Unfreiwillig hat die nationalsozialistische Vertreibungspolitik die Gründung einer Plattenfirma ermöglicht, die wie wohl kaum eine andere als Synonym für Jazz-Platten gilt. Die zumindest von 1955 bis etwa 1965 eine ganze Ära geprägt hat, deren Cover-Art weltberühmt und stilbildend wurde, die einen unerschöpflichen Pool an jungen Talenten zu Stars machte und es zu einem eigenen Kino-Dokumentarfilm gebracht hat. Die Rede ist von Blue Note.
1936 emigrierte der Berliner Jude Alfred Löw zunächst nach Südamerika, landete aber schon bald in New York, wo er zu Alfred Lion werden sollte. Hier war er "seiner" Jazz-Musik, der er seit seinen Jugendjahren in Berlin verfallen war, so nahe wie nirgendwo sonst. Nach einem Konzert der beiden Boogie-Pianisten Albert Ammons und Meade "Lux" Lewis holte er die beiden im Januar 1939 in ein Studio und produzierte seine erste Aufnahme. Kurze Zeit später hatte er mit Sidney Bechet einen weiteren dicken Fisch am Haken. Die nachfolgenden Probleme der jungen Firma aufzulisten, gerade in der Kriegszeit, würden jetzt den Rahmen sprengen.
1939 folgte Lion auch sein Berliner Freund Francis Wolff nach New York, Fotograf, auch er ein Jazz-Enthusiast. Seine Bilder sollten nun die Cover des Labels zieren, aufbereitet vom Grafiker Reid Miles. Der daraus resultierende Blue Note-Look wurde Legende, lediglich Impulse gelang in den 60er Jahren ein ähnlich ambitionierter und homogener Design-Auftritt. Fünfter wichtiger Mann im Bunde wurde Rudy van Gelder, jener legendäre Aufnahmeleiter, der als Toningenieur fortan den Blue Note-Sound prägen sollte. Und schließlich gab es noch Ike Quebec, selber Musiker, der für Lion so etwas wie ein Talentspäher war (später nannte man das wohl A & R Manager...). Eine ziemliche Ungeheuerlichkeit, damals einen Afro-Amerikaner auf solch eine Position zu setzen!
Im Bebop der 40er Jahre war Blue Note noch nicht das stilprägende Label, bot den damaligen "jungen Wilden" aber Möglichkeiten zum Aufnahmedebüt. Pianist Tadd Dameron gehörte dazu, aber auch Trompeter Clifford Brown. Geld zu verdienen war mit dem modernen Jazz erstmal eher weniger. Die Umstellung auf die LP wurde zunächst ebenfalls zum Problem. Doch genau damit begann ab 1954 dann doch die Erfolgsstory der Firma. Die technischen Voraussetzungen waren da, man hatte viele aufstrebende Musiker an der Hand, die Idee eines wirklichen Konzeptes und mit Alfred Lion einen Vater der Kompanie, der das was er tat und die Musiker, die er betreute, leidenschaftlich liebte.
Bebop und Cool Jazz waren entstanden, nun formten zum Teil die selben Musiker die stilistische Ausprägung des Hardbop. Das war Bebop ohne die rasende Nervosität, wieder mit mehr Bezug zu den Wurzeln Gospel und Blues. Der Begriff "funky" entstand in diesem Kontext. Mit Art Blakey & The Jazz Messengers und der Combo von Horace Silver hatte Blue Note die Trendsetter jener Zeit an der Hand. In ihrem Windschatten ging dann gehörig die Post ab: Joe Henderson, Donald Byrd, Lee Morgan, Wayne Shorter, Hank Mobley, Grant Green, Freddie Hubbard, Herbie Hancock oder Jimmy Smith machten Blue Note zum damals gefragtesten und heißesten Jazzlabel überhaupt.
In den 60ern öffnete man sich auch durchaus den neuen, freieren Formen. Ornette Coleman oder Don Cherry nahmen für Blue Note auf, allerdings waren in diesem Segment auch schon andere zur Stelle. Alfred Lions Epoche scheint das zumindest nicht mehr gewesen zu sein: Er verkaufte Blue Note 1966 an Liberty Records. Auch Frank Wolff zog sich später zurück, Anfang der 70er Jahre war es dann endgültig um Blue Note geschehen. Bis Michael Cuscuna 1985, nach jahrelangen Versuchen, das altehrwürdige Label unter dem Dach der EMI wieder aus der Taufe hob. Der Schatz, den die Firma besaß, war Gold wert: Der Fundus an Wiederveröffentlichungen war enorm, die aufkeimende Acid-Jazz-Szene orientierte sich größtenteils am Blue-Note-Sound. Es wurden wieder junge aufstrebende Musiker unter Vertrag genommen, z.B. die Sängerinnen Dianne Reeves und Cassandra Wilson, die Saxophonisten Joe Lovano und Greg Osby oder Pianist Michel Petrucciani. Die künstlerische Homogenität war nicht mehr ganz die gleiche wie in der früheren Ära. Das mag angesichts des veränderten Marktes und der gleichzeitig nebeneinander existierenden Pluralität der Stile auch nicht mehr möglich gewesen sein.
Wie nun aber Highlights aus dem Blue Note-Katalog aufführen, ohne sich dem Vorwurf des Weglassens bedeutender Schallplatten auszusetzen? Unmöglich, sage ich! Es sei denn, ich habe vier Wochen frei und 5 fünf vertikale Kilometer Platz für diesen Eingangsbeitrag... Daher beschränke ich mich, wie schon im Coltrane-Thread, auf persönlich favorisierte Aufnahmen, in der Hoffnung, dass man mir beim Ergänzen zur Seite steht.
Ich beginne mal mit den beiden prägenden Aushängeschildern. Der erste ist ART BLAKEY, Urgewalt am Schlagzeug, der vom Bebop kommt, sich mit afrikanischer Rhythmik aber auch intensiv beschäftigt hat. Er organisierte im New Yorker Club Birdland Percussionsabende mit mehreren Schlagzeugern, auch diese auf Blue Note erschienen. Seine Band, die Jazz Messengers, wurden wohl zur zweitgrößten Talentschmiede (nach Miles Davis' Gruppen) der Jazzgeschichte. Ein ganzes Heer an Trompetern, Saxophonisten oder Pianisten verdiente sich bei ihm die ersten Sporen, um dann - teilweise auch bei Blue Note - selbst durchzustarten. Dies galt übrigens bis in die 80er Jahre, z. B. für die Gebrüder Marsalis. Kleines (nicht ganz falsches) Schlagzeug-Klischee: Spielt man mal einen langgezogenen Crescendo-Wirbel, der schließlich krachend auf der 1 landet, erntet man leicht ein Grinsen der Mitmusiker: Er nun wieder: Macht uns hier den Blakey....
Bei den Platten wähle ich mit der Notwendigkeit der Verkürzung Art Blakey And The Jazz Messengers (1958 ), allein wegen der Kracher "Moanin'" und "Blues March", die bis zum Ende zwei seiner markantesten und immer wieder gespielten Stück bleiben sollten. Nennen muss ich auch Roots & Herbs (1961), weil darauf mit "Ping Pong" ein Stück ist, das ich in meiner Jugend selber immer wieder wahnsinnig gerne gespielt habe. Interessant zu nennen sind auch die Aufnahmen A Night in Birdland (1954), weil diese noch stark von Bebop geprägt sind, teilweise aber auch schon neuartig klingen.
Als zweites dann HORACE SILVER: Dieser wunderbare Pianist mit der Pomade im Haar ist der Inbegriff des Soul-Jazz und Funk, lange bevor letzterer Begriff im Rock Einzug hielt. In seiner Band groovt und schnauft der Jazz schwergesättigt vom Blues und Gospel durch etwas avanciertere Arrangements und Rhythmen als bei Blakey. Auch seine Combo ist ein Pool, dem viele spätere Stars entsteigen sollte. Bei den Platten besteht auch hier die Qual der Wahl. Nennen muss ich Song For My Father (1964) mit dem gleichnamigen berühmten Titelstück, Blowin' The Blues Away (1959), von der es der Track Peace zu einem immer währenden Standard gebracht hat. Und schließlich noch The Stylings of Silver (1957).
JOE HENDERSON muss ich nennen, weil ich ja schon in einem anderen Thread berichtete, dass er der Jazzmusiker war, von dem ich meine allererste Platte besaß. Er war ein Saxophonist mit einem erstaunlichen Tenor-Sound, der luftig und samtweich schmeicheln, aber auch bedrohlich zupacken konnte. Nach seinen Blue Note-Jahren eher unter Wert gelaufen, gelang ihm in höherem Alter eines der erstaunlichsten Comebacks. In den 90ern gewann er vom Grammy über die Down Beat-Polls so ziemlich alles, was man gewinnen kann, machte wunderbare Projekt-orientierte Aufnahmen (Tribute an Billy Strayhorn, Miles Davis und George Gershwin) und tourte mit der Creme der jüngeren Generation um die ganze Welt. Ich hatte das Glück, mit ihm nach einem Konzert mal ein Bier zu trinken (ich Bier, er Tee) und denke noch heute an seine freundliche, ruhige Art und seine gewaltigen Brillengläser zurück.
Aufnahmen: Our Thing (1963), Page One (1963) mit dem wunderbaren "Recorda Me" und In 'n Out (1964),
Einer der größten Erzähler auf dem Tenorsaxophon, rau, kantig und von unendlichem Einfallsreichtum, war DEXTER GORDON. Er war wohl einer der coolsten, hipsten Löwen der Szene, ein baumlanger Schlaks mit großem Temperament und weichem Kern. Beide Seiten sind stets hörbar. Lange Zeit lebte er, wie viele Kollegen, in Europa. Besonders seine Zeit in Kopenhagen, dort vor allem im leider nicht mehr existierenden Club Montmartre, ist berühmt. Fast logisch, dass er 1986 im Jazz-Film "Round Midnight" die fiktive Rolle eines amerikanischen Jazzmusikers in Paris spielte, die auf den Lebensgeschichten von Lester Young und Bud Powell beruhte. Dafür gab es gar eine Oscar-Nominierung als bester Hauptdarsteller...
Platten, die ich nennen möchte: Doin' Alright (1961), Go (1962) und One Flight Up (1964). Auf der letztgenannten spielt er das Stück "Tanya". Ich habe eine Live-Aufnahme davon, die er 1979 mit seinem damaligen fantastischen Quartett einspielte. Dort spielt Dexter Gordon eines der aufregendsten Saxophonsoli, das ich je gehört habe.
WAYNE SHORTER ist ein weiterer großer Tenorsaxophonist (nicht zu vergessen, dass er auch am Sopran einer der Größten ist) der Blue Note-Ära. Shorter ist ein typischer "Musician's Musician", ein Musiker also, der vor allem im Kollegenkreis höchste Anerkennung genießt, vielleicht sogar mehr, als ihm vom Publikum zuteil wurde. Im Miles Davis Quintett der 60er Jahre und später mit Weather Report brachte er es aber schon zu beträchtlicher Bekanntheit und Ruhm. Auch in den letzten Jahren ist er mit jungen Bands äußerst aktiv und wirkte an vielen Platten von Joni Mitchell mit. Neben seinen Errungenschaften am Instrument ist er einer der herausragenden Komponisten des Jazz.
Platten: Juju (1964), Speak No Evil (1964) und Adam's Apple (1966), die mit "Footprints" eines meiner Lieblingsstücke enthält.
Nach Horace Silver noch einmal zurück ans Klavier: HERBIE HANCOCK war nicht weit entfernt von Wayne Shorter, spielte mit ihm bei Miles Davis und wählte ihn auch für eigene Einspielungen. Über ihn angemessen zu schreiben würde hier den Rahmen bei weitem sprengen: Aufstrebender Pianist in den 60ern, Übergang zu elektrischen Instrumenten, kommerzieller Superstar in den 70ern und 80ern, ständiger Grenzgänger zwischen großer Kunst und ebenso großem Kommerz. Seit Jahren nahezu unantastbar als möglicherweise größter, bekanntester und erfolgreichster lebender Jazzmusiker.
Hier jetzt also nur ein paar Worte zu seiner Blue Note-Zeit: Takin' Off (1962) enthält den Smash-Hit "Watermelon Man" (Dabei ist der gar nicht von Hancock, sondern von Mongo Santamaria). Empyrean Isles (1964) ist eine Aufnahme der Miles Davis Band minus Trompete und ein tolles Beispiel der gelungenen späteren Auhnahmen Blues Notes, die den Grenzgang vom Hardbop über modalen Jazz in freie Spielformen dokumentieren. Maiden Voyage (1965) ist eine von zehn Platten, die ich mit auf eine einsame Insel nähme. Mit dem Titelstück und "Dolphin Dance" enthält sie zwei meiner Lieblingskompositionen des Jazz. Und wie Trompeter Freddie Hubbard in sein Solo im zweitgenannten Stück einsteigt, ist ein Moment für die Ewigkeit!
A propos Hubbard: Der wäre jetzt auch dran, gefolgt von Jimmy Smith und Lee Morgan. Jackie McLean müsste folgen und auch Gitarrist Grant Green. Und und und....
Dann würde ich diesen Beitrag aber erst in einigen Wochen einstellen können. Alles weitere später, hoffentlich auch durch andere Blue Note-Begeisterte im Forum.
LG
B.