Der Dirigent als Erzieher des Publikums?

  • In Interviews mit Dirigenten höre bzw. lese ich es regelmäßig: Aufgabe des Dirigenten sei es auch, das Publikum zu erziehen.


    Gern äußern Dirigenten diese Auffassung, wenn nach anspruchsvollen Stücken im Programm - oftmals aus dem Bereich der Neuen Musik - gefragt wird.


    Findet eine solche Erziehung tatsächlich statt, frage ich mich.


    Ich meine, nein. Der Einfluss des Dirigenten auf das Publikum ist verschwindend gering. Womit will er denn erziehen? Mit der Programmauswahl? Das beträfe nur den kleinen Teil des Publikums, der über Jahre alle Konzerte besucht.


    Mir scheint, die Dirigenten überschätzen ihren Einfluss. Wir mündigen Klassikhörer suchen uns doch die CDs und Konzerte nach unseren Interessen aus. Nicht der Dirigent zieht das Publikum heran, sondern wir suchen uns ein Konzert, einen Dirigenten nach unserem Geschmack.


    Andererseits hat mich die Arbeit Metzmachers an der Hamburger Staatsoper wirklich begeistert. Metzmacher hat, wenn ich ehrlich bin, wohl doch einen nennenswerten Anteil daran, dass ich mich für moderne Oper interessiere. Vor ihm war ich eher der typische Wagner und Verdi-Hörer.


    Gibt es ihn also doch, den Erziehungsbeitrag?


    Viele Grüße
    Thomas

  • Erzogen werden möchte ich eigentlich nicht so gerne. Die Formulierung finde ich, nun ja, ein wenig paternalistisch.


    Aber ein Dirigent, dem ich vertraue, kann mir ein Repertoire nahebringen, dem ich bisher nicht vertraue. Kann mich zum Zuhören bringen, selbst wenn ich meine, einen bestimmten Komponisten aber auch wirklich gar nicht leiden zu können. Unter Gielen damals in Freiburg habe ich mir sogar Debussy angehört...


    Grüße,
    M.


    Zweimal nicht geschafft, das Wort "bisher" an der richtigen Stelle reinzuschmuggeln. Jetzt stimmt's endlich.

    2 Mal editiert, zuletzt von Michael M. ()

  • Ich glaube auch, "Erziehung" ist das falsche Wort. Wenngleich natürlich gerade die ubiquitären Dirigierleistungen unsere Hörgewohnheiten in gewisser Weise prägen, so muß man sagen, daß die Substanz eines Werkes nicht in seinen einzelnen Realisierungen aufgeht und daß im Grunde jeder Hörer so mündig ist, sich solche Substanz selbst zu erschließen, ja, sogar ein klangliches Idealbild zu konstruieren, unbeschadet der Tatsache, ob das jemals so zu hören war oder zu hören sein wird.


    Ich vermute, für die meisten von uns sind die Arbeitsergebnisse auch der präferierten Dirigenten und Dirigentinnen lediglich Stationen auf dem Weg zum jeweils angestrebten Optimum, das - wenn man den Aufwand denn betreiben möchte - sich jeder für ein Werk vor Ohren stellen könnte. Vor die "inneren Ohren", genauer gesagt.


    Letztlich plädiere ich also für einen Primat des Hörens als Denken, nicht für die jeweilige akustische Realisation. Aber das führt weg vom Thema, zudem hab´ ich mir dazu noch nicht genug Gedanken gemacht.


    Es bleibt zu konstatieren, daß viele Dirigenten geäußert haben, sie selbst hätten ihr vorschwebendes Ideal in der Ausführung nie so recht erreicht. Das stimmt mich nachdenklich...



    Graf Wetter

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    daß die Substanz eines Werkes nicht in seinen einzelnen Realisierungen aufgeht
    Graf Wetter


    Ich bin mir da nicht so sicher. Ich höre schon manchmal, dass ein Dirigent Gold macht aus etwas, was unter den Händen anderer nach Scheiße klang, und wiewohl ich leidlich gut Noten lese, finde ich in der Partitur weder Scheiße noch Gold, sondern nichts als Tintenkleckse mit Hälschen und Fähnchen dran...


    Grüße,
    Micha

    Einmal editiert, zuletzt von Michael M. ()

  • Wie ist es zu erklären, daß Stücke wie La Mer, Le Sacre du Printemps, Wozzeck u.a., die seinerzeit kleine oder größtere Skandale auslösten, jedenfalls keineswegs auf ungeteilte oder überwiegende Zustimmung bei Publikum und Kritik stießen, inzwischen zum Standardrepertoire gehören?


    Natürlich nicht durch "Erziehung" im strengen Sinne, aber doch wohl, weil Musiker, in diesem Fall Dirigenten, von der Musik überzeugt waren und sich leidenschaftlich für sie einsetzten, indem sie sie immer wieder aufs Programm gesetzt haben, auch wenn "das Publikum" lieber Brahms oder Verdi gehört hätte.


    Es gibt ja sogar die Anekdote über Wand, der in den 50ern oder 60ern in Köln, nachdem das Publikum bei einem modernen Stück Mißfallenskundgebungen hören ließ, sich mit den Worten umgedreht haben soll: Sie haben das Stück noch nicht verstanden, deshalb spielen wir es jetzt gleich noch einmal für Sie.
    Das ist natürlich ein bißchen oberlehrerhaft. Aber es ist nichts völlig neues. Schon zu Brahms Zeiten hat v. Bülow (oder ein anderer Zeitgenosse) eine Sinfonie von Brahms zweimal im selben Konzert dirigiert, oder einmal Brahms persönlich, einmal v. Bülow. Und irgendein relativ frühes Werk von Schönberg (Kammersinfonie?) wurde in einigen frühen Aufführungen auch gleich zweimal hintereinander gegeben.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ein guter Dirigent wie auch ein guter Interpret respekt. Instrumentalist hat m. M. nach durchaus den Auftrag, "erzieherisch" auf das Publikum einzuwirken.


    Das geht ja schon mit der Werkauswahl los:
    Entweder, man möchte ein bestimmtes Werk oder einen bestimmten Komponisten unbedingt aufführen, um es oder ihn dem Publikum nahezubringen (das ist entschärft ja auch "erziehen" ) , oder man möchte unbedingt "seine" Sichtweise eines bestimmten Werkes loszuwerden.


    In beiden Fällen versucht ein Spezialist, jemand anderem (dem Publikum) etwas darzubieten, und zwar im besten Falle etwas, an das es sich reiben oder/und wachsen kann.


    Sehr gute Dirigenten sind durchaus in der Lage, sich Ihr Publikum heranzuerziehen, ein gutes Beispiel ist z.B. Bernstein mit seinen vielen Jugend und Gesprächskonzerten.


    Zitat

    und wiewohl ich leidlich gut Noten lese, finde ich in der Partitur weder Scheiße noch Gold, sondern nichts als Tintenkleckse mit Hälschen und Fähnchen dran...


    Ein sehr gutes Beispiel, denn man sollte versuchen, zu lernen, was sich hinter den Tintenklecksern und den lustigen Fähnchen verbirgt.
    Oder wie hast Du, Michael M., das gemeint?



    Erziehen mag der falsche Ausdruck sein?


    Zitat

    Erzogen werden möchte ich eigentlich nicht so gerne. Die Formulierung finde ich, nun ja, ein wenig paternalistisch


    Klar, das mag niemand gerne.
    Äh, was bedeutet paternosteristisch?


    Aber was bedeutet Erziehung?
    Was hat z.B. eine Maria Callas bewirkt?
    Hat Sie z. B. nicht mehrere Generationen von Musikliebhabern sozusagen erzogen, wie sich eine Ihrer Meinung perfekte Tosca anhört?


    Und haben Ihr nicht wenige darin beigepflichtet?
    Nur so als Beispiel.



    Übrigens am Rande:


    Als Berufsmusiker muß man damit leben, ständig von allen möglichen Leuten, seien es Dirigenten oder Mitinstrumentalisten "erzogen" zu werden.


    Das hört niemals auf, manchmal ist man auch selber in der fachlichen Position, zu erziehen, und manchmal nicht.


    Es ist ein ständiges Geben und Nehmen, auf das man sich einlassen muß als Berufsmusiker.


    Zitat

    Ich meine, nein. Der Einfluss des Dirigenten auf das Publikum ist verschwindend gering.


    Oh, da habe ich ganz andere Erfahrungen gemacht.


    Z.B. hat es unser GMD Fabrizio Ventura geschafft, das(überwiegende) Publikum mittels einer persönlichen humorvollen Eingangsansprache dazu zu bringen, Berio's "Un Re in ascolto" nicht nur zu akzeptieren sondern sich ganz diesem Werk hinzugeben.


    Das war ausgesprochen klug, erzieherisch und wichtig und hatte zur Folge, daß diese sperrige moderne Oper ein Erfolg in unserem Hause war.


    Michael M.


    Zitat

    Aber ein Dirigent, dem ich vertraue, kann mir ein Repertoire nahebringen, dem ich bisher nicht vertraue. Kann mich zum Zuhören bringen, selbst wenn ich meine, einen bestimmten Komponisten aber auch wirklich gar nicht leiden zu können.


    Tja, dann hat er Dich dazu erzogen.........

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Und irgendein relativ frühes Werk von Schönberg (Kammersinfonie?) wurde in einigen frühen Aufführungen auch gleich zweimal hintereinander gegeben.


    Ich hab' das sogar irgendwo (rororo-Monographie "Schönberg"?) mal so gelesen: Die ersten Konzerte mit dieser Kammersymphonie waren sogar ein ausdrückliches Erziehungsprogramm. Das Publikum wurde nämlich zu mehreren Proben eingeladen, um in das Werk hineinzufinden. Ich glaube, ein richtiges Konzert, in dem es einfach von vorn bis hinten aufgeführt wurde, hat dann erstmal gar nicht stattgefunden. Trotzdem soll dieses Erziehungsprojekt positiv aufgenommen worden sein.


    Viele Grüße


    :hello:

  • Mein Gott, hoffentlich hat der Dirigent, der das Publikum erziehen will, einen Intendanten oder Geschäftsführer, der von Orchester-Marketing etwas versteht. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er Chef eines Rundfunkorchesters ist und über einen so hohen Etat verfügt, dass er sich die erzieherische Arbeit, die in der Regel mit neuen, zeitgenössischen Werken verbunden ist, leisten kann.
    Bei Orchestern die auf hohe Abonnentenzahlen und Einspielergebnisse angewiesen sind geht eine solche quasi egozentrische Programmpolitik
    nicht. "Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler", das heißt, es muss ein Programm gestaltet werden, dass breite Publikumsschichten anspricht. Damit ich nicht falsch verstanden werde, damit sind keine konservativen Programme mit ewig den gleichen "Reissern" gemeint. Es muss ein programmatischer Faden, der für den Hörer nach vollziehbar ist durch die Programme gehen. Gut eingepackt können und sollen auch selten gespielte Werke präsentiert werden. Der richtige Programm-Mix ist entscheidend und der kann nur im Dialog zwischen Dirigenten, Marketing-Verantwortlichen, Musikern, einem Programmausschuss und fachkundigen Besuchern geschaffen werden. Ein Konzertprogramm, mit dem auch junge Besucher angesprochen werden sollen muss einen gewissen Eventcharakter haben. Soll - was richtig und notwendig ist - zu zeitgenössicher Musik hingeführt werden, sind spezielle Konzertabende, Gesprächskonzerte und gut gestaltete Einführungsvorträge ein Weg, um Barrieren beim Publikum
    zu überwinden. Der Denkansatz zur Programmgestaltung sollte aber grundsätzlich aus der Sicht des Hörers erfolgen und nicht allein vom
    erzieherischen Willen des Orchesterleiters geprägt sein. Wobei dieser durchaus auch egoistische Ziele verfolgt, nämlich sein dirigentisches Repertoire zu erweitern und für Kritik und Fachwelt durch ungewöhnliche Programme interessant zu werden.
    Herzlichst
    Operus

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