JOHN COLTRANE - Leben und Werk

  • Da mir John Coltrane seit Anbeginn meiner Jazz-Begeisterung einer der liebsten Musiker geworden und geblieben ist und ich ihn darüber hinaus für einen der größten Jazzer des letzten Jahrhunderts halte, finde ich einen Thread über seine wichtigsten Aufnahmen überfällig.



    Kurz zum Leben des Saxophonisten:
    John Coltrane wird 1926 in North Carolina geboren.
    Mit zwölf lernt er Klarinette, ab 1943 studiert er in Philadelphia eben dieses Instrument und Altsaxophon.
    Mit 19 hat er die ersten Jobs in Tanzbands, in der Navy und direkt nach dem Krieg dann erstmals professionelle Anstellungen bei Joe Webb und Eddie "Cleanhead" Vinson.
    1949 nimmt ihn Dizzy Gillespie in seine Band, 1952 Earl Bostic und 1954 Johnny Hodges. Die Jazzwelt wird langsam aufmerksam auf die neue, markante Saxophonstimme, nun nahezu ausschließlicham Tenor- und Sopransaxophon.
    1955 schließlich nimmt ihn Miles Davis in sein Quintett auf, das zu einem der legendärsten der Jazzgeschichte werden soll, und (teilweise erweitert zum Sextett) für Aufnahmen wie "Round about Midnight" und "Kind of Blue" verantwortlich zeichnet.
    1957 erscheint die erste Schallplatte unter eigenem Namen.
    1959 wechselt er von der Firma Prestige zu Atlantic. Das Album "Giant Steps" erregt enormes Aufsehen und ist bis heute ein Meilenstein in Coltranes Schaffen. Ein Jahr später entsteht mit "My Favorite Things" eines der erfolgreichsten Jazz-Alben aller Zeiten.
    1961 verlässt Coltrane Miles Davis. Er ist mittlerweile aus eigenen Kräften von seiner Heroin- und Alkoholsucht befreit und hat zu tiefer Religiosität und Spiritualität gefunden, die sein späteres Schaffen durchaus prägen sollte. Er wechselt abermals die Plattenfirma, diesmal zu Impulse, die bis zu seinem Ende seine musikalische Heimat bleiben sollte. Er bildet sein eigenes "klassisches" Quartett mit McCoy Tyner am Klavier, Elvin Jones am Schlagzeug und Jimmy Garrison am Bass. Dieses Quartett wird zu einem der prägendsten und lang bestehendsten des Jazz. Es folgen diverse Studio- und Live-Alben, Tourneen durch Amerika, Europa und Japan. Sein modaler Jazz, geprägt unter anderem auch durch afrikanische, indische und spanische Einflüsse, geht spätestens ab 1965 mit dem Album "Ascension" fließend in den Free Jazz über. Er nimmt mit Pharoah Sanders einen zweiten, jungen Saxophinisten in die Band, dafür verlassen diese zunächst McCoy Tyner, später auch Elvin Jones, da sie ihrem Mentor künstlerisch nicht mehr folgen können und wollen. Ersetzt werden sie durch Coltranes Ehefrau Alice und Rashied Ali. Diese Gruppe tourt noch einmal triumphal durch Japan, spielt gar an einem Abend vor 40.000 Menschen.
    Im März 1967 entsteht mit "Expression" die letzte Aufnahme, im Juli stirbt John Coltrane an einem Leberleiden, den Spätfolgen seiner früheren Süchte.


    Bei den folgenden Platten-Aufnahmen beschränke ich mich auf diejenigen, die ich für außerordentlich halte sowie selbst besitze und kenne. Es sollte gerne von anderen ergänzt werden...


    Natürlich gibt es bereits Aufnahmen Coltranes als Sideman ab 1949, unter anderem bei Dizzy Gillespie oder Earl Bostic. Ich beginne aber mit einigen exemplarischen Aufnahmen mit dem Miles Davis Quintett. 1955/56 entstand Round About Midnight. Im Titelstück, komponiert von Thelonious Monk und als die wohl berühmteste Jazz-Ballade aller Zeiten geltend, deutet Coltrane mit seinem drängenden Ton, der in wunderbarem Kontrast zu Davis' cooler, gedämpfter Trompete steht, sein Potential mehr als an. Die vier Platten Relaxin', Cookin', Steamin' und Workin' - alle bei der selben Aufnahmesitzung 1956 eingespielt - etablieren das Quintett in der absoluten Spitzengruppe. Miles dominiert diese Aufnahmen zwar, etabliert Coltrane aber endgültig als neuen Stern am Saxophonhimmel, an dem er nun munter auf Augenhöhe neben dem Platzhirsch Sonny Rollins musizieren sollte! Nachdem Coltrane nach einer Unterbrechung bei Miles Davis wieder eingestiegen war, entstand 1959 Kind of Blue, jenes legendäre Album mit dem spektakulären Bläsersatz Davis-Coltrane-Adderley, das bis heute als meistverkaufte Jazz-Platte gilt. Hier wäre ein eigener Thread von Nöten, immerhin gibt es von Ashley Kahn ein komplettes Buch über diese Aufnahme und seine Geschichte.



    Nun aber zu den Platten unter eigenem Namen:


    Die erste trug den wenig erstaunlichen Namen Coltrane (1957) und warb auf dem Cover noch mit dem Satz "Coltrane - eine wichtige Stimme im Miles Davis Quintett". Vom Blues geprägte Balladen spiegeln auf dieser Aufnahme Coltranes damalige große Stärke wieder. Seine Improvisationen zeigen aber bereits hier große Eigenständigkeit. Seine zweite Aufnahme bei Prestige mit dem Titel Traneing In bestätigt die angedeutete Klasse des Vorläufers, Coltrane improvisiert hier noch wuchtiger und immer noch blues-gesättigt.



    Ebenfalls 1957 entsteht Coltranes einzige Aufnahme für Blue Note, nämlich Blue Train. Eine Platte, die er immerhin noch 1960 selbst für seine bis dato beste hielt, wie er in einem Interview mit dem schwedischen Rundfunk bekundete. Bis auf eine Ausnahme handelt es sich hier erstmals nur um Eigenkompositionen. Für mich ist diese Einspielung eine Sternstunde des vom Blues durchtränkten Hard Bop der späten 50er, zu deren Gelingen nicht unerheblich der großartige junge Trompeter Lee Morgan beitrug, der ein wichtiger Baustein der damaligen Blue Note - Historie war und etwas später tragischerweise erschossen wurde.



    Aus Coltranes Zeit bei Atlantic ragt Giant Steps von 1959 heraus, etwa zur selben Zeit entstanden wie die Aufnahmen mit Miles Davis zu "Kind of Blue". Seine Suche nach neuen harmonischen Möglichkeiten trieb er hier auf die Spitze, führte sie gleichwohl in eine Sackgasse. Das Titelstück ist aberwitzig zu spielen. Das Tempo ist mehr als ordentlich, die Akkordfolge wechselt halbtaktig. Bis auf Coltrane selbst hört man den beteiligten Musikern an, wie sie sich in ihren Soli durch die in Terzsprüngen wechselnde Harmonik quälen. Mit der Ballade "Naima" (nach Coltranes erster Ehefrau) und den Stücken "Countdown" und "Mr P.C." (gemeint war Bassist Paul Chambers) sind weitere Coltrane-Klassiker auf der Platte vertreten.


    1960 dann präsentierte er, immer noch bei Atlantic, sein festes Quartett mit den Fixsternen McCoy Tyner und Elvin Jones sowie damals noch dem Bassisten Steve Davis, der bald ersetzt werden sollte. Die Aufnahmen Coltrane plays the Blues, Coltrane's Sound und My Favorite Things sind sozusagen die Urzelle dessen, was dieses Quartett in den weiteren Jahren miteinander erreichen sollte. My Favorite Things war dabei der absolute Durchbruch und manifestierte Coltranes Spitzenposition im zeitgenössischen Jazz. Sie war so etwas wie seine Fortentwicklung dessen, was er ein Jahr zuvor mit Miles Davis auf "Kind of Blue" begonnen hatte. Bietet er hier zwar "nur" Gassenhauer wie "Summertime" oder eben "My Favorite Things", ist deren Verarbeitung sensationell. Coltrane greift hier auf das Sopransaxophon zurück und schafft einen fast schon orientalischen, hypnotischen Sound. Die Stücke sind gründlich reharmonisiert und in Skalen und Modi zerlegt, die den Improvisationen größere Freiheiten einräumen. Elvin Jones lässt hier erstmals hören, welch niemals nachlassendes Kraftwerk er für die Musik Coltranes sein sollte. Ein Donnergott, wie Michael Naura so schön treffend schrieb... Coltranes Markenzeichen, die sogenannten "Sheets of Sound", rasende Tonfolgen, die sich nahezu zu einer Klangfläche aneinander reihen, sind hier trefflich zu hören.



    1961 erfolgte dann die erste von unzähligen Aufnahmen für Impulse. Hier auszuwählen und sich zu beschränken, fällt wirklich schwer. Daher reduziere ich die Auswahl hauptsächlich auf meinen persönlichen Geschmack.


    Gleich die erste Platte Africa/Brass ist der Hammer! Coltrane erweitert sein Quartett zu einer Big Band, die in ihrer ungewöhnlichen Besetzung und durch die Arrangements Eric Dolphys für einen flirrenden, nervösen Sound sorgt, der einem wirklich den Urwald in die Ohren treibt. Darüber brilliert Coltrane, McCoy Tyner spielt fast schon perkussiv dazu auf dem Klavier. Und Elvin Jones - nun ja, der Donnergott halt... er lässt die Poly-Rhythmen unaufhörlich zirkulieren und ist nicht umsonst bis heute maßstabsetzend und ein Muss für jeden angehenden Jazz-Schlagzeuger. Mit Olé erzeugte die Gruppe eine ähnliche Wirkung, bezog sich diesmal allerdings nicht auf die afrikanischen Wurzeln, sondern bediente sich bei spanischer Volksmusik. Das Ergebnis ist gleichermaßen kraftvoll und energiegeladen.



    Neben der Aufnahmetätigkeit war das Quartett zuvorderst live tätig und wohl so ziemlich der heißeste Act, den New York zu der Zeit zu bieten hatte. Zeitgenossen, die diese Live-Konzerte in jenen Tagen miterlebt haben, sprachen davon, schweißgebadet und vor Erregung heiser geschrien die Clubs verlassen zu haben. Einen kleinen Eindruck von dieser Atmosphäre vermittelt die erste Live-Platte Live at the Village Vanguard. Wie sich Coltrane im 16-minütigen "Chasin' the Trane" verausgabt und sich fast um Leib und Leben bläst, ist selbst knapp ein halbes Jahrhundert später an den heimischen Lautsprechern nahezu physisch nachzuempfinden. Außerdem zeigt er hier seine ganze Bandbreite des Saxophonspiels, komprimiert an einem verdichteten Abend!


    Weitere schöne Platten aus den Jahren 1961 und 1962 sind für mich Impressions, Coltrane und Ballads. In diese Zeit fallen auch die Alben gemeinsam mit Duke Ellington und mit dem Sänger Johnny Hartman. Dies sind zwar eher kommerziell erdachte Produkte, haben aber beide ihre schönen Momente.



    1963 folgt eine weitere bedeutende Live-Einspielung, die bereits den weiteren Weg Coltranes andeutet: Coltrane Live at Birdland. Hier zeigt sich noch einmal die gesamte Palette vom satten Blues über die rasenden Klangflächen und sich immer wieder erneuernden Melodiebögen. Erstmals tritt hier aber auch jener hymische, von tiefer Gläubigkeit geprägte Gestus auf, der die weitere Zeit prägen sollte. Und als Bonus-Studio-Track gibt es obendrein noch "Alabama", eine beeindruckende musikalische Klage über die grässlichen rassistischen Geschehnisse im Amerika jener Zeit.



    1964 dann der große Wurf, die legendäre Aufnahme, die Platte, die sich einen der vordersten Plätze in der Jazz-Geschichte gesichert hat: A Love Supreme. Coltrane zögert nun nicht mehr, seinen tiefen Glauben offen zu legen und in Musik zu transformieren. Das Album ist so etwas wie eine Suite, gegliedert in die vier Teile "Acknowledgement", "Resolution", "Pursuance" und "Psalm". Coltrane fasst hier alles bislang erreichte und erworbene exemplarisch zusammen. Es gibt die auf modaler Basis spannungsreichen Fortschreitungen, verschiedene rhythmische Ebenen und erstmals in dieser Konsequenz eine Rubato-Ballade, die das Metrum faktisch aufhebt. Ohne ein festgelegtes Grundtempo spielt Coltrane hymnisch und eindringlich wie kaum je zuvor. Man muss selbst nichts damit am Hut haben, um dennoch bewegt davon zu sein, wie jemand sozusagen "musikalisch betet". Der Einfluss dieser Platte, sowohl was ihren musikalischen Gehalt, als auch ihre außermusikalische Bedeutung anbetrifft, wirkt bis heute nach. Kein angehender Jazzmusiker kommt umhin, sich mit diesem Werk zu befassen.



    Nach "A Love Supreme" folgten Platten, die den Übergang zu immer freieren Spielweisen bedeuteten. 1965 dann erschien Ascension, ein weiteres "Opus magnum". Das Quartett wurde abermals um einige Bläser erweitert. Free Jazz war 1965 nicht wirklich neu, aber Coltrane erreichte mit dieser Aufnahme eine nicht gehörte Perfektion in freiem Solo- und Gruppenspiel. Die Soli von Coltrane und Pharoah Sanders sind atemberaubende Kraftakte, die freien Ensemble-Passagen dazwischen lassen hören, wie durchdacht und organisiert auch in freiem tonalen Rahmen miteinander musiziert werden kann. Wer sich auf dieses nicht gänzlich unanstrengende Hörerlebnis einlässt, wird belohnt. Ich las einmal die Biografie eines ehemaligen Drogenabhängigen, der, statt zur nächsten Spritze zu greifen, sich immer dann auf den Boden gelegt und "Ascension" gehört hat. Dies sei gewesen, als sei er geflogen, so schrieb er. Nun ja, eine kleine Anekdote am Rande... Was mich im Gegensatz zu vielen anderen Free Jazz - Aufnahmen an denen Coltranes so fasziniert, ist die Tatsache, dass man ihnen die tiefe Menschlichkeit, den Glauben und die Liebe anhört. Hier ist keiner am Werk, der kühl herum experimentiert, sondern der mit jedem Ton herausschleudert: Hier stehe ich, ich kann nicht anders....



    Die Jazzkritik hatte langsam so ziemlich jedes Verständnis verloren. Von "Anti-Jazz" war die Rede. Selbst seine musikalischen Gefährten mochten nicht mehr so recht und so wechselte Coltrane nach etwa 5 Plattenaufnahmen im freieren Stil, von denen ich Om und Sun Ship hervorheben möchte, seine Band noch ein letztes Mal durch. Seinem Mythos tat das keinen Abbruch. Concert in Japan entstand 1966 im Rahmen einer Tour, bei der er in Japan nahezu wie ein Superstar empfangen wurde. Im Rahmen dieser Tour hat er sich übrigens als erster Amerikaner auf japanischem Boden am Denkmal der Opfer Hiroshimas und Nagasakis für die Verbrechen an der Menschlichkeit entschuldigt. Es gibt Fotos, die sehr an den Kniefall Willy Brandts erinnern. 1967 macht Coltrane seine letzte Aufnahme. Expression deutet an, dass es wieder einen neuen Weg gab, den er hätte beschreiten wollen. Die kompromisslose Freiheit wurde teilweise wieder reduziert zugunsten einer eigenartigen Melodik, zugunsten wieder neuen Ausdrucksformen, mit denen er seine menschliche Existenz in Töne zu fassen versuchte.



    Ich habe maximal 10 Prozent seiner Aufnahmen hier erwähnt, es gibt also trotz seines viel zu frühen Todes eine Unmenge an Musik zu entdecken. Wer ausführliches Interesse am Leben und Schaffen Coltranes hat, dem empfehle ich das Buch "Chasin' the Trane" von J. C. Thomas (Hannibal Verlag), eine der schönsten Musiker-Biografien, die ich kenne.


    LG
    B.

  • Danke für die schöne Einführung - in den 1970ern habe ich zeitweise Coltrane gehört, bis er mir zu den Ohren herauskam.


    Den Literaturhinweis möchte ich ergänzen: J.C. Thomas' Buch ist das einzige, was ins Deutsche übersetzt wurde, aber völlig überholt. Die Lage der Jazzliteratur in deutscher Sprache war schon immer desolat ...
    Auf neuerem Forschungsstand ist das Buch von Lewis Porter, als Taschenbuch sehr günstig zu bekommen:



    Ebenfalls empfehlenswert ist Carl Woideck's Buch:



    Die komplette Coltrane Discographie hat David Wild erstellt, inzwischen ist sie auf seiner Website einsehbar: Dave Wild's Wildplace - die gedruckte Ausgabe von Porter's Diskographie ist nur zu astronomischen Preisen zu bekommen.


    Coltrane's Aufnahmen, vor allem die für Impulse, sind so oft wiederveröffentlicht worden, daß der Überblick etwas schwer fällt. Von den neuen CDs der Originals-Serie bin ich enttäuscht, weil sie einfach die LPs kopieren, die z.T. kaum 35 Minuten Spielzeit haben. Produzent Michael Cuscuna hatte mit David Wild's Hilfe in den 1980er und 90er Jahren fast alles auf Impulse-CDs in vervollständigter Form herausgegeben; da wäre auch noch einiges im Privatarchiv der Coltrane-Witwe, das jetzt Sohn Ravi gehört, aber Verve/Impulse scheint kein Interesse mehr zu haben. Es ist halt billiger, einfach die alten Masterbänder zu kopieren.


    Davon abgesehen, ist Coltane's Werk so vollständig zu haben gewesen wie das kaum eines anderen Musikers. Die meisten Box-Sets sind leider vergriffen.


    Die kompletten Aufnahmen mit Miles Davis für Prestige sind aktuell zu bekommen, ich finde sie wirken in dieser Komplettausgabe noch eindrucksvoller als in den kurzen Einzel-CDs:



    Von Coltrane's eigenen Aufnahmen für Prestige sowie den vielen als Co-Leader und in All-Star bands gab es eine Box mit 16 CDs (aufpassen, daß man die Box im LP-Format bekommt!:



    Nur die Sessions unter seinem Namen bekommt man auf diesen 6 CDs:



    Ein Teil der hier nicht enthaltenen Sessions bekommt man hier:



    Ich halte diese Boxen für empfehlenswerter als die Einzel-CDs, weil man unter dem Strich mehr Musik pro CD bekommt und eben alles verstreut veröffentlichte mit am richtigen Ort - bei einem Musiker von Coltranes Kaliber und den hervorragenden Kollegen lohnt das allemal. Um manches komplett zu haben, müsste man sich sonst zur Original-CD noch zwei dazukaufen, z.B. bei den Begegnungen mit Paul Quinichette oder Gene Ammons, die man auf der "Interplay"-Box komplett bekommt. In seinen frühen Jahren hat Coltrane mit so vielen Tenoristen Sessions gemacht wie wenige - man kann ihn mit Coleman Hawkins, Gene Ammons, Paul Quinichette, Sonny Rollins, Hank Mobley, Al Cohn, Zoot Sims, Bobby Jaspar hören ....

  • Zitat

    Original von miguel54


    Ich halte diese Boxen für empfehlenswerter als die Einzel-CDs, weil man unter dem Strich mehr Musik pro CD bekommt


    Lieber Miguel,


    selbstverständlich hast du Recht hinsichtlich der Fülle des Materials, das die erwähnten Box-Sets bereitstellen. Den Werdegang Coltranes darzustellen, fand ich aber anhand der originalen Alben sinniger. Mitte der 60er war ja noch nicht abzusehen, das irgendwann einmal ganze Pakete mit kleinen, silbernen Scheiben geschnürt werden sollten.


    Bei A Love Supreme rate ich übrigens sehr zur 2-CD-Deluxe-Edition. Diese enthält neben der gut remasterten Original-Suite den einzigen Live-Mitschnitt des Werkes, aufgenommen im Juli 1965 beim Festival in Antibes. Außerdem gibt es obendrein noch zwei alternative Studio-Versionen des ersten Satzes "Acknowledgement" in der um Archie Shepp und Art Davis erweiterten Besetzung. Dazu kommt die hochwertige Aufmachung und ausführliche Liner Notes. Insgesamt hat man diesen Meilenstein damit in einer rundum zufriedenstellenden Variante.



    LG
    B.

  • In Coltrane's frühe Jahre gehört auch seine kurze Mitgliedschaft im Quartett von Thelonious Monk, die auf dieser preiswerten Doppel-CD vollständig dokumentiert ist:



    ... bis auf den erst vor ein paar Jahren wiedergefundenen Mitschnitt eines Aufrittes in der Carnegie Hall, in dem man auch den legendären Drummer Shadow Wilson endlich mal gut hören kann:



    In die frühen Jahre fällt auch die einzige nicht bei Prestige erschienene LP unter Coltranes Namen - auffällig sind die vielen Eigenkompositionen, mit denen er bei den Produzenten Bei Prestige offenbar nicht landen konnte - aus diesem Grund zeigt diese Session mehr persönliches Profil als die Prestige LPs - das Coverphoto ist einer der Klassiker von Francis Wolff:



    Über die Klangqualiät der verschiedenen Re-Issues dieser LP scheiden sich die Geister - man informiere sich im Organissimo Forum oder im Steve Hofman Forum und verzweifle ob der vielen Ausgaben, die man gebraucht und neu bei amazon.de bekommen kann ...


    Insgesamt hatte Coltrane aber vor 1958 noch nicht das Profil als persönlicher Solist. Über das berühmte Miles Davis Quintet mit Coltrane, Red Garland, Paul Chambers und Philly Joe Jones spöttelte damals ein Kritiker, es bestünde aus einem Trompeter, der die Hälfte seiner Noten vernuschelt, einem ständig verstimmt klingenden Tenorsaxofonisten, einem Cocktail-Pianisten, einem minderjährigen Bassisten und einem viel zu lauten Drummer - was gemein gemeint war, aber natürlich einen Funken Wahrheit in sich trägt. Trotzdem machte das Solo über 'Round Midnight mit Miles Coltrane über Nacht berühmt - es ist in dieser Box das chronologisch zweite (Miles war noch bei Prestige unter Vertrag und wurde aus ihm entlassen, weil er genug Material für die noch fälligen LPs aufnahm, in einer Marathon-Session, die in der Prestige Box oben enthalten ist - auch da gab es schon 'Round Midnight, aber die Version erschien erst Jahre später).


    Die Columbia-Aufnahmen von Miles & Trane sind in dieser Box, ohne später aufgetauchte Live-Aufnahmen - man ist nie komplett als Jazz-Sammler :rolleyes:



    Auch von dieser Box gab es eine frühere Ausgabe im Schuber mit Metallzwinge - die erste Folge der Miles-Columbia-Gesamtausgabe.


    Wegen der teilweise erheblichen Preisunterschiede habe ich immer die Links zu JPC und Amazon gepostet.

  • Zitat

    Original von Barbirolli
    Bei A Love Supreme rate ich übrigens sehr zur 2-CD-Deluxe-Edition. Diese enthält neben der gut remasterten Original-Suite den einzigen Live-Mitschnitt des Werkes, aufgenommen im Juli 1965 beim Festival in Antibes. Außerdem gibt es obendrein noch zwei alternative Studio-Versionen des ersten Satzes "Acknowledgement" in der um Archie Shepp und Art Davis erweiterten Besetzung. Dazu kommt die hochwertige Aufmachung und ausführliche Liner Notes. Insgesamt hat man diesen Meilenstein damit in einer rundum zufriedenstellenden Variante.


    Da sind wir uns einig - wenn ich mich recht erinnere, ist von Shepp aber nicht viel zu hören - auf der Original-LP hört man ihn übrigens ganz kurz einen Schlußakkord mitblasen.

  • Sein persönliches Profil entwickelte Coltrane erst so richtig während seiner kurzen Vertragszeit bei Atlantic. Es fängt mit Hard Bop an und leitet zu seiner modalen Spielweise über, die ersten "sheets of sounds" - sehr schnell gespielte arpeggierte Akkorde - kann man auch schon hören. Auch hier wurden die Aufnahmen eher etwas durcheinander veröffentlicht - erst wenn man die Komplettausgabe durchhört, merkt man wie sich Coltrane von Session zu Session schwerpunktmäßig auf Standards (teilweise wie bei Rollins etwas abseitige) oder Eigenkompositionen konzentriert hat, was bei den gemischt zusammengestellten LPs nicht so rauskam. Vor allem seine allerersten Aufnahmeversuche mit Stücken wie "Naima" und "Giant Steps" wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht und illustrieren seine Suche.
    Ich finde die ersten Sessions mit McCoy Tyner in ihrer kompletten Form viel beeindruckender - auch weil man dann z.B. mitbekommt, daß er den Pianisten bei einer Session heimschickte und einige Stücke nur mit Bass und Schlagzeug aufnahm. Die These vom besseren Nachvollziehen von Coltranes Entwicklung anhand der Originl-LPs relativiert sich so etwas. Auch später bei Impulse sagte er oft nach der Session "warten wir noch , ich hab da noch eine Idee", und so blieb vieles im Regal liegen. Seine Suche nach dem perfekten Pianisten und Drummer für seine Band, nachdem er auf einer Europatournee im Frühjahr 1960 bei Miles gekündigt hatte, lässt sich so auch besser verfolgen: von Red Garland, Wynton Kelly, Tommy Flanagan und Cedar Walton im Studio zu Steve Kuhn, Jaki Byard und McCoy Tyner, der dann blieb; von Philly Joe Jones, Arthur Taylor, Jimmy Cobb und Lex Humphries im Studio zu Pete LaRoca über Billy Higgins zu Elvin Jones.
    Wie aufgeschlossen Coltrane damals war, zeigt die auch erst posthum unter dem etwas hanebüchenen Titel "The Avant Garde" veröffentlichte Session mit Musikern, die alle mit Ornette Coleman gespielt hatten oder gerade in seiner Band waren: Don Cherry, Charlie Haden, Percy Heath und Ed Blackwell. Umgekehrt machte Coleman später für Blue Note zwei LPs mit Coltranes Begleitern Jimmy Garrison und Elvin Jones ...


  • Hier habe ich gerade mal die Titel der ersten Atlantic Sessions aufgeführt - höre sie gerade in dieser Reihenfolge. Die LP Giant Steps war schon sehr beeindruckend, aber in dieser Häufung, in der Reihenfolge, wie sie im Studio eingespielt wurden, sind seine Stücke geradezu umwerfend, und der qualitative Einfluß, den Monk als Komponist ausübte, ist deutlich (Cousin Mary, Syeeda's Song Flute, Spiral, ...). Ich kann die Atlantic-Box nur empfehlen - wenn es fasziniert, will man irgendwann doch alles haben, und der Sound des Remastering ist auch besser.

  • Nachtragen möchte ich noch zwei weitere lesenswerte Bücher, beide von Ashley Kahn, der auch das bereits weiter oben erwähnte Buch über die Entstehung von Miles Davis' Kind of Blue geschrieben hat.


    Ashley Kahn
    A Love Supreme


    Hier geht es voller Details um die Entstehung des gleichnamigen Albums, mit Interviews von Zeitzeugen und Musikern, musikalischen Analysen, der Wirkungsgeschichte, vielen Bildern und manchem mehr.


    Ashley Kahn
    Impulse! Das Label, das Coltrane erschuf


    Die Geschichte des Plattenlabels, das Coltranes wichtigste musikalische Heimstatt war, wird auch hier ausführlich mit Interviews, Cover-Art, Analysen und Plattenbesprechungen gewürdigt.



    Beide Bücher sind mittlerweile ins Deutsche übersetzt und unter anderem bei 2**1 erhältlich.


    LG
    B.

  • Lieber Barbirolli, lieber Miguel,


    sehr schöne Beiträge! Für mich ist John Coltrane überhaupt der Größte!


    Als Hardbob-Musiker in den 50ern (vor allem auf Prestige - ich habe hier auch noch die LP-Box) war John Coltrane zwar schon ein sehr guter Saxophonist, aber einer, unter vielen Guten. - Aus dieser Zeit ist mir seine liebste, die Aufnahme mit Monk aus der Carnegie Hall, auf der in seinen Soli sich schon am ehsten andeutete, was noch kommen würde. - M.E. mit schon auch damals einem eigenen Saxspiel-Stil, aber so ausgeprägt eigen, so die Spielmöglichkeiten seines Instruments erweiternd, so einen ganz eigenen, gesamten Musikstil ausprägend, das begann wirklich auf den Atlantic-Aufnahmen, auf denen er größere Freiheiten hatte. Ich würde hier auch zur Box raten, weil man hier noch mehr sich erhören kann, wie er hier experimentiert und beständig nach neuen Möglichkeiten sucht. Als Bassist liebe ich hier besonders "Olé" schon allein wegen der grandiosen Bass-Duette zwischen Art Davis und Reggie Workman. Auch hier schon mit dabei Eric Dolphy und Freddie Hubbard, die immer wieder Coltrane begleiten werden. Besonders interessant finde ich auch die Scheibe mit Don Cherry und den anderen Musikern von Ornette Colemans klassischer Band, auf der man hören kann, wie Coltrane anderes Neues seiner Zeit aufnimmt und sich zu eigen macht.


    Aus den gleichen Gründen schätze ich auch ganz besonders unter seinen ersten Impulse-Scheiben die Live-Aufnahmen, auf denen auch sehr gut zu hören ist, wie Coltrane sein Spiel ständig erweitert und die immer schon etwas weiter sind, als die Studioaufnahmen der selben Zeit, die natürlich auch wunderschön sind, etwa "Impressions" (1961-63), wieder mit dem genialen Eric Dolphy.



    Zum Vergleich: Live at Birdland, 1963



    My Favorite Things. Live at Newport, 1963



    Diese grandiose Box von den europäischen Touren 1961-63



    Grandios auch die beiden Aufnahmen: Live at the Village Vanguard und Live at the Village Vaguard Again




    "The Complete Africa Brass Sessions" überzeugen hingegen vor allem durch die interessanten Arrangemants mit tiefem Blech und mehrfach besetztem Bass und wunderbarem Spiel zwischen Coltrane und wieder Dolphy und dem ebenfalls viel zu jung verstorbenem Booker Little an der Trompete.



    Auf dem gleichnamigen Stück auf "Kulu Sé Mama" wird diese Richtung eines arrangierten, breiter besetzten Jazz, der an den Third Stream andockt, fortgesetzt, jetzt aber mit Donald Garrett an der Bassklarinette, bzw 2. Bass und Pharoah Sanders am 2. Tenorsax.


  • Was die 1961er Village Vanguard Sessions angeht, würde ich unbedingt zu der 4 CD-Box raten - da bekommt man mit, was die Band mit Gästen damals in Richtung Exotica jeden Abend geboten hat.



    Die Newport-CD finde ich faszinierend,weil da Roy Haynes anstelle von Elvin Jones spielt - der gefällt mir ehrlich gesagt sogar noch besser!


    Toll sind auch die erst vor kurzem veröffentlichten Aufnahmen aus dem Half Note:


  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Stimmt, Miguel, die ganze Live-Box aus dem Village Vanguard lohnt sich sehr, aber ich wollte auch die klassischen Cover zeigen. Trotz dieser ganzen tollen Boxen mit zusätzlichem Material hänge ich auch an meinen alten Cotrane-LPs, die ich viele Jahre rauf und runter gehört habe und die ihre eigenen Beschaffungsgeschichten haben. Bis ich in der Vor-CD-und Internet-Zeit Coltrane auf LP komplett hatte....... - vieles aus Frankreich, GB und USA mitgebracht, was anders gerade nicht mehr zu bekommen oder nur dort herausgekommen war.


    Auf "A Love Supreme", die Barbirolli ja schon vorgestellt hat - ich würde auch die um die Live-Version ergänzte De-Luxe-Edition empfehlen -, verbinden sich dann intensivste Expression und eine selbstvergessene Entrücktheit und Relaxtheit, die auch mich rationalistischen Materialisten ahnen lassen, was die echte Unio Mystica seien könnte. Diese Richtung wird dann, immer freier werdend, bis zuletzt fortgesetzt. Auch z.B."Om", "First Meditations", und "Meditations" sind für mich wunderbare Therapeutica, um mich in die Musik reinfallen zu lassen, abzuschalten, Stress loszuwerden und mich zu sammeln. Das geht mit nichts so gut bei mir, wie mit dem Coltrane dieser Phase.



    "Ascension" ist dann das überzeugende Experiment, auch in größerer Besetzung noch freier Spielen zu können. Sein klasisches Quartett aus McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones wird erweitert um Archie Shepp und Pharoah Sanders, Tenorsax, Marion Brown und den Afro-Dänen John Tchicai, Altsax, Dewey Johnson und wieder Freddie Hubbard in einer seiner freisten Aufnahmen, Trompete und auch Art Davis wieder am 2. Bass. Mit Coltrane wachsen alle Musiker über sich hinaus, werden ebenfalls zu prägenden Musikern auf ihren Instrumenten und bleiben von ihm auch später immer geprägt. Auch zu dieser Wirkung auf seine phantastischen Mitmusiker wäre noch viel zu sagen.


    Aus der letzten Phase 1965 mit seinem klassischen Quartett Tyner, Garrison, Jones höre ich zur Zeit besonders gerne diese Live-Aufnahme in intimer Atmosphäre aus dem Half Note, die erst vor Kurzem erschien ((und die Miguel schon eingestellt hat, während ich schrieb - ja, wirklich toll! :D):



    Ganz wunderbar in dieser Art ist auch "Live in Paris" aus 1965 auf Pablo.


    Ich schätze auch sehr seine letzte Phase, als er, noch weitergehend, alle musikalischen Parameter befreite, wohin ihm die Musiker seines klassischen Quartetts bis 65 nicht mehr folgen wollten. Hier begeistert mich besonders das Stück "Jupiter Variations" durch seine Ausdruckskraft, Energie, wie auch wieder durch "Spiritualität", wie auf "A Love Supreme", "Om" und diesen Scheiben, gespielt nur im Duo mit Raschied Ali. Hatte Elvin Jones mit seiner Polyrhythmik bei Coltrane schon das Schlagzeugspiel revolutioniert, wie vor ihm nur Art Blakey und Max Roach im Bop, so gab Raschied Ali hier jetzt auch noch die Orientierung an einem Takt auf. Es ist hier trotzdem nicht einfach wildes Geschäpper, sondern gleichwertiges Mitspiel mit Coltrane, in dem sich beide gegenseitig unglaublich antreiben.


    Aus der letzten Phase gefällt mir diese besonders gut:



    Neben Coltrane bläst auch Pharoah Sanders überirdische Soli, wie vielleicht seitdem nie mehr - und ich liebe auch die meisten seiner eigenen Scheiben. Selbst die vielgeschmähte Alice Coltrane am Piano, der manche so eine Yoko Ono -Rolle zuweisen, gefällt mir hier ausgesprochen gut. Sicherlich war sie weniger virtuos als McCoy Tyner, aber deswegen konnte sie sich vielleicht auch eher von noch relativ vertrauter Harmonik in den Akkordauflösungen lösen. Ihre schrägen Blockakkord-Arpeggios passen jedenfalls ausgezeichnet zu den wilden Improvisationsschleiffen ihres Gatten und Pharoah Sanders und auch einige ihrer Soli finde ich hier durchaus beachtlich.


    Vorerst soweit, :hello: Matthias

  • Ich bin zwar kein Coltrane-Experte, nenne aber Reihe seiner Alben mein eigen. Neben den hier schon genannten Scheiben »My favorite things«, »A Love Supreme« (war mein erstes Coltrane Album), den »Afrika-Brass«-Sessions mit den hinreissenden Arrangements von Eric Dolphy sowie der von miguel54 gezeigte Box mit den frühen Village Vanguard Sessions, gefallen mir insbesondere die späten experimentellen Scheiben mit erweitertem Ensemble (durch Sanders verdoppeltes TS, verdoppelter Bass und verdoppeltes Schlagzeug).


    Ein Livemitschnitt, der IMO sehr schön den Übergang von der Periode des klassischen Quartetts hin zu Spätstil zeigt, ja gewissermaßen eine Schnittstelle markiert, ist das Seattle-Konzert vom 30. September 1965 (das hier, soweit ich sehe, noch nicht erwähnt wurde):



    Zu hören ist hier das klassische John Coltrane Quartett (Tyner, Garrison, Jones) erweitert um den phänomenalen Pharoah Sanders (TenorSax) und Donald Rafael Garrett an der Bassklarinette. Interessant ist, daß hier eher noch traditionellere Tracks (etwa »Body and Soul«) neben überaus avancierten, in Richtung agressiverer, kollektiver Improvisation weisenden Stücken (insbes. »Cosmos« und »Evolution«) stehen. Ein Wechselbad der Stile und Gefühle – gerade das macht diesen Mitschnitt für mich so besonders.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Hallo Barbirolli, hallo Jazzfreunde,


    das Thema "John Coltrane" gafällt mir natürlich sehr gut, die schöne Eröffnung ebenfalls. Es ist mir angenehm, die LP-Cover wieder, und dann noch im Überblick, zu sehen. Bis auf eine oder zwei LPs habe ich alle gehabt. Da werden natürlich Erinnerungen wach, und in Verbindung mit Jazz-LP-Originalcover gibt es einige. Als CD habe ich bisher nur einige nachgekauft.


    Coltrane ist für mich, von früh an, ein faszinierender Tenor- und Sopransaxophonist gewesen. Interessant ist seine Entwicklung, auch im Hinblick auf seine jeweiligen Bandmitglieder. Dabei spielte, wie ich meine, die Rhytmusgruppe stets eine große Rolle, da Coltranes Spielweise das "Feuer unterm Hintern" geradezu brauchte; wegen seiner flotten und an Ideen überreichen Linien war es jedoch genauso wichtig, eine disziplinierte "Rhythm Section" zu haben.


    Bei Miles Davis fand Coltrane - ich konzentriere mich hier an dieser Stelle auf Bass und Schlagzeug, das mit dem Klavier ist so eine besondere Sache - mit Paul Chambers und Philly Joe Jones, die Tranes Temperament durch cooles und distanziertes Spiel im Zaum zu halten versuchten (manchmal vergeblich, wie ich finde), beides. Diese Konstellation, ich will von Miles Davis an seiner Seite gar nicht reden, war für Coltrane natürlich ein Riesenglück. Mit Paul Chambers arbeitete er auch nach Davis unter eigenem Namen noch häufig zusammen, am Schlagzeug dann mit Art Taylor.


    Danach wurden, nach einigem Ausprobieren, Jimmy Garrison und Elvin Jones über Jahre seine "ständigen" Begleiter und auch Antreiber . Da wurden regelrechte Feuerwerke gezündet. Anscheinend brauchte Coltrane eine heiße Rhytmusgruppe neben sich; es zeigte sich auch in seiner Vorliebe, mit Schlagzeug als Duo zu spielen.


    Im Hinblick auf seine Mitspieler sollte Coltranes Spiel, das will ich mit alledem sagen, betrachtet werden, da es bei ihm, besonders in der späteren Phase, sehr um emotionale Verschmelzung und Atmosphäre geht.


    Da ich gerade folgende CD gehört habe und bemerke, dass das Cover noch nicht abgebildet ist, sei dies nachgeholt:



    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Interessant ist seine Entwicklung, auch im Hinblick auf seine jeweiligen Bandmitglieder. Dabei spielte, wie ich meine, die Rhytmusgruppe stets eine große Rolle, da Coltranes Spielweise das "Feuer unterm Hintern" geradezu brauchte; wegen seiner flotten und an Ideen überreichen Linien war es jedoch genauso wichtig, eine disziplinierte "Rhythm Section" zu haben.


    Bei Miles Davis fand Coltrane - ich konzentriere mich hier an dieser Stelle auf Bass und Schlagzeug, das mit dem Klavier ist so eine besondere Sache - mit Paul Chambers und Philly Joe Jones, die Tranes Temperament durch cooles und distanziertes Spiel im Zaum zu halten versuchten (manchmal vergeblich, wie ich finde), beides.


    Das finde ich so eine Sache, Coltrane während seiner Zeit bei Miles in Bezug zu seinen Rhythmusgruppen (oder denen von Miles) so zu beurteilen. Von den Studioaufnahmen kann man nicht ausgehen, da mussten sich Chambers und die Drummer meistens zurückhalten, einmal wegen der Aufnahmetechnik (die Toningenieure hatten auch Ende der 1950er Jahre immer noch die Angst vor der Übersteuerung und von lauten Schlagzeugern, vor allem Bassdrums, wie mir einer der renommiertesten aktuellen Jazz-Tontechniker der USA verraten hat - drummers were tippin' wörtlich übersetzt: mussten auf Zehenspitzen gehen ...), und zum zweiten wegen des Projektcharakters der Platten, die Miles und ab einer bestimmten Zeit Produzent Teo Macero (klassisch kompositionstechnisch geschult) als Aesthetik im Sinn hatten - man zähle mal, wie wenige Stücke von Miles' Platten Eingang in sein Live-Repertoire fanden!
    Hört man Live-Platten - die mit Coltrane erschienen im wesentlichen erst seit den 1980er Jahren - ergibt sich ein anderes Bild, da spielen alle viel feuriger, z.B. auf:



    Die Aufnahmen von seiner letzten Europatournee mit Miles im Frühjahr 1960 zeichnen auch ein anderes Bild, vor allem wenn man den vergleich mit Sonny Stitt macht, der Coltranes Nachfolger auf der Herbsttournee war - das gleiche Repertoire, die gleiche Rhythmusgruppe.



    Was die Zeit mit seinen eigenen Live Bands ab 1961 angeht - vorher ist er ja nur als Sideman live aufgetreten - hängt seine Wahl mit vielen Aspekten zusammen, und so groß war die Auswahl ja nicht: Elvin Jones, wenn der nicht konnte Roy Haynes, nach ihm Rashid Ali. Drei sehr verschiedene Drummer. Irgendwo stand mal zu lesen, daß Coltranes Spiel nach 1960 eigentlich nur noch im Zusammenhang mit einer Rhythmusgruppe als Jazz bezeichnet werden könne - man blende die mal geistig aus: swingen im konservativen Sinne tut er wirklich nicht, tat er nie, meiner Ansicht nach - was konkrete Arbeit am Rhythmus als Gestaltungsparameter angeht, war ihm Rollins überlegen, was er sehr wohl wusste und in eine andere Richtung ging, genau wie Wayne Shorter, der in jungen Jahren viel mit Coltrane in Philadelphia übte, beobachtete, wo Coltranes Konzept hinführte, und auch in eine andere Richtung ging, obwohl er vom gleichen Grundmaterial ausging.
    Coltrane hat viel Inspiration aus der spirituellen Expressivität und der harmonischmelodischen Komplexität gezogen und sich rhythmisch gesehen kaum entwickelt - und daß er da was nachholen wollte, deutet sich an in der Wendung zu afrikanischer/afro-karibischer Musik und Percussion ab 1965 (z.B. Kulú Sé Mamá) und einer völlig anderen melodiösen Konzeption ab 1966 - man höre die postum erschienenen Aufnahmen auf "Stellar Regions" - da hat das CD-Zeitalter seine Vorteile, denn das gab es nie auf LP ... :D


  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Interessant ist seine Entwicklung, auch im Hinblick auf seine jeweiligen Bandmitglieder. Dabei spielte, wie ich meine, die Rhytmusgruppe stets eine große Rolle, da Coltranes Spielweise das "Feuer unterm Hintern" geradezu brauchte; wegen seiner flotten und an Ideen überreichen Linien war es jedoch genauso wichtig, eine disziplinierte "Rhythm Section" zu haben.


    Lieber Uwe,


    ich denke auch, dass Coltrane erst mit der Verpflichtung von McCoy Tyner und Elvin Jones jenes Team gefunden hatte, das in der Lage war, seine musikalischen Höhenflüge mitzufliegen und die ihm ebenbürtige Partner waren, die dynamischen und energetischen Steigerungen voll mitzugehen.


    Bleiben wir bei Elvin Jones: Oft wird davon gesprochen, dass sich der moderne Jazz vom frühen Jazz unter anderem davon unterschieden habe, die Zählzeiten und die Rhythmik vom "Beat" auf den "Puls" gestellt zu haben. Soll heißen: Statt die 1 und 3 in einem 4/4-Takt stark zu betonen, wechselte man auf die schwebenderen 2 und 4, schließlich auf eine mehr oder minder geltende Gleichberechtigung aller vier Zählzeiten. Du weißt schon: Das typische Schwing-dinge-ding-dinge-ding... Die Hard Bop-Trommler der 50er fügten diesem Puls ihre eigenen interessanten Markenzeichen hinzu. Art Blakey schmiss zum Beispiel gehörige Bomben auf die 1, angekündigt durch mächtige Wirbel. Max Roach, das intellektuelle Pendant zum "trommlerischen Urvieh" Blakey, verteilte hingegen Akzente an verschiedensten Stellen des musikalischen Geschehens. Andere, wie Philly Joe Jones oder Albert Heath, hatten ihre weiteren Markenzeichen.


    Dann aber kamen Tony Williams und Elvin Jones. Ersterer, gerade 17 Jahre alt, hat diesen so genannten Puls in neue ungahnte Höhen geführt, voller Spannung und Nervosität. Er begann mit Temporückungen, unvorhergesehenen Akzenten und war ein Trommler, der durch seine irrwitzigen Ideen den Solisten selbst Impulse gab, die sie ohne ihn wohl nicht bekommen hätten. Bei ihm wusste man nie, was in den nächsten zehn Sekunden passieren würde.


    Elvin Jones hingegen hat das Pulsieren von den Becken auf alle Trommeln des Schlagzeug-Sets verlegt, oftmals auch rhythmisch an Latin-Music orientiert. Sein Spiel ist ein immer währendes Rotieren über alle Bestandteile des Schlagzeuges, das einen nicht enden wollenden rhythmischen Fluss verursachte. Inmitten dieses dauerhaften Zirkulierens war es ihm möglich, die Dynamiken zu steigern und Akzente an allen Stellen zu setzen, die ihm musikalisch sinnvoll erschienen. Man kann sich das fast wie einen starken Sturm vorstellen, in dem es immer wieder zu noch stärkeren Böen kommt.


    Ein schönes Beispiel ist für mich aus spontaner Eingebung das Stück "Out of this World" von Coltrane. Es gibt aber natürlich Unmengen weitere...



    Und das war genau das, was Coltrane für seine improvisatorischen Kraftakte brauchte! Im Eingang schrieb ich vom Kraftwerk Elvin Jones, das Coltrane mit immer neuem Strom versorgte. Man kann aber auch sagen, er war ein Sturm, ein schweres Gewitter, eine Naturgewalt. Wer so einen Schlagzeuger im Rücken hat, muss wirklich alles geben. Und genau das wollte Coltrane ja stets.


    Die beiden Rhythmusgruppen Tyner-Garrison-Jones (bei John Coltrane) und Hancock-Carter-Williams (bei Miles Davis) sind für mich die Maßstäbe der 60er Jahre. Beide haben auf unterschiedliche Weise definiert, wie man in Quartett- oder Quintett-Besetzung miteinander musizieren kann. In weiten Teilen gelten diese beiden Modelle bis heute. Nehmen wir einen der aufregendsten Schlagzeuger der Gegenwart, Brian Blade, so hat er genau die beiden Musizierweisen von Tony Williams und Elvin Jones verinnerlicht, kombiniert und neues hinzugefügt. Und schon ist er einer der Ausnahmeschlagzeuger unserer Zeit!


    LG
    B.

  • Bei dieser Gelegnheit kann ich auch mal meine Lieblings-Aufnahmen aus den letzten Jahren bei Impulse aufzählen:


    Transition ist eine der vielen postum veröffentlichten Aufnahmen, bzw. Vigil und Welcome (eines der schönsten spirituellen Stücke Coltranes) waren auf zwei LPs verstreut gewesen. Erst auf der CD hat der unermüdliche Wiederveröffentlicher Michael Cuscuna die komplette Session zusammentragen können. Das Titelstück ist ein rasanter Dialog Coltranes mit sich selbst wie mit zwei zerissenen Seiten seiner Seele - das Stück hat mich damals im Radio ungeheuer beeindruckt, die LP-Version der erste Coltrane, den ich mir dann auch tatsächlich gekauft und fast täglich gespielt habe. Die Suite Payer and Meditation auf dieser CD ist A Love Supreme an die Seite zu stellen und ihr meiner Meinung nach etwas überlegen.



    Für jemanden, der diese Aufnahme nicht kennt vielleicht nicht nachvollziehbar, aber für mich die CD, die ich als Einstieg in die Musik des Quartetts mit Tyner, Garrison und Jones empfehlen würde. Wenn ich nur eine Coltrane CD der Impulse Zeit vor einem Wohnungsbrand retten könnte, dann diese!


    Für den lyrischen Coltrane (wie er später in einem Interview zugab, eine Verlegenheitslösung, weil er durch Überarbeitung sein bestes Mundstück ruiniert hatte und nicht so rasant spielen konnte, wie er wollte) die wunderbare Platte mit Johnny Hartman:



    Für diese eine Platte von Hartman lasse ich ohne zu zögern den kompletten Sinatra liegen. Man kaufe bitte unbedingt nur die SACD-Ausgabe (läuft auf jedem CD-Spieler, da Hybrid-SACD), weil nur die den originalen Mono-Mix enthält, der so von allen Beteiligten abgesegnet wurde und wesentlich besser klingt als die Stereofassung (Tontechniker Rudy Van Gelder erläutert es im Begleittext - auf SA-CD.net habe ich mehr dazu geschrieben).


    Für die letzten Jahre Stellar Regions und Interstellar Space:



    Höchste Intensität, einmal melodisch, einmal im Dialog mit Drummer Rashid Ali in aufs Allerwesentlichste reduzierten Themen.


    Ansonsten:


    Living Space - auch hier eine erst posthum veröffentlichte Session, die aber wunderbare Sachen enthält, und im Titelstück Coltranes einzigen Versuch, ein zweites Sax zu überspielen:



    Kulu Se Mama - Spiritualität mit dem Blick nach Afro-Amerika und Percussionist/Sänger Juno Lewis - wunderbar!



    Will man die Überschneidungen dieser Neuausgabe mit der o.a. CD Transition vermeiden, versuche man die Box "The Major Works" zu bekommen (auf dem Marktplatz spottbillig!), die alle "Großwerke" in erweiterter Besetzung enthält:



    Disk: 1
    1. Ascension - Edition I
    2. Om
    Disk: 2
    1. Ascension - Edition II
    2. Kulu Se Mama
    3. Selflessness


    ... und alles ohne die Blenden, die das Umdrehen der LP notwendig machte, und die auf den Einzel-CDs z.B. von OM so belassen wurden!


    Die lieder vergriffene CD Dear Old Stockholm sammelt alle Studioaufnahmen mit Drummer Roy Haynes (der Jungbrunnen!), der für meine Ohren viel gruppendienlicher spielt als Jones:



    ... und noch als Bonbon von 1964 die unterschätzte LP Crescent, die ich ebenfalls genauso hoch einstufe wie A Love Supreme:



    ... oder man kauft sich gleich die 8 CDs der Quartet-Aufnahmen, obwohl die inzwischen auch nicht mehr vollständig ist - ich habe beides ... :rolleyes:


  • So, noch einmal ein kleiner CD-Tipp, auch wenn das hier langsam Überhand nimmt.... ;)


    Folgende CD ist musikalisch nun nicht als dringendes Muss anzuraten. Sie enthält (in sehr guter Qualität) ein Konzert des Miles Davis Quintetts in Stockholm 1960, lizensiert durch Dragon Records. Es gibt die Kracher von "Kind of Blue" in ausgedehnten Live-Versionen ("So What" gleich zweimal), an denen ganz schön zu hören ist, was Davis und Coltrane jeweils aus dem Material herausholen konnten. Jimmy Cobb und Wynton Kelly sind mir leider etwas sehr artig am Werke. Zu einem sammlerischen Schmuckstück wird das ganze aber wegen des ca. siebenminütigen Interviews, das Coltrane in Schweden gegeben hat und das auf dieser CD einfach mal mit drangehängt wurde. Es gibt einen Eindruck von seiner anscheinend allürenfreien Natur und seinem Interesse an immerwährender Fortentwicklung. Und die Stimme mal zu hören, na ja, das tut einem Fan doch auch mal ganz gut... ;)



    LG
    B.

  • Zitat

    Barbirolli: ich denke auch, dass Coltrane erst mit der Verpflichtung von McCoy Tyner und Elvin Jones jenes Team gefunden hatte, das in der Lage war, seine musikalischen Höhenflüge mitzufliegen und die ihm ebenbürtige Partner waren, die dynamischen und energetischen Steigerungen voll mitzugehen


    Aber das gilt für die beiden eben nur bis 1965. Danach finde ich Raschid Ali auch erneut ebenso richtungsweisend.


    Ebenso sollten auch seine Bassisten genannt werden. Paul Chambers, dann später Art Davis und Reggie Workman waren natürlich auch hervorragende Bassisten, die alle auf ihre Weise wesentlich dazu beigetragen haben, die Möglichkeiten des Basses im Jazz zu erweitern, aber Jimmy Garrison war dann bis zuletzt der kongeniale Partner, der die expressive Energie in seinem Bassspiel hält und ebenso treibt wie Elvin Jones, bzw dann in der letzten Phase auch dann noch rhythmisch füllt, wo es keinen festen Takt mehr gibt. Ob er einfache Loops-artige Patterns spielte, die nur leicht verändert werden, häufig nur in der Phrasierung, wie in "A Love Supreme", oder den Walking Bass so zu einem permanentem Solospiel auch in der "Begleitung" erweiterte, dass auch er gleichwertiger Partner in der freien Kollektivimprovisation wird, oder ob er in seinem Solospiel da weitermachte, wo Scott LaFaro auf seinen letzten Aufnahmen war, oder ob er Flamenco-Gitarrentechniken auf den Bass übertrug oder Afrikanisches aufgriff, all das war schon auch von bleibender Wirkung und dennoch, wenn man heute seine langen Soli wieder hört, auch bis heute in der Art und Verbindung einzigartig und mich immer wieder begeisternd. Ich finde rhythmisch bei ihm auch schon einiges vorbereitend, was dann in der Hinsicht 1966 passiert.


    Eine Bemerkung noch zum "Urvieh" Art Blakey: Das mag im Vergleich zum intellektuellen Spiel von Max Roach so erscheinen, aber sein Spiel war natürlich auch sehr durchdacht. Es ist ja Blakey, der als erster schon ab den 40ern immer wieder quer durch Afrika und den Nahen und Mittleren Osten reist, von daher viel mitbringt, in sein Spiel integriert und mit raffinierter Polyrhythmik beginnt, was dann Elvin Jones ausbaut. Aber damit, das ist mir schon klar, erzähle ich dir, Barbirolli, natürlich nichts Neues.


    :hello: Matthias

  • Zitat

    Original von miguel54


    was konkrete Arbeit am Rhythmus als Gestaltungsparameter angeht, war ihm Rollins überlegen, was er sehr wohl wusste und in eine andere Richtung ging


    Irgendwie ein JA und ein NEIN von mir bei dieser Aussage. Ja, setzt man Coltrane in Bezug zu Sonny Rollins, was ja immer wieder geschieht, einfach aus der Tatsache heraus, dass sie die beiden prägenden Tenoristen zur selben Zeit waren. Ein mit mir bekannter, mittlerweile in die Jahre gekommener Saxophonlehrer, der beide damals live gesehen hat und ein heftiger Rollins-Jünger war, äußerte mir gegenüber einmal sinngemäß: "Seit Coltrane bei Gott war, kam nur noch Sch...." Sollte wohl heißen, dass er mit den Bestrebungen, die Coltrane zu der Musik führten, die er schließlich machte, und mit ihr als solcher nicht mehr warm werden konnte.


    Keine Frage: Rollins zählt für mich auch zu den größten Erzählern im Jazz, rhythmisch auf den Punkt und von einem Einfallsreichtum, der schon ziemlich einmalig war. Ich kenne zwei Live-Aufnahmen, in denen Musiker über ein 64-taktiges Schema mehr als zehn Durchgänge hintereinander improvisieren, und jeder dieser Durchläufe hätte das das Zeug dazu, ein eigenes Thema, ein eigenes Stück zu werden. Die eine Version ist von Sonny Rollins, die andere von Dexter Gordon.


    Dass nun aber Coltrane diese Fähigkeiten nicht besaß oder ein lausiger Rhyhthmiker war, bezweifle ich. Hört man sich zum Beispiel die 50er-Jahre-Aufnahmen an, in denen sein Spiel noch sehr vom Rhythm & Blues und Hard Bop geprägt war, so erkenne ich keinerlei Schwächen diesbezüglich. Alleine bei Blue Train: Das finde ich tadellos, knackig und auf den Punkt gespielt. Allerhöchstens kann man einwenden, dass Lee Morgan noch einen Zacken schärfer drauf ist. Allein, wie der Kerl in sein Solo im Titelstück eintritt: Traumhaft!


    Dass diese Elemente im Laufe der Zeit bei Coltrane selbst in den Hintergrund traten, erklärt sich mir eher weniger aus seinem Unvermögen, sondern eher aus der Tatsache, dass er musikalisch ganz woanders hinwollte. Daraus, dass er - ganz anders als Rollins - einen nicht-musikalischen Hintergrund hatte, der sich unbedingt in der Musik Bahn brechen sollte, nämlich seine Gläubigkeit, Spiritualität, Frömmigkeit - man nenne es, wie man es wolle. Dieses schien - für ihn - Wege und Mittel zu benötigen, die über Parameter-"Lappalien" wie rhythmischer Finesse hinausgingen. Was er ausdrücken wollte, konnte er anscheinend nur mittels seiner eigenen Errungenschaften tun.


    Für uns heute ist es doch schön, solch verschiedene Modelle gleichwertig nebeneinander betrachten und hören zu können. Ich liebe es, Sonny Rollins' langgezogenen, erdigen Improvisationen zuzuhören, die wirklich knackig sind. Genauso liebe ich es, wie mir Coltrane mit seinen Klang-Errungenschaften und harmonischen Überschreitungen mitten ins Herz bläst. Im Gegensatz zu dem oben erwähnten Saxophonlehrer besitze ich da wohl so etwas wie die Gnade der späten Geburt... ;)


    LG
    B.

  • Zitat

    Original von Matthias Oberg


    Eine Bemerkung noch zum "Urvieh" Art Blakey: Das mag im Vergleich zum intellektuellen Spiel von Max Roach so erscheinen, aber sein Spiel war natürlich auch sehr durchdacht. Es ist ja Blakey, der als erster schon ab den 40ern immer wieder quer durch Afrika und den Nahen und Mittleren Osten reist, von daher viel mitbringt, in sein Spiel integriert und mit raffinierter Polyrhythmik beginnt, was dann Elvin Jones ausbaut.


    Natürlich hast du recht, lieber Matthias. Das war in der Kürze ntürlich sehr pointiert aufgelistet. Ein eigener Thread über Blakey könnte das ganze erhellen. Startest du den? :P


    Nichtsdetotrotz sehe ich einen erheblichen Entwicklungssprung zwischen der "Generation Blakey" (50er) und der "Generation Williams/Jones" (60er). Aus heutiger Sicht bildete erstere sozusagen eine Basis, auf der zweitere dann ihre Brillianz entwickelte. Stöbert man nach Vorbildern und Einflüssen von Jones und Williams, so fällt beide Male der Name Art Blakey. Das ist ja das schöne am Jazz: Menschen orientieren sich an ihren Vorläufern, saugen auf, verwerfen, fügen hinzu - und so entsteht etwas Neues. Das macht die Vorläufer ja nicht schlechter. Denn dann wären auch Williams und Jones längst überholt...


    LG
    B.

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  • Lieber Barbirolli,


    da kann ich dir in allem zustimmen. Allerdings war Max Roach nun auch wieder fähig, sehr viel von dem, was jüngere entwickelten, aufzunehmen. Ich denke z.B. an seine Duo-Aufnahmen mit Archie Shepp und Anthony Braxton oder mit seinen Percussion Ensemblen.


    Aber zurück zu Coltrane: Auch in dem, was du über den Rhythmus von Coltrane und seiner Gruppe schreibst, stimme ich zu, und möchte noch ergänzen, dass ich es doch interessant und zum damaligen Zeitpunkt neu finde, wie Elvin Jones und Jimmy Garrison einen treibenden Druck als einer Art beständigem Flow herstellen, der zu dem zugleich expressiv wie intensiv "Schwebenden" in Coltranes Spiel gut passt. Und dann ist da ja noch McCoy Tyner. Der ist nun wirklich auch ein großer Rhythmiker mit seiner starken linken Hand und beständigen synkopischen Akzenten. Er sorgt für mich dafür, dass man nicht nur "Flow" hört, sondern auch immer wieder an den Puls der Jazz-Tradition erinnert wird, auch wenn der nicht mehr durchgespielt wird.


    Wenn ich jedoch einen beständigen Puls, der immer ausdifferenzierter wird, auch gelegentlich bis dahin ungewöhnliche Metrik verwendet, und trotzdem immer locker-leicht und häufig geradezu tänzerisch klingt, hören will, und das zu häufig geradezu melodie-seeligem Sax, trotz avancierter Improvisation, dann begeistert mich natürlich Rollins, wenn er mit adäquaten Sideman spielt.


    Sehr interessant finde ich auch im Vergleich Roy Haynes mit Coltrane zu hören. Natürlich ist auch er ein großartiger Drummer. Aber für das, was Coltrane in der Impulse-Phase bis 65 macht, finde ich Elvin Jones doch passender, eben einen energiereichen Flow und Teppich zu schaffen. Mit Garrison und Tyner geht das für mich auch ideal zusammen.


    :hello: Matthias

  • So, dann will ich für meinen ersten Beitrag ( :hello:) in diesen heiligen Hallen denn auch in die – nein, nicht Niederungen, sondern vielmehr erheblichen Tiefen des hauseigenen Jazzkellers hinabsteigen. Auch, wenn ich das Niveau der Spezialistendiskussionen hier ganz sicher nicht halten kann – allein schon, weil ich eben kein Spezialist bin. Bei Dingen wie dem „beständigen Flow“ ist bei mir lang schon Schluss.


    Jazz hat für mich den großen Vorteil, dass ich dort – anders als bei der „Klassik“ – über die Musik wie auch ihre Geschichte nichts wissen muss. Dass ich mir dadurch einen viel freieren, direkteren – man könnte auch sagen: naiven – Zugang erlauben kann. Was schert’s mich also, ob irgendetwas „stilbildend“, neu, instrumental hervorragend oder sonst was ist. Hauptsache, es spricht mich ganz persönlich an.


    Womit ich dann doch noch den Dreh zum eigentlichen Thread-Thema kriege. Denn in meinem kleinen, ganz persönlichen Jazz-Universum ist die Musik Coltranes der Fixstern. Das gilt sicher nicht für alle Aufnahmen, die ich gehört habe (die wiederum nur ein Bruchteil derer sind, die es insgesamt gibt). Die frühen Prestige-Platten finde ich beispielsweise – 'tschuldigung – eher langweilig. Die ganz späten, sehr freien ab „Ascension“ stellen mich als naiven Hörer dagegen vor erhebliche Schwierigkeiten. Faszinierende Klangwelten sicherlich, aber für mich ohne akustische Ankerpunkte. „Die tiefe Menschlichkeit, den Glauben und die Liebe“, die andere in diesem Thread in Coltranes Spätwerk finden können, suche ich derzeit noch vergebens…


    Es sind wohl vor allem die Impulse!-Scheiben bis einschließlich „A Love Supreme“, die ich nimmermehr missen möchte. Und das liegt in allererster Linie an Sir Johns Saxofon-Spiel. Coltranes Ton ist für mich als Laie eine Offenbarung. Als erstes fällt mir da immer wieder diese ans Herz hinan reichende Wärme auf, dieser einfach nur schöne Ton. Und dieser Ton bekommt für mich oft noch eine zusätzliche Dimension: Zusammen mit der Melodik und den Phrasierungen erzeugt Coltrane äußerst emotionale Klänge nahe an der menschlichen Stimme, die mir dann plötzlich auch „tief menschlich“ erscheinen. Als Beispiel sei nur die Ballade „Wise One“ von der oben schon abgebildeten „Crescent“ genannt. Ich wusste nicht, dass man auf einem Blasinstrument so weinen kann! Coltrane scheint einen direkt in die Seele schauen zu lassen.

  • Hallo Vox,


    erst einmal herzlich Willkommen im Forum - ein schöner erster Beitrag, den Du da verfasst hast! :yes:


    Nur eines möchte ich nicht ohne weiteres unterschreiben:


    Zitat

    Jazz hat für mich den großen Vorteil, dass ich dort – anders als bei der „Klassik“ – über die Musik wie auch ihre Geschichte nichts wissen muss. Dass ich mir dadurch einen viel freieren, direkteren – man könnte auch sagen: naiven – Zugang erlauben kann. Was schert’s mich also, ob irgendetwas „stilbildend“, neu, instrumental hervorragend oder sonst was ist. Hauptsache, es spricht mich ganz persönlich an.

    Ich denke, man kann klassische Musik genauso naiv und unbefangen hören und genießen. Ich behaupte sogar, daß man die deutsche Tiefe eines Brahms, die Subtilität und Ironie eines Debussy erfassen kann, ohne wissen zu müssen, 1.) wann die beiden Herren üeberhaupt gelebt haben und 2.) ob sie stilbildend waren oder nicht.
    Natürlich stellt sich ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn ein, wenn man von den Grundzügen der Musikgeschichte schon einmal etwas vernommen hat.
    Gleiches kann man aber auch für Jazz gelten lassen.


    :hello:
    Wulf

  • Zitat von Matthias Oberg

    Eine Bemerkung noch zum "Urvieh" Art Blakey: Das mag im Vergleich zum intellektuellen Spiel von Max Roach so erscheinen, aber sein Spiel war natürlich auch sehr durchdacht. Es ist ja Blakey, der als erster schon ab den 40ern immer wieder quer durch Afrika und den Nahen und Mittleren Osten reist, von daher viel mitbringt, in sein Spiel integriert und mit raffinierter Polyrhythmik beginnt, was dann Elvin Jones ausbaut.


    Immer langsam - das klingt mal wieder nach einer abgeschriebenen Behauptung einer schlecht recherchierten Story. Da verlasse ich mich lieber auf den Blakey-Experten Michael Fitzgerald:



    Zitat

    Africa


    "He is particularly keen to play dates on the African continent, preferably in Nigeria and throughout West Africa, where he spent some time in 1947. 'Of course, I'd get a tremendous kick out of taking the group to Africa,' he said smilingly. 'When I was there 10 years ago, I didn't play at all. Kind of like to make up for that now.'" - Art Blakey, quoted by John Tynan in Down Beat, October 17, 1957, p.15.


    "I didn't go to Africa to study drums - somebody wrote that - I went to Africa because there wasn't anything else for me to do. I couldn't get any gigs, and I had to work my way over on a boat. I went over there to study religion and philosophy. I didn't bother with the drums, I wasn't after that. I went over there to see what I could do about religion. When I was growing up I had no choice, I was just thrown into a church and told this is what I was going to be. I didn't want to be their Christian. I didn't like it. You could study politics in this country, but I didn't have access to the religions of the world. That's why I went to Africa. When I got back people got the idea I went there to learn about music." - Art Blakey, quoted by Herb Nolan in Down Beat, November 1979, p.20.


    Quelle

  • Hallo,


    es ist schön, dass nun auch die Rede vom Klang des Coltranespiels die Rede ist. Das ist und war auch für mich ein sehr wesentlicher Faktor.


    Allerdings ist für mein Empfinden der spezielle Coltrane-Klang bzw. seine diesbezügliche Spielweise nicht unbedingt das Nonplusultra des Saxophonspiels. Dadurch, dass Coltrane Mundstücke mit weiter Bahn und starke Blätter verwendete, konnte und musste er die Luft sehr pressen, so dass dieser hohe, schreiende Klang entstand. Ich mochte diesen Klang in meiner Jugendzeit ebenfalls sehr und wollte Coltrane blind folgen: Ich verkaufte mein zu mir sehr gut passendes Yamaha-Saxophon und erwarb ein weniger gutes Selmer (hat auch Coltrane gehabt, natüröich ein besseres Mark 6), kaufte ebenfalls das gleiche Mundstück wie Coltrane und spielte mit harten Blättern wie er. Wenngleich ich von der Klarinette her kam und einen verhältnismäßig festen Ansatz habe, klang es scheußlich. Ich musste erkennen: Ich bin nicht Coltrane und habe einen anderen Kiefer.


    Heute weiß ich, dass mir der lyrische Ton eines Lester Young u.a. näher liegt; aber mein Beispiel soll zeigen, dass auch mich Coltrane mit seinem emotionalen, schreienden und expressiven Spiel überaus fasziniert hat und immer noch fasziniert, und ich denke, dass diese Emotionalität allgemein sehr anspricht.


    Da Coltrane, eben weil sein Mundstück und Blatt glatte tiefe Töne kaum erlauben, meist in den hohen Registern zu finden ist, muss die Musik natürlich stets nach vorne getrieben werden. In den hohen Bereichen ist ein Innehalten kaum möglich - und wohl auch auch kaum beabsichtigt. Auch deshalb war ein Schlagzeuger wie Elvin Jones für Trane natürlich genau der richtige gewesen; mit ihm ging es immer nur nach vorne (Coltrane / Jones scheint mir ein ähnliches Symbiosepaar gewesen zu sein wie Mingus / Richmond).


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Vox „Die tiefe Menschlichkeit, den Glauben und die Liebe“, die andere in diesem Thread in Coltranes Spätwerk finden können, suche ich derzeit noch vergebens…


    Es sind wohl vor allem die Impulse!-Scheiben bis einschließlich „A Love Supreme“, die ich nimmermehr missen möchte. Und das liegt in allererster Linie an Sir Johns Saxofon-Spiel. Coltranes Ton ist für mich als Laie eine Offenbarung. Als erstes fällt mir da immer wieder diese ans Herz hinan reichende Wärme auf, dieser einfach nur schöne Ton. Und dieser Ton bekommt für mich oft noch eine zusätzliche Dimension: Zusammen mit der Melodik und den Phrasierungen erzeugt Coltrane äußerst emotionale Klänge nahe an der menschlichen Stimme, die mir dann plötzlich auch „tief menschlich“ erscheinen. Als Beispiel sei nur die Ballade „Wise One“ von der oben schon abgebildeten „Crescent“ genannt. Ich wusste nicht, dass man auf einem Blasinstrument so weinen kann! Coltrane scheint einen direkt in die Seele schauen zu lassen.


    Auch von mir ein herzliches Willkommen!


    Mit "Crescent" nennst Du ja eine der Platten, die seine Spiritualität ausdrücken, ich würde da beide Fassungen von "Meditations" und "Prayer and Meditation" auf der CD "Transition" dazustellen.


  • Die Kombination von Blatt, Mundstück und Embouchure ist eine sehr persönliche Sache, was beim einen funktioniert, klingt beim anderen überhaupt nicht. So habe ich z.B. vorletztes Jahr Benny Golson kennengelernt, und hinterher verrät mir der deutsche Saxophonist, der ihn eingeladen hatte, daß Golson von Rico speziell Blätter # 7 (!!!) angefertigt bekommt - kaum zu glauben ....
    Bei Coltrane kommt dazu, daß er vielleicht aufgrund seiner schlechten Zähne für ihn einfache Lösungen gesucht hat - ich bin gerade unterwegs und habe meine Blibliothek nicht zur Hand um das Jahr nachzuschlagen, aber erst eine seiner Ehefrauen hat ihn schließlich zum Zahnarzt geschleppt, der ihm alle Schneidezähne zog, die schwache Wurzeln hatten - er muß deshalb immer unter Schmerzen gespielt haben. Mit einer neuen Brücke ging es dann besser. Später Anfang 1960er hat er sich nach eigenem Bekunden durch Überarbeitenlassen sein bestes Mundstück ruiniert und lange nach einem guten Ersatz gesucht.


    Durch seine Zeiten bei Earl Bostic (einem fantastischen Techniker) und Johnny Hodges hat er natürlich hohe Ansprüche in Sachen guten Tons entwickelt ... den lyrischsten Sopran-Sound Coltanes habe ich auf "Living Space" gehört.

  • Zitat von Uwe Schoof

    Dadurch, dass Coltrane Mundstücke mit weiter Bahn und starke Blätter verwendete, konnte und musste er die Luft sehr pressen, so dass dieser hohe, schreiende Klang entstand.


    Lieber Uwe,


    meiner Erinnerung nach (die etwas löchrig sein kann...) hat Coltrane aber doch zu Lebzeiten immer und immer wieder mit Mundstück und Blättern experimentiert. Hatte nicht Miles Davis in seiner Autobiografie behauptet, dass Coltrane nach den Auftritten, wenn die anderen Musiker noch um die Häuser zogen, stets ins Hotelzimmer gegangen sei zum Üben und Experimentieren? Gut, das war Ende der 50er, möglicherweise hatte er sich später ja tatsächlich auf ein bestimmtes Blatt fest gelegt. Davis schrieb auch, dass Coltrane der lauteste Saxophonist war (oder besser: sein konnte), mit dem er je gespielt hätte. Glaubst du, dass das mit der Wahl des Blattes zusammenhängt? Und auch der Ton (du nanntest ihn "hoch und schreiend")?


    Nun ich bin kein Bläser, aber wird da dem Werkzeug nicht zuviel Bedeutung beigemessen im Verhältnis zum Ausübenden? Ähnliche Diskussionen gibt es ja auch immer wieder über die Stradivari. (Gab es da nicht einen Geiger - Heifetz oder Oistrach - der auf die Bemerkung hin, seine Stradivari klänge so schön, diese ans Ohr hielt und sagte: "Ich höre nichts..." ?) Ich glaube gerne, dass die Wahl der Mittel wichtig dafür ist, dass ein Musiker seine Klangvorstellungen umsetzen kann. Tonbildung bei Holzbläsern im Jazz ist aber sicherlich eine höchst komplexe Angelegenheit, bei der auch Muskulatur, Knochenbau des Schädels, Lungenvolumen, Lippen u.a. wichtige Faktoren sind. Wie sind denn da als Saxophonist deine Erfahrungen?


    @ Vox: Auch von mir ein herzliches Willkommen im Forum!!


    LG
    B.

  • Zitat von miguel54

    Bei Coltrane kommt dazu, daß er vielleicht aufgrund seiner schlechten Zähne für ihn einfache Lösungen gesucht hat - ich bin gerade unterwegs und habe meine Blibliothek nicht zur Hand um das Jahr nachzuschlagen, aber erst eine seiner Ehefrauen hat ihn schließlich zum Zahnarzt geschleppt, der ihm alle Schneidezähne zog, die schwache Wurzeln hatten - er muß deshalb immer unter Schmerzen gespielt haben. Mit einer neuen Brücke ging es dann besser. Später Anfang 1960er hat er sich nach eigenem Bekunden durch Überarbeitenlassen sein bestes Mundstück ruiniert und lange nach einem guten Ersatz gesucht.


    Ich habe gerade noch einmal kurz Davis' Autobiografie durchgeblättert. Dort schreibt er, dass er allen Ernstes glaubte, der besondere Ton Coltranes hätte etwas mit einer damals vorhandenen Zahnlücke zu tun gehabt und in Panik geriet, als Coltrane einen Zahnarztbesuch ankündigte. Nicht, dass dieser Ton dann verloren ginge.... Coltrane kam ohne Zahnlücke zurück und spielte genau wie zuvor.


    LG
    B.

  • Hallo,


    Zitat

    miguel54 schreibt: Die Kombination von Blatt, Mundstück und Embouchure ist eine sehr persönliche Sache, was beim einen funktioniert, klingt beim anderen überhaupt nicht. So habe ich z.B. vorletztes Jahr Benny Golson kennengelernt, und hinterher verrät mir der deutsche Saxophonist, der ihn eingeladen hatte, daß Golson von Rico speziell Blätter # 7 (!!!) angefertigt bekommt - kaum zu glauben ....


    In der Tat, das Spielen mit 7er-Blättern kann ich mir kaum vorstellen, aber es ist in der Tat eine sehr persönliche Sache und abhängig von der biologischen Voraussetzungen jedes Bläsers (für die Nicht-Bläser: das am Mundstück befestigte feine Holzblatt schwingt beim Hineinblasen und erzeugt den Ton; ein dünnes Blatt schwingt schneller und benötigt weniger Kraftaufwand als ein dickes und starkes Blatt; ebenso wichtig ist das Mundstück: dort wird z.B. der Abstand zum Blatt definiert, wobei ein großer Abstand natürlich höhere Kraftaufwand- und Klangeigenschaften hat wie ein geringerer Abstand; auch die Länge von Mundstück und Blatt ist wichtig und beeinflusst den Ton).


    Somit ist die Beschaffenheit des Blattes enorm wichtig, und ich meine, dass Deine Frage, Barbirolli,

    Zitat

    Nun ich bin kein Bläser, aber wird da dem Werkzeug nicht zuviel Bedeutung beigemessen im Verhältnis zum Ausübenden

    aufgrund der Sensibilität des Materials in Richtung mit nein beantwortet werden muss. Ich kenne kaum einen Bläserkollegen, der nicht dauernd am herumprobieren und schnibbeln ist, und es gibt viele Gespräche, die sich um Blätter und Mundstücke drehen. Bei den Oboisten und Fagottisten spielen die Doppelrohrblätter eine nicht minder große Rolle. Der beste Musiker wird mit einem schlechten Blatt ebenso schlecht aussehen und klingen.


    Die Lautstärke ist sehr von Mundstück und besonders Blatt abhängig, aber natürlich auch von Lunge, Mundmuskel und Intention der Bläser selbst. Was die Zahnbeschaffenheit Coltranes angeht, weiß ich leider nichts Konkretes. Ich habe ebenfalls lediglich gehört, dass er massive Zahnprobleme hatte, kann dem allerdings nicht allzu großen Einfluss beimessen. "Sein" Ton und "seine" Spielweise, damit auch die Wahl seiner Werkzeuge, ist, davon bin ich überzeugt, hauptsächlich das Produkt seiner inneren Verfassung und seinem Gestaltungswillen.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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