nun endgültige Aufräumarbeit betreiben, stellte sich ein neuer Schub von Werken ein, die die unselige Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs reflektierten.


    Toshio Hosokawa, 1955 in Hiroshima geboren, kann die atomare Zerstörung Hiroshimas am 6. August 1945 nicht als Betrachter von außen wahrnehmen, sondern ist in seiner Biografie selbst von ihr betroffen. Allerdings erlebte er Hiroshima zunächst nicht als Ort des Schreckens, sondern als Geborgenheit bietende Stadt seiner Kindheit. Aber 1945 war seine Mutter in Hiroshima. Zum Zeitpunkt der Explosion hielt sie sich 15 Kilometer vom Epizentrum entfernt auf. Sein Vater leistete im August seinen Militärdienst in Übersee ab. Das Haus der Eltern wurde bei der Explosion zerstört, und zwei Geschwister des Komponisten starben an den Folgen der radioaktiven Strahlung. Aber Hiroshima als Ort des Schreckens nahm Hosokawa erst in Europa wahr, in den Begegnungen mit Studenten an der Universität der Künste Berlin und der Musikhochschule Freiburg. Hier studierte er bei Isang Yun, Klaus Huber und Brian Ferneyhough.


    Erst nach seiner Rückkehr aus Europa sprach er mit seinen Eltern über die Apokalypse. Er erfuhr, dass auch einige seiner Verwandten zu den Menschen gehörten, die an den Folgen des Atombombenabwurfes litten. 1989 bis 1991 schrieb er für das Amateurorchester „Neues Symphonieorchester Tokio“ und das Hiroshima Symphony Orchestra das dreiteilige Hiroshima Requiem. Dessen erste zwei Sätze bilden die Grundlage für Voiceless Voice in Hiroshima für 3 Sprecher, Soli, gemischten Chor, Tonband (ad. lib.) und Orchester. Der dritte Satz des Requiems Morgendämmerung wird gestrichen. An seiner Stelle steht jetzt ein völlig anderes Stück. Dier vierte und fünfte Satz kommen ebenfalls neu hinzu.


    Das Werk befindet sich zwischen den Extremen: Auf der einen Seite eine urtümlich brutale Klangwelt, erzeugt durch tiefe Blechbläser- und Schlagzeugklänge und Tonbandeinspielungen. Auf der anderen Seite die farbige Vielfalt der Akkorde vor allem in den Chorpartien und immer wieder Abschnitte, die etwas von der rituellen Strenge der alten japanischen Hofmusik vermitteln.


    Die Schreckensbilder der ersten beiden der fünf Sätze entsprechen weitgehend dem Stück von 1991. Das Präludium – Nacht bezeichnet der Komponist als „Ahnung der furchtbaren Katastrophe.“ Der zweite Satz heißt Tod und Auferstehung. Die Sprecher lesen Texte aus „Die Kinder aus Hiroshima“ von Arata Osada. Das Tonband spielt Ausschnitte aus Radiosendungen der Zeit, Reden von Hitler und von dem japanischen Premierminister Tojo Hideki. Geräusche von Explosionen sind zu hören. Eine alptraumhafte Musiklandschaft, an deren Ende das „Kyrie eleison“ erklingt.


    Das Dritte Satz Stimme des Winters ist eine fremdartige Chormusik über das Gedicht "Heimkehr" von Paul Celan: … Auf jedem, heimgeholt in sein Heute, ein ins Stumme entglittenes Ich: hölzern, ein Pflock…. Der Chor singt nicht nur, sondern er flüstert den Text auch, er ist mit Atemgeräuschen zu hören, die erst nach und nach aus der Stimmlosigkeit zu Gesang werden. Die Musik bewegt sich zwischen dem vor-musikalischen, geräuschhaften und kaum hörbaren und vielstimmigen und farbigen Akkorden. Hosokawa schreibt im Beiheft der CD der Uraufführung von dem Gefühl einer kreisenden Zeit. Hier sieht er den Bezug nicht nur zu der Katastrophe des Krieges, sondern auch zur Gegenwart: "Im Schatten des Wirtschaftswachstums nach dem Krieg sind die menschlichen Gefühle vollständig eingefroren, und so erscheint auch nur der Schatten des gefrorenen Liedes von Menschen, die nicht mehr singen können, selbst wenn sie es wollten."


    Der vierte und fünfte Satz vertonen Haikus des Dichters Matsou Bashô, der von 1644 bis 1694 gelebt hat. Den vierten Satz Zeichen des Frühlings für Altsolo, Chor und Orchester sieht Hosokawa als „Musik von der Schneeschmelze… Musik einer leisen Hoffnung.“: „Wenn ich aufmerksam schaue, seh` ich die Nazima an der Hecke blühen.“ Der fünfte Satz für Chor und Orchester ist die Stimme der buddhistischen Tempelglocken: „Wo ist der Mond? Die Tempelglocke versinkt in Meerestiefe.“ Zu der Ruhe des vierten Satzes steht er in starkem Gegensatz. Die Glockenschläge erklingen zum Teil in Form wild entfesselter Klänge. Auch wenn das Haiku von Matsou Bashô eine Meereslandschaft in tiefer Stille beschreibt, so scheint nach Aussage des Komponisten "der Klang der Tempelglocke, der aus der Tiefe des Meeres heraus nicht zu hören ist, in der ganzen Welt zu ertönen."


    Das Stück bezieht sich auf die Tempelglocke, die in Japan in buddhistischen Tempeln zu Sylvester in großen Abständen angeschlagen wird. Mit jedem der 108 Glockenschläge betet man für das Erlöschen einer der 108 Begierden, unter denen der Mensch leidet. Jeder einzelne Klang soll ins Innere der menschlichen Seele dringen.


    Toshio Hosokawa versteht das Stück nicht nur als Requiem für die Opfer der Atombombenexplosionen.
    Er stellt einen Bezug zum gegenwärtigen Japan her: Mein größtes Interesse bei dieser Komposition liegt darin, durch die Musik noch einmal die tiefe Beziehung zwischen Mensch und Natur zurückzugewinnen und beim Zuhörer durch bewusste Wahrnehmung der Klänge das Gefühl für die Natur zu wecken, das völlig in Vergessenheit geraten ist.


    Der Namenlose gilt in der japanischen Philosophie als der Reichste. So wie durch Stille Musik erst wahrhaft reich und tief wird, so will ich die Stimmen der stummen (voiceless) Opfer von Hiroshima und unserer sprachlosen Natur vergegenwärtigen.


    Das jetzige Hiroshima - wie auch Japan insgesamt - ist stark mechanisiert und per Computer vernetzt worden, und die Menschen sind dabei, ihr Gefühl zur Natur und die Einheit mit ihr immer mehr zu verlieren. So liegt der Komposition Voiceless Voice in Hiroshima als Thema die Fragestellung zugrunde: Wie kann der Mensch nach dem Erleben der Atombombe eine frische, blühende Beziehung zur Natur wiedererlangen? Und das Werk endet in einem Gebet, einem Gebet um Hoffnung.

    Am 29. August um 20 Uhr führen im Rahmen des Rheingau Musikfestivals in der Basilika des Kloster Eberbach, Eltville, die Altistin Gerhild Romberger, der WDR Rundfunkchor Köln und das WDR Sinfonieorchester Köln unter der Einstudierung von Rupert Huber das Werk auf. Es dirigiert Toshio Hosokawa.



    Die Zitate von Toshio Hosokawa finden sich im Beiheft der CD der Münchener Uraufführung am 4. Mai 2001: Voiceless Voice in Hiroshima, 2002, col legno, Salzburg (NR. 7 der CD-Serie der Musica Viva des Bayerischen Rundfunks München)

  • Lieber Ralf,


    vielen Dank für diese beeindruckende Vorstellung des Werkes "Voiceless voice in Hiroshima" von Toshio Hosokawa.


    Ich mag die Basilika von Kloster Eberbach nicht sonderlich - zum einen gefällt mir der Raum nicht, zum anderen finde ich die akustischen Bedingungen nicht gut. Dazu kommt, dass das ehemalige Kloster Eberbach für mich nicht gut erreichbar ist.


    Also habe ich mal geschaut, ob es denn eine Rundfunkübertragung geben wird: in der Tat, der WDR schneidet mit und überträgt "zu einem späteren Zeitpunkt" in WDR 3. Den genauen Sendetermin habe ich nicht eruieren können, aber vielleicht lässt sich dieser hier nachschieben, ich würde mir das Konzert gerne anhören.

  • Es gibt auch die Aufnahme der Uraufführung durch den Bayerischen Rundfunk, am 4. Mai 2001 mit Nathalie Stutzmann und mit dem Chor und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dirigiert von Sylvain Cambreling, der anscheinend alles dirigieren kann.


    Leider scheint diese Aufnahme zur Zeit weder bei JPC noch bei Amazon vorrätig zu sein. Insofern braucht man zum Kennenlernen dann doch die zukünftige Radiosendung des Westdeutschen Rundfunks. Und natürlich dürfte die Sendung einen Beitrag in der Rubrik "Heute im Radio" wert sein.

  • Anscheinend hat das WDR-Fernsehen am 8. Juli nachts eine Aufführung von "Voiceless Voice in Hiroshima" gesendet. Hat das jemand gesehen oder vielleicht sogar aufgezeichnet? Um es ganz ehrlich zu sagen: Ich würde mich sehr freuen, wenn mir jemand eine Video/DVD-Aufnahme des Werkes zusenden könnte.

  • Zitat

    Original von Kulturvermittler
    Ich würde mich sehr freuen, wenn mir jemand eine Video/DVD-Aufnahme des Werkes zusenden könnte.


    Dem schließe ich mich an, denn mW gibt es derzeit keine CD-Einspielung des Werkes, und Hosokawa gehört zu meinen bevorzugten zeitgenössischen Komponisten...