Diesen Beitrag muss ich mit meinem Großvater beginnen. Er war Maurer in einer kleinen Stadt im Herzen Ostfrieslands. Als Kind verbrachte ich oft meine Ferien bei meinen Großeltern. Wenn mein Großvater von der Arbeit kam, erschöpft und nach feuchtem Mörtel riechend, krabbelte ich auf seinen Schoß und fragte ihn, was er denn am Tag so alles gebaut habe. Er hielt mich fest mit seinen großen, geschundenen Pranken und erzählte mir von seiner mühseligen Arbeit. Mit großen Augen hörte ich zu. Er war mein Held.
Charlie Haden ist ein 1937 in Iowa geborener Jazz-Bassist. Nicht der größte Techniker. Keiner, der mit virtuosem Aberwitz den Atem rauben oder solistisch nachhaltig beeindrucken kann. Aber ein Bassist, bei dem man sich fühlen kann, wie auf Großvaters Schoß: Geborgen, gut aufgehoben, den unspektakulären, einfachen, aber nachhaltig wirkenden Geschichten lauschend, umfangen von einer sonoren, stets verlässlichen tiefen Stimme. Hadens Können erschließt sich womöglich nicht beim ersten oberflächlichen Hören, wenngleich er auf seinem Kontrabass, der mit Naturdarmsaiten bezogen ist, einen höchst individuellen Klang besitzt. Die Behändigkeit eines Dave Holland oder Gary Peacok ist seine Sache wahrlich nicht. Haden schafft aber das kleine Wunder, seinem Instrument die Schwerfälligkeit zu gestatten, um es im nächsten Moment wieder luftig klingen zu lassen.
Charlie Hadens musikalischer Hintergrund war zunächst durch die Country-Musik geprägt. Mit 19 kam er zum Jazz, zog nach Los Angeles, schlug sich mit Jobs durch und bekam erste Anstellungen etwa bei Art Pepper und Paul Bley. Ab 1959 wurde er der Bassist Ornette Colemans, nahm mit ihm unter anderem das wegweisende Album "Free Jazz" auf. Nunmehr in New York angekommen, engagierten ihn Musiker wie Joe Henderson, Gato Barbieri oder Carla Bley. Ab 1968 spielte er mit Keith Jarrett, der neben seinen europäischen Tätigkeiten bei ECM eben auch bei Impulse mit Charlie Haden sowie dem Saxophonisten Dewey Redman und dem Schlagzeuger Paul Motian arbeitete.
Nennen möchte ich im folgenden Aufnahmen, die er ab den späten 60er Jahren unter eigenem Namen gemacht hat. Parallel zu diesen hat er selbstverständlich in kaum übersehbarer Zahl mit anderen Musikern gearbeitet und Platten aufgenommen. Ich beschränke mich erstmal der Einfachheit halber auf drei Komplexe, die ich in seinem Wirken für wichtig halte.
Der erste davon ist sein Charlie Haden Liberation Music Orchestra, dessen Entstehen eine Folge seiner Zusammenarbeit mit Carla Bley war. Die Pianistin schrieb größtenteils die Arrangements für diese mittelgroße Big Band, mit der Charlie Haden seiner politischen Haltung und seinem Engagement einen musikalischen Ausdruck geben wollte. Interessant dabei ist, dass er dieses große Ensemble zu verschiedenen Zeiten aktivierte (natürlich dann auch in verschiedenen Besetzungen), um zu den jeweils relevanten gesellschaftspolitischen Themen Stellung zu beziehen. 1968, die Entstehungszeit von Liberation Music Orchestra (Impulse) stand ganz im Zeichen der Unterstützung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der Ablehnung des Krieges in Vietnam. 1990 beschäftigte er sich mit seiner großen Formation auf Dream Keeper größtenteils mit der Apartheid in Südafrika, nicht ohne auch mit gospel-beeinflusster Musik weiterhin auf die Missstände in den USA hinzuweisen. Das Stück "Spiritual" mit grandiosen Soli von Posaunist Ray Anderson und Saxophonist Branford Marsalis ist ein beeindruckendes Zeugnis dieser Anklage. 2005 dann eine erneute Zusammenkunft des Liberation Music Orchestra: Jetzt hatte Charlie Haden von der Politik George W. Bushs die Faxen dicke und rechnete mit dem Album Not In Our Name mit dessen Wirken ab. Und zwar insofern, als dass er sich die uramerikanischen Hymnen wie "Amazing Grace" oder "America the Beautiful" zurückholte aus dem Lager der Rechten. Eine Bläserversion von Samuel Barbers "Adagio for Strings" findet sich übrigens auch auf dieser CD.
Als zweiten Komplex möchte ich die nostalgisch anmutende Aufarbeitung seiner jungen Jahre in Los Angeles erwähnen. Er hatte sich damals als Aushilfskraft ein paar Dollars in den Studios der Traumfabrik Hollywoods verdient , hatte den relaxten West Coast Jazz von Lennie Tristano, Chet Baker und anderen erlebt. Mit seinem Quartet West, bestehend aus Ernie Watts (ts), Alan Broadbent (p), Charlie Haden (b) und Billy Higgins (später Larance Marable) (dr) schuf er eine Formation, die diesen alten Träumen wieder Ausdruck verleihen sollte. Die CDs wurden zu atmosphärischen Sound-Gemälden eines längst vergangenen Kaliforniens. Das Quartett erzählte musikalische Kurzgeschichten Raymons Chandlers und Jack Kerouacs, streute später Original-Zitate Humphrey Bogarts, Chet Bakers, Jo Staffords oder Coleman Hawkins in Form von Sound-Schnipseln in seine Musik ein. Die Gefahr, die Grenze zum Kitsch zu erreichen, war beileibe sehr nahe, aber Haden widerstand ihr. Besonders erstaunlich, wie Ernie Watts, einer der abgebrühtesten Studio-Musiker, hier so beseelt bläst, wie selten zuvor. Das Konzept dieser Alben lief sich irgendwann tot, Charlie Haden war aber auch schlau genug, es nach etwa einem halben Dutzend CDs gut sein zu lassen.
Anraten möchte ich In Angel City (1988 ), Haunted Heart (1991) und Always Say Goodbye (1993)
Die Folgejahre waren bestimmt durch immer wieder neue und wechselnde Projekte, in denen sich Haden besonders in kleinen Besetzungen und Duetten beweisen wollte. Beyond the Missouri Sky (1997) mit Pat Metheny, mit dem er schon seit vielen Jahren immer wieder gearbeitet hatte, war sicherlich das berühmteste und erfolgreichste davon: Es ist die bestverkaufte Jazz-CD der 90er Jahre in Deutschland. Night and the City (1996) mit Pianist Kenny Barron, Alone Together (1996) mit Lee Konitz und Brad Mehldau sowie Land of the Sun (2003) mit Gonzalo Rubalcaba sind weitere schöne Beispiele.
LG
B.