Schmälert geringer Einfluss die Größe eines Komponisten?

  • Eben habe ich es von Edwin als (natürlich polemisches) Argument pro Debussy contra Nono gelesen.
    In einem anderen Forum gab es aber eine interessante Diskussion darüber, ob Prokofjew oder Strawinski der größere Komponist gewesen sei, wobei sich die Strawinski-Anhänger darauf beriefen, dass dieser einen immensen Einfluss auf die spätere Musikgeschichte hatte, wogegen man Prokofjew aus der Geschichte herausnehmen könnte, ohne dass sich viel ändern würde. Die Prokofjew-Jünger konterten, dass ein Werk nur seiner selbst wegen großartig genug sein könne, ohne dass seine Größe dadurch geschmälert würde, dass niemand daran anknüpfte.


    Ich stellte mich (erwartungsgemäß 8) ) auf diese Seite, denn ich sehe in großem Einfluss auf andere Komponisten kein schlagendes Argument: erstens hätte die Musikgeschichte ja auch ganz anders verlaufen können, wenn die nachfolgenden Komponisten anders gewesen wären. Vielleicht hätte es jemandem mit dem gleichen Talent und ähnlicher Ästhetik wie Prokofjew gegeben, der ein großer Komponist geworden wäre, und Prokofjew hätte großen Einfluss gezeigt. Aber den gab es nun mal nicht (?). Kann Prokofjew etwas dafür? Natürlich nicht.
    Zweitens kommt es ja immer darauf an, in welche Zeit man geboren ist und welche Richtung man einschlägt. Manche gingen eben Wege "nur halb" (mal polemisch formuliert), so dass andere anknüpfen konnten, andere vollendeten und perfektionierten Gegebenes oder hörten einfach nur ganz auf sich selbst und ihren Personalstil, so dass gar nicht die Möglichkeit blieb, noch etwas hinzuzufügen. Aber was ist nun größer? Das Perfektionieren von Bekanntem (z. B. Brahms) oder das Einschlagen neuer Wege (z. B. Liszt)?
    Ist der Sacre "großartiger" als Romeo und Julia, weil er das revolutionärere und einflussreicherere Balett war?


    Ich bin gespannt auf eure Gedanken zu diesem Thema. ;)

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Ich würde sagen: Nein.
    Der Einfluß kann sich mit der veränderten Einschätzung in einer späteren Zeit verringern oder vergrößern, aber von solchen Einflüssen des Zeitgeschmacks sollte man sich versuchen zu befreien.

  • Ich meine, "Größe" kann man auf vielerlei Art erringen - zudem ist "Größe" zeitbedingt und modeabhängig und somit vergänglich.


    Was ist damit gemeint ?


    Viele "Größen " des 19. Jahrhundert sind heute nicht nur vergessen, sonder teilweise sogar verpönt. Zu Lebzeiten waren sie "Kritikerpäpste" oder Vorstand irgendwelcher Akademien der Künste etc etc.


    Ich meine, ein Komponist KANN Größe erreichen , wenn er eine neue Richtung begründet (man könnte ein Jahrhundert später darüber diskutieren, ob diese Richtung ein Irrweg war - oder nicht)


    ABER er kann sie meines Erachtens auch erreichen, wenn für seine Zeit prägend ist - und wenn NIEMAND seine Schule fortsetzt.


    Unser heutiges - leider von Amerika geprägtes Wertesystem - hat alte Werte über Bord geworfen und durch andere - meiner Meinung nach falsche - ersetzt.


    Waren früher Schönklang und Virtuosität gefragt und bewundert - so legt man heute absoluten Wert auf "Originalität.


    Man könnte beispielsweise aber auch die Frage stellen:


    Welche Werke der Musikgeschichte sind schwerer, bzw leichter verzichtbar ??? - Also nicht den Einfluß des Komponisten auf folgende Generationen in Betracht ziehen - sondern allein, wie wichtig eine Komposiition als solche ist.....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von rappy
    Eben habe ich es von Edwin als (natürlich polemisches) Argument pro Debussy contra Nono gelesen.


    Das war bloß kein pro/contra-Argument und auch nicht sonderlich polemisch, es war ein (vielleicht etwas überspitzter) Vergleich.


    Zitat


    Ich stellte mich (erwartungsgemäß 8) ) auf diese Seite, denn ich sehe in großem Einfluss auf andere Komponisten kein schlagendes Argument: erstens hätte die Musikgeschichte ja auch ganz anders verlaufen können, wenn die nachfolgenden Komponisten anders gewesen wären. Vielleicht hätte es jemandem mit dem gleichen Talent und ähnlicher Ästhetik wie Prokofjew gegeben, der ein großer Komponist geworden wäre, und Prokofjew hätte großen Einfluss gezeigt. Aber den gab es nun mal nicht (?). Kann Prokofjew etwas dafür? Natürlich nicht.


    Nun, hätte könnte sollte - hat es aber nicht. Musikgeschichte ist eben genau so verlaufen, wie sie verlaufen ist.
    Daß die einem Komponisten zugeschriebene Größe nicht allein (oder nicht immer) auf dessen Bedeutung für die musikhistorische Entwicklung fußt, bedeutet IMO nicht, daß letztere kein schlagendes Argument für "Größe" ist.
    Denn einem Komponisten einen hohen Stellenwert einzuräumen, der eine wichtige Stellung im Rad der Geschichte hatte, bedeutet, diejenigen Komponisten, die sich auf eben diesen Komponisten berufen bzw. sich von diesem beeinflussen lassen, ERNST zu nehmen. Ich denke, das sollte man bei einer solchen Erörterung auch einmal bedenken.
    Ob nun der "Sacre" oder "Romeo und Julia" das "qualitativ bessere" Ballett ist, hängt viel von der eigenen Positionierung ab und ist (Amfortas wird das gar nicht gerne lesen) doch deutlich subjektiv geprägt. Daß der "Sacre" aber musikgeschichtlich das bedeutendere Ballett ist, ist weit weniger subjektiv und manifestiert sich in den mannigfaltigen Einflüssen, die es bis in unsere heutige zu spüren sind.


    Zitat


    Das Perfektionieren von Bekanntem (z. B. Brahms) oder das Einschlagen neuer Wege (z. B. Liszt)?



    Nun, ich bin kein Brahms-Experte, aber ich habe auch schon hier desöfteren gelesen, daß der Spätstil alles andere als Perfektion von Bekanntem ist. Nicht zu vergessen, blieb Brahms nicht ohne Einfluss. Die Enwtwicklung aus der Keimzelle, das Einbringen von "braunen Orchestertönen" (weiß nicht mehr, welcher Dirigent das gesagt hat) - das sind doch deutliche Neuerungen.


    :hello:
    Wulf

  • Zitat

    Original von Wulf
    ...das Einbringen von "braunen Orchestertönen" ...


    Nicht mit dem berüchtigten "Braunen Ton" zu verwechseln!
    (Wikipedia: "The brown note, according to an urban legend, is an infrasound frequency that causes humans to lose control of their bowels due to resonance. There is no scientific evidence to support the claim that a "brown note" (transmitted through sound waves in air) exists.")

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  • Man kann ja behaupten, dass Johann Sebastian Bach letztendlich keinen Einfluss auf etwaige Nachfolger hatte, da er einen Musikstil zu einem krönenden Abschluss gebracht hat. Möglicherweise hat das seine Größe unmittelbar nach seinem Ableben geschmälert, aber das wurde ja dann doch recht bald zurechtgerückt...


    Ich denke, der Einfluss kann ein Kriterium sein, wenn er vorhanden ist. Aus seinem Nichtvorhandensein kann ich aber keinen Nachteil kreieren....

  • Man muß hier ein bißchen aufpassen: Sollen wir einen Komponisten bedeutend nennen, weil er großen Einfluß hatte, oder hatte er großen Einfluß, weil er bedeutend war? ;)
    Ich tendiere klar zur zweiten Lesart. Der Einfluß ist ein Indiz für die Bedeutung, aber diese die Ursache für den Einfluß.


    Man kann nicht so tun, als sei Einfluß etwas komplett äußerliches oder zufälliges, besonders wenn es nicht um vorübergehende Publicity, sondern um nachweisbaren Eiinfluß auf andere Komponisten geht. Und auch wenn es gewiß, besonders in "Umbruchzeiten" gibt, sehr einflußreiche Künstler geben kann, die wir nachträglich vielleicht nicht zu den ganz großen rechnen (oft äußerlich erkennbar an Sammelnamen wie "Mannheimer Schule", "Mächtiges Häuflein" usw.), so ist doch in vielen Fällen klar, daß der Einfluß eine Folge der als vorbildlich, außerordentlich, umwälzend usw. erfahrenen Werke gewesen ist.


    Dabei kann offenbar auch ein Komponist wie Bach, der eher als "Vollender" denn als Neuerer auftrat, als Vorbild sehr einflußreich sein. Ähnliches gilt, wenngleich in geringerem Maße, wohl auch für Brahms (zusätzlich zu dem "Brahms-the-Progressive"-Aspekt).
    Wobei man wieder unterscheiden könnte oder müßte zwischen dem Einfluß auf dutzende oder hunderte heute vergessener Epigonen und dem auf solche Komponisten, die wir ihrerseits wieder als bedeutend sehen. Also Beethovens Einfluß auf Ries (sorry, nix gegen den, aber mir fällt grade niemand anderes ein) oder der auf Berlioz und Wagner.


    Zurück zum Ausgangspunkt scheint mir (wobei ich Prokofieff vielleicht unrecht tue) der Fall doch ziemlich klar zu sein. Le Sacre ist nicht bedeutend, weil es solchen Einfluß hatte (u.a. auf Prokofieffs Skythische Suite), sondern es gilt als Schlüsselwerk des 20. Jhds. und hatte derartigen Einfluß weil es ein außerordentliches Werk ist. Gewiß hat Prokofieff auch viele sehr gute Werke komponiert und es streitet wohl kaum jemand ab, daß er ein großer Komponist war (und es dürfte sich auch sein Einfluß nachweisen lassen). Aber Strawinsky ist doch noch eine andere Liga. Und deshalb hatte er solche Wirkung, nicht umgekehrt.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Für einen juristisch (um nicht zu sagen wissenschaftlich) geschulten Geist ist es nicht schön zu sehen, wie hier die Begriffe durcheinander geworfen werden. Selbst JR verwendet unhinterfragt den Begriff Bedeutung anstelle von Größe.


    Folgender Vorschlag: Wir definieren den Begriff: Größe eines Komponisten.


    Dazu müssen wir zunächst fragen, welche Merkmale für die Größe eines Komponisten relevant sind. Dann müssen wir fragen, ob es Kriterien gibt, die erfüllt sein müssen, um von einem großen Komponisten sprechen zu können.


    Wir werden womöglich erkennen, dass es keine zwingenden Kriterien gibt, sondern viele, welche die Größe eines Komponisten ausmachen können. Wir werden uns womöglich fragen, ob es eine Mindestzahl von Kriterien gibt, die erfüllt sein müssen, wobei es egal sein könnte, welche.


    Womöglich kommen wir zum Ergebnis, dass der Einfluss eines Komponisten (Worauf übrigens? Auf andere Komponisten, auf das gesamte Publikum? Viellleicht so: Komponist xy hatte großen Einfluss, denn er gehörte zum Führungspersonal der Reichsmusikkammer, also war er ein großer Komponist) ein Kriterium ist, dass Größe ausmachen kann, dass das Fehlen eines Komponisten nicht zur Negierung der Eigenschaft Größe führt.


    Dann könnte die Antwort auf Rappys Frage lauten: Der geringe Einfluss eines Komponisten schmälert die Größe eines Komponisten nicht, wenn eine hinreichende Zahl anderer Kriterien, die für den Begriff Größe eines Komponisten relevant sind, erfüllt sind.


    Zur Suche nach den Kriterien verweise ich auf den berühmten Genie-Thread, in dem sich Loge der mühsamen Aufgabe unterzogen hat, solche zusammenzutragen, man ersetze nur Größe durch Genie.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Rein logisch betrachtet ist auch Nicht-Einfluß eine Art Einfluß ... wenn sich dem Einfluß verweigert wird z.B. - insofern hatte Brahms auch auf die Neudeutschen Einfluß und ungekehrt.
    "Größe" ist für mein Empfinden das falsche Kriterium. Qualität gibt es auch jenseits von erkennbarem Einfluß. "Größe" ist wieder so ein Begriff aus der Genienverehrung des späten 19. Jahrhunderts - sind wir immer noch nicht frei von den Abwegen der Kunstbetrachtung jener Zeit?

  • Was die Bedeutung eines Komponisten für die Nachwelt als ein Kriterium von "Größe" angeht: Sicher ist der Einfluß auf nachfolgende Komponistengenerationen ein wichtiges Indiz, etwa bei Beethoven, mit dessen Symphonien sich jeder auseinandersetzen mußte, wer im 19. Jahrhundert selbst Symphonien schrieb. Allerdings ist "Einfluß" auch relativ und historischen Veränderungen unterworfen: Wer etwa könnte auf dem Stand von 1800 Gesualdo nachweisbaren Einfluß zusprechen? Ganz anders ab 1900, als das Auf-die-Spitze-Treiben harmonischer Prozesse Gesualdo wieder aktuell machte.


    Vielleicht werden in 50 Jahren Komponisten des 20. Jahrhunderts als höchst einfluß- und folgenreich angesehen, an die heute niemand denkt. Und Prokofieffs "Romeo und Julia" wird dann womöglich als einflußreicher eingestuft als Strawinskys "Sacre"?

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  • Ich fühle mich ja auch besonders wohl, wenn die "Größe", das "Genie", die "Bedeutung", die "Qualität", das "Göttliche" oder (bei unserem Mitglied amfortas) "das Fetzige" eines Komponisten durch seinen Einfluss nachgewiesen wird.


    Aber es gibt Fälle, die mich immer wieder irritieren. So sehe ich Giovanni Battista Sammartinis Einfluss auf die gesamte Sinfonik, die man strenggenommen so nennt, recht deutlich, deutlicher fast als den von Haydn oder Bruckner, dennoch hat man das Göttliche bei Sammartini in der Regel etwas bescheidener bemessen, außer bei ein paar speziellen Fans seiner Musik, die ich aber nicht kenne.


    Die umgekehrte Schlussfolgerung, wie sie JR betreibt, funktioniert vielleicht etwas verläßlicher - wobei ich aber nun doch nicht so sicher bin, dass Ives' Einfluss wirklich so groß ist, wie seine Göttlichkeit vermuten ließe.


    Nun dient dieser Thread auch dazu, die von mir angenommene Synonymität von Einflussreichtum und Bedeutung in Frage zu stellen, die wiederum aus älterer Lektüre von Beiträgen unseres pbrixius erwachsen war.
    :hello:

  • Ich habe schon anderswo mehrfach dargelegt, warum ich von "Definitionen" hier nicht so viel halte. Hauptsächlich, um Kalauern vorzubeugen, die groß als lang (Rachmaninoff) oder dick (Händel) auffassen könnten, habe ich das mir etwas weniger belastet scheinende "bedeutend" gesetzt. Da hängt für mich aber nicht viel dran und ich glaube eben nicht, daß man ein paar einfache Kriterien geben kann (man kann vielleicht komplizierte angeben, aber das wäre richtig Arbeit).


    Ich sehe die Unterschiede in den Haltungen hier in den unterschiedlichen historischen Perspektiven, was ja schon einige angedeutet haben. Ein Komponist hat auf Zeitgenossen und Nachfahren Einfluß, weil er (nach den damals herrschenden Kriterien(? s.u.), die zwar musikhistorisch bedingt, aber nicht willkürlich sind) Außerordentliches geschaffen hat. Indem er entweder gewisse Entwicklungen zur "Vollendung" gebracht hat, oder ein gesamtes Paradigma, also grob die gängige Vorstellung guten Komponierens, konstruktiv zu Fall gebracht hat. Mit "konstruktiv" meine ich hier einfach, daß es natürlich nicht reicht, sich einfach zu verweigern (wobei die Dialektik vom "negativem Einfluß", auf die Miguel hinweist, sicher auch interessant wäre zu betrachten), sondern ein(ige) Werk(e) zu schaffen, die in wesentlichen Hinsichten die bisherigen Üblichkeiten verletzen, aber dennoch so überzeugend sind, daß sie von einer signifikanten Zahl der Kollegen und Musikliebhaber so hoch angesehen werden, daß sie fortan eine Vorbildfunktion haben können.


    Da diese Begriffe mehr oder weniger aus der Wissenschaftsgeschichte erborgt sind, gebe ich mal zwei Beispiele von dort: Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ist einerseits die "Vollendung" der klassischen Gravitations- (und allgemein Feld-)Theorie, andererseits in wesentlichen Hinsichten von diesen verschieden. So ähnlich wären vielleicht Beethovens Sinfonien zu sehen, die man sowohl als Vollendung der Wiener Klassik, aber eben auch als den Ausgangspunkt für große Teile der Romantiker des 19. Jhds. sehen kann. (Der Unterschied ist allerdings, daß sich bei der ART nachher herausgestellt zu haben scheint, daß sie doch nur ein Abschluß zu sein scheint, weitere Geometrisierungsprogramme sind gescheitert, allerdings muß man vielleicht noch ein paar Jahrzehnte String-Theorie abwarten.)
    Ein radikaler Bruch, der eher schwer als "Vollendung" aufgefaßt werden kann, wäre dagegen z.B. die Entwicklung der Quantentheorie zwischen ca. 1900 und 1930. So ähnlich würde ich die Enstehung von Monodie etc. um 1600 gegenüber der Renaissance-Musik einordnen. Natürlich gibt es auf beiden Gebieten immer auch noch etwas, an das angeknüpft wurde und das erhalten bleibt. Aber als Näherung ist das nicht schlecht.


    In der Retrospektive kann man natürlich noch alle möglichen Einflüsse und Verbindungen sehen und ziehen. Aber "in Echtzeit" muß sich ein Komponist erstmal vor dem Hintergrund der Tradition und bei Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfahren durchsetzen und selbst wenn schon sehr bald "Einfluß" sich lawinenartig fortpflanzen mag (selbstverstärkend, wie sich eine Mode durchsetzt), so muß die Lawine irgendwie angestoßen werden. Und das funktioniert eben nur durch etwas, was schon "bedeutend" ist, bevor dieser Verstärkungsprozeß eingesetzt hat. Sonst paßt einfach die Richtung der Verursachung nicht.


    Man gerät langsam auf etwas dünnes Eis. Aber die Tatsache, daß sich vergleichsweise radikal neues, wie Monodie/Generalbaß im Frühbarock durchsetzen kann, zeigt m.E. daß es entweder allgemeinere unspezifischere Kriterien gibt, nach denen geurteilt wird, denn nach denen des vorhergehenden Stils wären diese neuartigen Werke abzulehnen. Oder daß "Kriterien" im üblichen Sinne eine wesentlich geringere Rolle spielen als wir zunächst meinten. (Sondern wir haben (kollektive?) "Bekehrungserlebnisse", die kaum näher begründet werden können.) Offenbar können Werke überzeugend sein und durchschlagenden Erfolg haben, obwohl oder weil sie die alten Kriterien negieren und (mittelfristig) neue setzen. Das ist für mich in der Musik- erstmal schwieriger zu verstehen als in der Wissenschaftsgeschichte. Es müßte hier eine Parallele zu dem geben, (sorry jetzt wird es etwas speziell), was Lakatos "degeneriertes (im Ggs zu "progressiv") Forschungsprogramm" nennt. Also was man lax oft so formuliert, daß ein Stil "ausgeschrieben" ist, daß sich damit wenig Spannendes, Neues mehr sagen läßt und deswegen eine vergleichsweise radikale Neuerung wie im Frühbarock bereitwillig akzeptiert wird. Oder ähnlich bei Spät(est)romantik vs. verschiedener Strömungen der frühen Moderne: Mahlers 8., Gurrelieder, einiges von Wagner oder Strauss konnte man nicht mehr sinnvoll an Expansion und Exaltation usw. übertreffen, daher Pierrot Lunaire und Geschichte vom Soldaten usw.


    In anderen Fällen wie bei Beethoven ist kein so radikaler Bruch nötig, weil ein Stil anderweitig zu einem neuen Höhepunkt (der dann wieder als Ausgangspunkt dienen wird) geführt werden kann.


    Fazit für die Ausgangsfrage: Auch wenn es für spätere, musikhistorische Bewertungen angemessen sein mag, den Einfluß als Kriterium für "Größe" zu nehmen, so sehe ich wie weiter oben im thread schon gesagt, die Abhängigkeit zunächst gerade umgekehrt. (Was freilich nicht dagegen spricht, den Einfluß als Indiz zu nehmen, aber das ist was anderes)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Naja, man müsste zunächst vielleicht nach der Bedeutung von »Bedeutung« in diesem Kontext fragen bzw. beantworten, welchen Begriff von Bedeutung man zugrunde legt. Genaugenommen lässt sich Bedeutung wahrscheinlich nur in einer historischen Perspektive messen und selbst dann ist es zentral, was man als konstitutives Moment von »Bedeutung« begreifen möchte.


    Aus der Perspektive einer informationstheoretisch programmierten Ästhetik etwa misst sich die Bedeutung (oder: die Bedeutsamkeit) eines Werks oder einer unter einem Komponistennamen zusammengefassten Werkgruppe an seinem/ihrem Informationsgehalt. Das hat nix mit einer klassischen oder auch strukturalen Innovationsästhetik im Sinne von Norm und Abweichung resp. »automatisierter Folie« und »Novum« zu tun, die sich ja insbesondere einen vorgängigen Werkkanon zum Vergleichsmaßstab macht. Der »Informationsgehalt« eines Werkes misst sich dagegen daran, wie deutlich, stark oder nachhaltig spätere Werke durch das spezifisch betrachtete Werk informiert wurden/werden bzw. inwiefern die in diesem Werk enthaltenen Informationen in der Folge in anderen Werken prozessiert werden.


    Mal im Klartext: aus Perspektive einer informationstheoretisch programmierten Ästhetik misst sich die Bedeutsamkeit von etwa Beethovens Symphonien nicht daran, dass er irgendwie den Standard der Haydnschen/Mozartschen Symphonien überschritten und weiterentwickelt hat oder in signifikanter Weise von ihr abweicht, sondern daran, dass sein Schaffen die Symphonik des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus im hohen Maße informiert hat und zwar dergestalt, daß sich nachfolgende Komponisten von Schubert, Schumann und Berlioz, über Brahms, Bruckner, Mahler und Schostakowitsch bis hin zu Trojahn und Winbeck an Beethovens Symphonik abgearbeitet haben (und somit die in Beethovens Symphonien enthaltenen Informationen prozessiert haben) und zwar explizit.


    Ein solcher Begriff von Bedeutung/Bedeutsamkeit sagt zunächst mal gar nichts darüber aus, ob ein Werk gut oder schlecht ist – ich würde aber JR unbedingt zustimmen, dass der Zusammenhang zwischen der Qualität eines Werks und seiner potentiellen Bedeutsamkeit nicht zufällig ist.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Bedeutung ist natürlich eigentlich ein ganz schlechter Ausdruck, weil es mit Bedeutung (Sinn, meaning) im engeren Sinne nichts zu tun hat. "Wichtig" erscheint mir ein bißchen zu schwach. Denn wichtig ist eben auch Sammartini.


    Zwar eine etwas gewöhnungsbedürftige Verwendung von "Informationsgehalt" (normalerweise kann man sowas in bits angeben :D), aber doch ein ziemlich interessanter und sicher sinnvoller Ansatz. Allerdings ist er ja in extremer Weise ex post, da sozusagen über die gesamte, auch späte und indirekte Wirkungsgeschichte integriert wird. Scheint mir für die "Einflußmessung" im Nachhinein sehr hilfreich.


    Hilft mir daher weniger bei meinem Problem zu verstehen, warum etwas, selbst in einer Zeit, in der "Innovation" als solcher (gegenüber maßvoller Originalität in relativ eng gestecktem Rahmen) nicht unbedingt Priorität eingeräumt wird, ein innovatives Werk einschlagen kann, obwohl (oder doch auch hier weil?) es den Erwartungen nicht entspricht.
    Es werden keine bereits explizit bestehenden ästhetischen Bedürfnisse befriedigt oder Regeln befolgt, sondern mit einem Mal sowohl neue geschaffen als auch (maßstäblich) erfüllt. (Ich übertreibe die Plötzlichkeit nur ein wenig, es mag ein paar Jahre dauern, aber ich habe nicht den Eindruck einer stetigen Entwicklung, sondern eben einer Art "ästhetischen Revolution").
    Gibt es denn in der Kulturtheorie/-geschichte etwas wie diese flapsig formulierte Idee des "ausgeschriebenen" Stils (oder eben im Jargon eines "degenerierten ästhetischen Programms")? Man hat das ja oft genug übertrieben und als schlechte Begründung für gewissen Neuerungen genommen. Aber etwas ist vielleicht doch dran...


    KSM spricht eine andere spannende Sache an: Die vom Gewicht der auf ihren Schultern Stehenden zusammengequetschten und daher verkleinerten "Riesen", die man nicht mehr als solche sieht.


    Ich muß gestehen, die Mannheimer nicht sehr gut und den Sammartini gar nicht zu kennen. Aber hier scheint der Fall vorzuliegen, daß in einer Umbruchzeit einzelne und später sehr wichtige stilistische Neuerungen bei unterschiedlichen Komponisten vorliegen, aber nicht so überzeugend ausgestaltet werden, daß die tatsächlichen Werke (aus gutem Grund?) deutlich gegenüber den Späteren zurückgesetzt werden, die ohne diese Neuerungen nicht denkbar sind.


    Wissenschaftshistorische Parallele: Lorentz und FitzGerald hatten beinahe schon die Spezielle Relativitättheorie entwickelt. Aber sie brachten die Elemente nicht auf die schlüssige (und revolutionäre) Weise zusammen wie wenig später Einstein.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Bedeutung ist natürlich eigentlich ein ganz schlechter Ausdruck, weil es mit Bedeutung (Sinn, meaning) im engeren Sinne nichts zu tun hat. "Wichtig" erscheint mir ein bißchen zu schwach. Denn wichtig ist eben auch Sammartini.


    Im Kontext informationstheoretischer Ästhetiken (etwa bei Abraham Moles oder Vilém Flusser) gibt es den Begriff »Bedeutung« meines Wissens auch gar nicht (müßte ich aber nachsehen) sondern – ich hatte das nur angedeutet – den Begriff »Bedeutsamkeit«. Das hat naklar damit zu tun, dass in diesem Zusammenhang ganz explizit eine Idee von Fortwirkung und Entwicklung (nicht Fortschritt) angenommen wird.


    Zitat

    Zwar eine etwas gewöhnungsbedürftige Verwendung von "Informationsgehalt" (normalerweise kann man sowas in bits angeben :D), aber doch ein ziemlich interessanter und sicher sinnvoller Ansatz. Allerdings ist er ja in extremer Weise ex post, da sozusagen über die gesamte, auch späte und indirekte Wirkungsgeschichte integriert wird. Scheint mir für die "Einflußmessung" im Nachhinein sehr hilfreich.


    Naja, der Begriff »Information« ist hier IMO doch gar nicht so abweichend verwendet, oder? Zugrundegelegt wird ein Modell ästhetischer Kommunikation. Als »informativ« gilt in diesem Zusammenhang ein Werk, dass folgenreich ist - und zwar insofern, als es Prozesse ästhetischer Kommunikation auslöst.


    Zitat

    Hilft mir daher weniger bei meinem Problem zu verstehen, warum etwas, selbst in einer Zeit, in der "Innovation" als solcher (gegenüber maßvoller Originalität in relativ eng gestecktem Rahmen) nicht unbedingt Priorität eingeräumt wird, ein innovatives Werk einschlagen kann, obwohl (oder doch auch hier weil?) es den Erwartungen nicht entspricht. Es werden keine bereits explizit bestehenden ästhetischen Bedürfnisse befriedigt oder Regeln befolgt, sondern mit einem Mal sowohl neue geschaffen als auch (maßstäblich) erfüllt. (Ich übertreibe die Plötzlichkeit nur ein wenig, es mag ein paar Jahre dauern, aber ich habe nicht den Eindruck einer stetigen Entwicklung, sondern eben einer Art "ästhetischen Revolution").


    Genau dies wäre etwa ein Beispiel für die Auslösung synchroner ästhetischer Kommunikation, während die langanhaltende Auseinandersetzung in Form von Abarbeitung, Gegenentwürfen usw. (wie mein Beispiel der Nachhaltigkeit der Beethovenschen Symphonien) ein Beispiel für ästhetische Kommunikation in diachroner Perspektive ist. »Schulenbildung« oder die Entstehung einer Legion von Epigonen dagegen ist ein eher schwaches Signal für den erhöhten Informationsgehalt eines Werks (so gesehen ist Schuberts Symphonik ein stärkeres Signal für die Bedeutsamkeit Beethovens als es die Symphonien von Ries sind).


    Zitat

    Gibt es denn in der Kulturtheorie/-geschichte etwas wie diese flapsig formulierte Idee des "ausgeschriebenen" Stils (oder eben im Jargon eines "degenerierten ästhetischen Programms")? Man hat das ja oft genug übertrieben und als schlechte Begründung für gewissen Neuerungen genommen. Aber etwas ist vielleicht doch dran...


    Der »ausgeschriebene Stil« oder das »degenerierte ästhetische Programm«, heißt in der informationstheoretischen Ästhetik schlicht »Kitsch« – und dieser »Kitsch«-Begriff ist der einzig mir bekannte, der einigermaßen gehaltvoll und somit informativ ist ;) . Die Verwaltung des Status quo führt – ich referiere diese Position – sukzessive zu einer Des-Information ästhetischer Formen (sie verlieren ihren Informationsgehalt), was zugleich wiederum mit einem Verlust der Fähigkeit einhergeht, Prozesse ästhetischer Kommunikation auszulösen. Die Reproduktion von etwas wird folgelogisch nicht als ästhetische Anschlusskommunikation sondern als eine Art Recyclingprozess aufgefasst, in dem keine neuen Informationen bereitstellt werden und der folglich selbst wiederum keine Anschlusskommunikation auslöst (sondern in der Wiederaufbereitung des immer gleichen kreist). Und genau diese Position wird als »Kitsch« bezeichnet.




    Sehr interessanter Gedanke! Man könnte (wieder mit dem Informationsheinis) naklar auch die These vertreten, dass der Informationsgehalt der Mannheimer relativ schnell auskommuniziert war bzw. schon bald im Informationsgehalt der Riesen, die auf ihren Schultern stehen, aufgehoben worden ist.


    Viele Grüße,
    Medard

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Man muß hier ein bißchen aufpassen: Sollen wir einen Komponisten bedeutend nennen, weil er großen Einfluß hatte, oder hatte er großen Einfluß, weil er bedeutend war? ;)
    Ich tendiere klar zur zweiten Lesart. Der Einfluß ist ein Indiz für die Bedeutung, aber diese die Ursache für den Einfluß.


    Ich sehe hier keine Disjunktion (entweder oder), vielmehr eine Äquivalenz.
    Wir nennen einen Komponisten bedeutend, WEIL er großen Einfluß hatte und zwar in dem von Medard hervorgehobenen Sinne:

    Zitat


    Man könnte (wieder mit dem Informationsheinis) naklar auch die These vertreten, dass der Informationsgehalt der Mannheimer relativ schnell auskommuniziert war bzw. schon bald im Informationsgehalt der Riesen, die auf ihren Schultern stehen, aufgehoben worden ist.


    Gleichwohl hatte er weiterhin großen Einfluss, da er zu einem gegebenen Zeitpunkt bereits als bedeutend galt und weitere Generationen sich mit seinem Werk auseinandersetzten. Aber wer maß ihm diese Bedeutung zu und welche könnte - so zumindest meine Sicht - geeigneter sein als diejenige, die sich in den Einflüssen auf nachfolgende Komponistengenerationen manifestiert?


    Ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem Anspruch der "Objektivierer", es gäbe so etwas wie eine werkimmanente Bedeutung, die völlig oder größtenteil frei von ästhetisch-rezeptivem oder soziokulturellem Hintergrund ist und die den Anspruch zu erheben scheint

    Zitat


    Strawinsky ist doch noch eine andere Liga.


    könnte in Stein gemeißelt werden. (Liga: flapsige Formulierung, mit der ich manchmal so meine Probleme habe und die häufig nach übernommener Lehrbuchmeinung schmeckt - zumal es heir um den direkten Vergleich zweier Werke ging.)
    Jede Kultur, extraterristische Kulturen müssten also alle zu dem gleichen Schluss gelangen. Eine Aussage, die IMO weder verifiziert noch falsifiziert werden kann.


    Wenn ich in diesem Zusammenhang Aussagen falsch verstanden habe, so bitte ich das zu entschuldigen: meine Erkältung vernebelt momentan nicht nur meine Nase :rolleyes:


    :hello:
    Wulf

  • Zitat

    Original von Wulf


    Ich sehe hier keine Disjunktion (entweder oder), vielmehr eine Äquivalenz.
    Wir nennen einen Komponisten bedeutend, WEIL er großen Einfluß hatte und zwar in dem von Medard hervorgehobenen Sinne:


    ja, hinterher ist man immer schlauer und kann das so machen. Aber bei der "synchronen ästhetischen Kommunikation" sehe ich das eben noch nicht. Die ist die Voraussetzung dafür, daß es überhaupt eine längerfristige Entwicklung und entsprechenden Einfluß gibt und die erste Rezeption kann sich natürlich nicht auf nachträglichen Einfluß beziehen, weil sie den noch nicht kennt. Warum erregt ein Stück wie Le Sacre nicht nur einmalig skandalöses Aufsehen, sondern wird bei einer signifkanten Anzahl anderer Künstler und Kritiker sehr schnell als bahnbrechend anerkannt?
    Das kann nicht nach überkommenen Kriterien geschehen, denn die Musiker, die 1912 meinten, man solle möglichst etwa so komponieren wie Brahms oder vielleicht wie Strauss, konnten mit Le Sacre vermutlich kaum etwas anfangen. (Ebensowenig wie Artusi mit der Seconda Pratica um 1600). Ergo gibt es entweder allgemeinere implizite, stilüberschreitende Kriterien, die bei den offeneren Musikern den Ausschlag für den Erfolg des Balletts gaben oder Kriterien spielen überhaupt keine so große Rolle wie wir gedacht haben. Es geht dann eher darum, eine "ästhetische Epiphanie" auszulösen: "Wow, so etwas kann man machen und es funktioniert (warum bin ich da nicht schon selbst drauf gekommen?)!"
    Oder man hat diesen negative (oder hübscher: dialektische) Reaktion, die oben jemand nannte. Also etwa jemand, der latent unzufrieden damit war, irgendwie in der Brahms- oder Strauss-Nachfolge zu komponieren und deswegen eine Novität wie Le Sacre begrüßt.
    All das und nur deswegen habe ich solche Beispiele aufgebracht, zeigt m.E. eine Priorität (chronologisch und kausal) der "Größe" oder "Bedeutsamkeit" gegenüber dem Einfluß. Irgendwas muß die Lawine anstoßen und anders als bei wirklichen Lawinen muß es ein ästhetisches Großereignis sein.


    Zitat


    Ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem Anspruch der "Objektivierer", es gäbe so etwas wie eine werkimmanente Bedeutung, die völlig oder größtenteil frei von ästhetisch-rezeptivem oder soziokulturellem Hintergrund ist und die den Anspruch zu erheben scheint


    Jede Kultur, extraterristische Kulturen müssten also alle zu dem gleichen Schluss gelangen. Eine Aussage, die IMO weder verifiziert noch falsifiziert werden kann.


    Es ist fraglich, ob es überhaupt notwendig wäre, daß die Extraterrestrier zum gleichen Schluß gelangten. Ich sehe aber bei dem von Klawirr oben erläuterten "Informationsgehaltsansatz" eine sehr gute Chance, daß sie mit diesem Ansatz zu demselben Ergebnis kämen wie wir. Man kann diese Art Einflüsse fast alle aus einer externen Perspektive feststellen. Der Fall scheint mir nach dieser Einflußmessung bei Strawinskij vs. Prokofieff und erst recht bei Le Sacre vs. Romeo ziemlich eindeutig.
    Es ist hier m.E. kaum eine höhere Objektivität gefordert als die, mit der sich feststellen ließe, daß der erste Weltkrieg ein weitreichenderes politisches Ereignis war als der Boxeraufstand/krieg.
    Damit ist aber natürlich noch nicht gesagt, daß in einem absoluten Sinn Le Sacre das "größere" Werk ist, dafür ist das Kriterium zu schwach. (es folgt ja auch nicht automatisch, daß der Weltkrieg moralisch verwerflicher war als die Niederschlagung der chinesischen "Boxer") Ein "absoluter Sinn" ist auch gar nicht gefordert. Es reicht einer, der die abendländische Musikgeschichte, meinetwegen jeweils 100 Jahre vor und nach den Stücken berücksichtigt.


    Aber nochmal. Die Zeitgenossen haben aus der internen Perspektive offenbar die Möglichkeit, ohne die spätere Lehrbuchmeinung zu kennen, ein außerordentliches ästhetisches Ereignis (es wird langsam Jargon, aber hoffentlich noch klar, was gemeint ist) recht schnell zu erkennen. Ich weiß immer noch nicht genau, wie sie das machen. Aber sie tun es zweifellos und ich halte das für interessant und erklärungsbedürftig.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Warum erregt ein Stück wie Le Sacre nicht nur einmalig skandalöses Aufsehen, sondern wird bei einer signifkanten Anzahl anderer Künstler und Kritiker sehr schnell als bahnbrechend anerkannt?
    oder Kriterien spielen überhaupt keine so große Rolle wie wir gedacht haben. Es geht dann eher darum, eine "ästhetische Epiphanie" auszulösen: "Wow, so etwas kann man machen und es funktioniert (warum bin ich da nicht schon selbst drauf gekommen?)!"
    Oder man hat diesen negative (oder hübscher: dialektische) Reaktion, die oben jemand nannte. Also etwa jemand, der latent unzufrieden damit war, irgendwie in der Brahms- oder Strauss-Nachfolge zu komponieren und deswegen eine Novität wie Le Sacre begrüßt.


    Damit kann ich mich schon viel eher arrangieren. Deine These, die Lawine sei in Folge eines ästhetischen Gorßereignisses losgetreten und am Leben erhalten durch die Kongruenz zeitgenössischer, stilübergreifender Urteile muss sich, um daruas eine Allgemeingültigkeit abzuleiten, statistischen Betrachtungen stellen.
    Die Frage indes ist doch: wie häufig trat das Gegenteil ein? Ein Werk wurde als bnahnbrechend bejubelt, entpuppte sich später jedoch als Totläufer? Oder umgekehrt, z.B. im Fall Debussy. Natürlich seine Musik wurde bereits von Zeitgenossen hoch geschätzt, aber einen revolutionären, gar bahnbrechenden Charakter wollte ihr kaum einer zugestehen. Selbst ein so besonnener und für neue Musik offener Geist wie Bekker nahm noch Ende der 20er Jahre an, Debussy sei ein Phänomen, das auf die Landesgrenzen beschränkt bliebe.
    Und hier greift gut das, was Du "ästhetische Epiphanie" nennst, ergo: ein "Wow-Erlebnis".
    Daß der "Sacre" sofort als bahnbrechend, als Novum, anerkannt wurde, liegt an der Offensichtlichkeit seiner Neuartigkeit. Die rhythmischen Entladungen eines "Sacre" überraschten, schockierten, begeisterten - wie auch immer: jeder, der das Stück zu der Zeit vernahm, konnte diesem wohl kaum gleichgültig gegenüberstehen. Das Neue war zu offensichtlich. Oder besser: das Fremdartige. Das Fremde übt einen enormen Reiz auf den Menschen aus. Je offensichtlicher es in Erscheinung tritt, desto mehr fokussiert es uns.
    Die spannungsinduzierte Fokussierung des "Sacre" ist meiner Ansicht nach die gleiche, welche sich beim Lesen eines Stephen King - Romans aufbaut. Und in seinen Werken versteht es King brilliant Spannungsbögen aufzubauen, den Leser bei der Stange zu halten, darum ist seine Lawine auch (noch) nicht ausgelaufen. Mit dem Unterscheid, daß King eigtl. nie von der Literaturwelt mit Ehre bekleckert wurde, ganz einfach aus dem Grud, weil der Aufbau von Spannungsmomenten nicht ausreicht, um daraus nach landläufiger Meinung gute Literatur werden zu lassen.
    Debussys Musik war in ihrer Neuartigkeit zunächst zu subtil: Konsonanz als Revolution, impressionistisches Klangbild als Fingerprint - doch die Neuartigkeit steckt - wie wir wissen in der Absage u.a. an das Durchführungsprinzip, in einer Art Revolution gegendie Revolution.
    Lange Rede, kurzer Sinn: Daß Kenner dem "Sacre" eine bahnbrechende Bedeutung zukommen ließen ist Novität in der ästhetischen Rezeption verschuldet als auch - natürlich - einem Konsens, daß es sich ungeachtet des neuen Klangbildes um ein meisterlich umgesetztes Werk handelt.


    Ob die Beurteilung zeitgenössischer Geister jedoch ausreicht, den von dir bevorzugten Umkehrschluss allgemeingültig werden zu lassen....ich bleibe skeptisch. ;)


    :hello:
    Wulf

  • Liebe Mitdiskutanten,
    es ist mir natürlich eine Freude, wenn Ihr von meiner provokanten These ausgeht, aber ich bitte darum, diese These erst einmal genau zu durchdenken, sonst geraten wir auf Abwege.
    Ich bitte, bei dem Wort "Bedeutung" bleiben zu dürfen, wir wissen alle, wie es gemeint ist, ohne es zuerst auf eine genaue Definition abklopfen zu müssen.
    Ich formuliere daher nocheinmal meine These:
    Ein Komponist, der Einfluß auf seine Um- oder Nachwelt ausgeübt hat, ist automatisch bedeutender als ein Komponist, der ein singuläres Phänomen geblieben ist. Diese Bedeutung ist historisch und in Bezug auf die Qualität wertfrei zu verstehen.


    Salopp gesagt: Es gibt nicht nur Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen, sondern auch Riesen, die auf den Schultern von Zwergen stehen.


    Ich bitte alle Marschner-Fans gleich vorweg um Pardon: Richard Wagners Initialzündung wäre ohne Marschner nicht möglich. Dennoch ist Wagner ein besserer Komponist als Marschner. Ehe wir in einen Streit geraten, woran sich die Qualität mißt: Bitte dritten Akt "Tristan" anhören und danach Marschners "Hans Heiling"...


    Fall Debussy: Bekker war ein kluger Kopf, aber wie die meisten Kommentatoren aus dem deutschsprachigen Raum mit der französischen Musik nicht vertraut.Andernfalls hätte Bekker merken müssen, daß Debussys Ergebnisse auch außerhalb Frankreichs Schule machten, etwa in korrumpiertem Zustand die Würze bei Puccini sind, in umgedeutetem Zustand bei Schreker (den Bekker ganz ausgezeichnet kannte!) auf fruchtbaren Boden gefallen sind und ihre Spuren in den Werken von Strauss und Korngold hinterlassen haben. Daß es nur wenige Debussy-Nachahmer gab, hängt damit zusammen, daß die Musikentwicklung gerade in Frankreich extrem schnell fortgeschritten ist und man sich dem Neo-Klassizismus zuwendete. Allerdings gibt es keine französische Oper nach dem "Pelléas", die nicht von dessen Deklamation beeinflußt wäre.


    ***


    Vom Ausspielen von Prokofjew gegen Strawinskij würde ich abraten. Prokofjew hat durchaus Spuren hinterlassen, und zwar in praktisch allen abendfüllenden Balletten der Nachkriegszeit, auch wenn sie, wie Brittens "Pagodenprinz", aus dem Westen stammten. Strawinskys "Sacre" hingegen fand im Konzertsaal Nachahmer, auf der Bühne weiß ich nur einen, nämlich "Corroboree" vom Australier John Antill. Ja, und Prokofjews "Pas d'Acier" natürlich. Außerdem gab es eine Menge von Mittelklasse-Sowjetkomponisten, die Prokofjews Tonfall imitierten.


    :hello:

    ...

  • Lieber Edwin,


    was ist dann mit Komponisten wie z.B. Nikolai Roslavetz? Ich halte den für bedeutend, auch wenn er sein Werk durch zunehmend schlechte politische und soziale Arbeitsbedingungen bis zur physischen Bedrohung in der stalinistischen SU nur noch sehr bedingt entwickeln konnte, schon gar keine Schule bilden, keinen Einfluß auf andere, außer in einer kurzen Phase bis an den Beginn der 20er Jahre, ausüben konnte. Kurz gesagt, wie ist es bei Komponisten, deren Weiterentwicklung und Einflußausübung in diesem fürchterlichen 20. Jahrhundert radikal abgeschnitten wurde? Bleibt dann nur zu hoffen, dass ihre Zeit noch komme, wie Schönberg und Adorno über Zemlinsky schrieben? Bei Zemlinsky und Schreker kann man dies ja vielleicht inzwischen konstatieren. Zwar wird auch Roslavets langsam wiederentdeckt, aber die Konjunktur, in der seine sehr eigenen, hochinteressanten und bei ihm sehr wirkungsvollen kompositionstechnischen Verfahren fruchtbaren Einfluß hätten ausüben können, ist wohl für immer vorbei. Ist er dadurch weniger bedeutend? Oder ist er doch wieder etwas abgeleitet bedeutend durch eine Betrachtung im weiteren Kontext, etwa der Art, dass auch außerhalb Wiens die Entwicklung serieller Verfahren "in der Luft lag" und dies auch anderswo zu fruchtbaren Ergebnissen in dieser Zeit führen konnte?


    Jedenfalls bleibt bei mir ein gewisses Unbehagen, "Bedeutung", wie auch immer verstanden, vor allem oder ganz an die Nachwirkung zu binden. Schreibt man dann zu sehr "Geschichte der Sieger"? Oder können wir doch noch darauf hoffen, dass das, was wirklich gut ist, sich auch irgendwie langfristig durchsetzt, wenn "die Zeit dafür gekommen" und es wenigstens überhaupt irgendwie überliefert worden ist? Das möchte ich nicht als rhetorische Fragen verstanden wissen.


    Auch der Wissenschafts- oder Technikgeschichte sind solche Fragen nach Alternativen, ungenutzten, aber interessanten Ansätzen, ausgeschlagenen Entwicklungspfaden etc. ja nicht mehr ganz fremd. Insofern finde ich, totz dieser Bedenken, JRs Analogie zur Wissenschaftsentwicklung nützlich. In der Tat werden zur besonders spannenden Fragen: Woher kommt das Neue? Was zeichnet eigentlich solche Konjunkturen aus, in denen nicht nur, sich relativ plötzlich, relativ viel Neues entwicklet, sondern dieses Neue, oder jedenfalls einige, der eingeschlagenen Pfade, auch aktive Anhänger und ein gewisses Publikum, einschließlich finanzkräftiger Unterstützer, findet? Aber diese Fragen sind natürlich auch unter Epistemologen heiß umstritten und, wenn ich das richtig überblicke, trotz vieler interessanter Ansätze, weitgehend ungeklärt. Medards informationstheoretischen Ansatz fand ich zwar interessant und durchaus eine gute Ergänzung, sehe aber noch überhaupt nicht, wie er bei diesen Fragen weiterführen kann. Aber natürlich laß ich mich gerne weiter anregen.


    :hello: Matthias

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  • Lieber Matthias,
    Du gehst leider dem Doppelsinn von "Bedeutung" auf den Leim. Für diese These unterscheide ich zwischen den wertenden qualitätsbezogenen Termini und der "Bedeutung" als wertfreiem, rein historisch zu verstehendem Begriff. Roslawetz und noch stärker Obuchow sind hervorragende Komponisten mit einer kühnen Vision, sie gehören zum Besten, was diese Zeit hervorgebracht hat, und es ist absolut unverständlich, daß sie nicht in dem Ausmaß präsent sind, wie es ihr Werk verdienen würde. Mangels Ausstrahlung sind sie aber musikhistorisch nicht bedeutend, da sich ihre Bedeutung nur auf sie selbst bezieht.
    Oder anders gesagt: Man kann Roslawetz und Obuchow aus der Musikgeschichte herausnehmen, ohne die Entwicklungslinien, wie sie sich heute darstellen, zu gefährden.
    Ich betone dabei Entwicklungslinien, wie sie sich heute darstellen, denn es kann eventuell Spätfolgen geben, die wir im Moment aus zu knapper historischer Perspektive noch nicht als solche erkennen bzw. die erst eintreten, wenn jüngere Komponisten auf den Werken oder Theorien von Roslawetz und Obuchow aufbauen.
    :hello:

    ...