Paavo Järvi dirigiert Beethoven: "Referenz" oder "och nö, schon wieder Beethoven"?

  • Hallo miteinander,


    zugegeben, man hätte auch fragen können "schon wieder ein Beethoven-Thread" oder die Fragestellung im Ludwig van Beethoven: Sinfonien Nr 1-9 Welcher Zyklus ist der Beste ? -Thread erörtern können, aber was bei den Herren Gardiner oder Rattle recht ist, soll bei Paavo Järvi billig sein ;) .


    Die bisher erschienenen Aufnahmen




    wurden von der Fachpresse begeistert aufgenommen und auch im Forum hoch gelobt.


    Aufnahmen, die sich an Beethovens Metronomangaben orientieren, gibt es seit ca. 30 Jahren (Gielens Einspielung der "Eroica" vom Oktober 1980 dürfte eine der ersten gewesen sein); nimmt man René Leibowitz (der 1961 alle Beethoven-Sinfonien aufnahm) oder z.B. Carl Schurichts Interpretation der "Eroica" mit dem Berliner Philharmonischen Orchester aus 1941 mit hinzu, so erkennt man, daß es eine lange Tradition gibt, Beethoven zu "enttitanisieren".


    Auch ist es keine "Sensation" mehr, Beethoven mit reduzierter Orchesterstärke zu spielen. Anfang der 90er nahm die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Heinrich Schiff die ersten vier Sinfonien Beethovens auf und dürfte damals in ähnlicher Besetzung wie bei Järvi aufgetreten sein: Bei Beethovens 5. acht erste Violinen, sieben zweite, fünf Violas, fünf Violoncelli, drei Kontrabässe = 28 Streicher und drei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, drei Fagotte, zwei Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen und eine Pauke, also insgesamt 44 Orchestermitglieder.


    Was also macht Järvis Beethovens so hörenswert? Warum soll jemand, der z.B. Gardiner, Zinman, Norrington und Harnoncourt als Beethoven-Dirigenten kennt und schätzt, noch einen (2/3)-Zyklus kaufen?


    Selbst die neue Bärenreiter Edition verbreitet sich. Auch u.a. Zinman, Hugh Wolff und Abbado (Berliner Philharmoniker) folgten ihr.


    Wolf Eberhard von Lewinski hat einmal über Günter Wand verlauten lassen, daß Wand "den Noten genau auf der Spur" bleibt "ohne je zu vergessen was -als das Entscheidende- hinter den Noten steckt". Diese weise Aussage mache ich mir u.a. zu Eigen, wenn ich für mich entscheide, ob mir eine Interpretation gefällt oder nicht.


    "Nur schnell", also "Metronom pur" überzeugt mich bei Beethoven schon lange nicht mehr. Schnell erfaßt mich das Gefühl des "rein technischen Musizierens", der "Rekordjagd".


    Dieses Gefühl habe ich bei Järvi allerdings nicht. Daß er Beethovens Tempo- und Dynamikvorgaben ernst nimmt, muß nicht weiter erwähnt werden. Daß durch die reduzierte Streicherbesetzung Holz- und Blechbläser mehr Gewicht erhalten und daß dadurch das gesamte Orchesterspiel kontrastreicher und "farbiger" gerät, liegt ebenfalls auf der Hand.


    Järvis großes Plus liegt für mich darin, daß gerade druch die Farbigkeit des stets bestens disponierten Orchesters eine immense Spannung erzeugt wird. Man erhört quasi die Radikalität der Orchestrierung in der "Eroica" im Vergleich zu vielen Zeitgenossen neu, wenn zu Beginn des Finales die Streicher fast als Streichquartett geführt werden oder wenn der erste Satz der 8. Sinfonie nicht schwerfällig daher kommt, sondern feinsinnig-perlend, mit keck auftrumpfenden Hörnern und munter aufspielenden Holzbläsern einen mitreißenden Charakter erhält.


    Trotz der schnellen Tempi wirkt Järvi niemals gehetzt. Im Gegenteil, in den langsamen Sätzen gestattet er insbesondere den Bläsern das liebevolle Ausspielen ihrer Passagen.
    Spontaneität und rhythmische Präzision kennzeichnen Järvis Beethoven, das Orchester "hört gut aufeinander", so daß neben der schon erwähnten "Farbigkeit" eine ausgezeichnete Orchesterbalance hervozuheben ist.


    Unterm Strich gehören die drei SACDs, die übrigens sehr transparent und natürlich klingen, für mich mit zu dem besten, was es zum Thema Beethoven zu kaufen gibt. Leichte Abstriche mache ich bei der 7. Sinfonie, die mir ein bißchen zu "gebremst" und kontrolliert-temperamentvoll interpretiert wurde, siehe Apotheose des Tanzes ? - Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr 7 -Thread.


    Es folgen bis 2010 die 2., 6. und 9. Sinfonie. Insbesondere auf die 9. Sinfonie bin ich sehr gespannt, denn für mich gibt es noch keine "HIP" oder "HIP"-orientierte Einspielung (mit Ausnahme von Michael Gielen und mit einigen Abstrichen Norrington [SWR-Sinfonieorchester]), die mich zufrieden stellen konnte.


    Mehr als bei allen anderen Sinfonien Beethovens zeigt sich bei der 9., daß das Metronom nicht den Maßstab einer guten Interpretation ausmacht. Man wird also sehen bzw. hören... ;)


    Welche Stellung nimmt bei Euch Paavo Järvi als Beethoven-Dirigent ein? Ist er einer von vielen oder liefert er einen Maßstab, den man künftig schlagen muß?


    Ich freue mich auf viele spannende Beiträge...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Original von Norbert
    Es folgen bis 2010 die 2., 6. und 9. Sinfonie. Insbesondere auf die 9. Sinfonie bin ich sehr gespannt, denn für mich gibt es noch keine "HIP" oder "HIP"-orientierte Einspielung (mit Ausnahme von Michael Gielen und mit einigen Abstrichen Norrington [SWR-Sinfonieorchester]), die mich zufrieden stellen konnte.


    Mehr als bei allen anderen Sinfonien Beethovens zeigt sich bei der 9., daß das Metronom nicht den Maßstab einer guten Interpretation ausmacht. Man wird also sehen bzw. hören... ;)


    Das ist schon demnächst möglich, in Bremen und in Stuttgart, live im Konzertsaal. Ich nehme an, daß dann daraus auch die CD gebastelt wird. Näheres hier.


    Vielen Dank für das neue Thema und die schöne Einführung; über Järvis Beethoven habe ich selbst bislang noch keine Hörerfahrungen gesammelt. Das wird sich sicher noch ändern.

  • Auch mir gefallen die bisher erschienenen Interpretationen ausserordentlich gut.
    Die sehr lebhaften Tempi wirken (zumindestens auf mich) nie gehetzt sondern kommen mit grosser technischer Perfektion und Gelassenheit daher.
    Für mich zeigt sich hier exemplarisch, dass "Ausdruck" und Athmosphäre auch mit schnellen Tempi auf das Schönste erreichbar sind. Ich habe dabei überhaupt nicht den Eindruck, dass man Beethoven etwas von seiner Größe nimmt. Vielleicht mag der eine oder andere das "Titanische" in den Interpretationen vermissen, aber man erhält dafür Aufführungen, die auf mich ausgesprochen "sexy" wirken. Kein schlechter Tausch, finde ich.
    Deshalb freue ich mich auch schon auf die noch ausstehenden 2 Cd's mit den Sinfonien 2+6 und 9!
    Trotzdem möchte ich Bernstein, Abbado (neueste Ausgabe live aus Rom) und Harnoncourt weiterhin nicht missen.

    Und man ist dazu da, daß man's ertragt. Und in dem "Wie" da liegt der ganze Unterschied.

  • Hallo,


    ich wundere mich schon sehr, dass hier so wenig Feedback kommt - ich hätte erwartet, die Järvi-Aufnahmen seien ein ganz heißes Eisen und würden hier für viel Diskussionsstoff sorgen. Wer sie noch nicht kennt, sollte m.E. das Versäumte ganz schnell nachholen :yes:. Seitdem ich die Järvi-CDs habe, werden meine anderen Beethoven-Aufnahmen der 1., 3., 4., 5., 7. und 8. vermutlich noch eine Weile im Regal vor sich hinstauben. Am besten gefallen mir bisher die 4. und die 8. :jubel:


    Ich stimme Norberts positiver Wertung in vollem Umfang zu und möchte hervorheben, was für mich das Besondere an diesen Aufnahmen ausmacht: Es ist ganz einfach die große SPIELFREUDE, die die Kammerphilharmonie hier entwickelt und die teilweise wirklich atemberaubend ist. Selten vermittelt sich dem Hörer so unmittelbar wie hier, das die ausführenden Musiker einen Heidenspaß mit dieser Musik haben. Die enorme Energie, die in dieser Musik steckt, springt einen hier förmlich aus den Lautsprechern an. Das geht allerdings keineswegs auf Kosten des Tiefgangs und artet auch nicht wie bei Pletnew und anderen in Hochleistungssport aus. Einziger Kritikpunkt: Auch in den langsamen Sätzen herrscht manchmal noch eine solche Hochspannung, dass manches doch etwas ruhelos wirkt.


    "Unsereiner will mit dem Verstand gehört werden." (LvB)
    Tut mir leid, lieber Ludwig - diese Interpretationen höre ich gern über den Bauch :]


    Ich muß sagen, dass bei mir in Sachen Beethoven-Sinfonien seit einiger Zeit ein gewisser Übersättigungseffekt eingetreten war. Seit Järvi habe ich wieder Freude daran, als handele es sich um neu entdeckte Werke. Vielleicht wird dies die ideale Gesamtaufnahme für alle, die eigentlich schon keinen Beethoven mehr hören wollen :rolleyes:


    Am Rande sei noch bemerkt, dass ich bereits von der zuvor erschienenen Bremer Järvi-Aufnahme mit Strauss-Werken (Der Bürger als Edelmann; Duett-Concertino; Sextett aus Capriccio) sehr angetan war, sogar mehr als von der Version in der sonst von mir heiß geliebten Rudolf-Kempe-Box.


    Gehabt Euch wohl,


    Cassiodor

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Na ja: Mein Freund Jonathan Del Mar sagte mir einmal, was Zinman da dirigiere, sei eine reine Travestie seiner Ausgabe ...



    In der Zeit meinte er auch, dass bisher nur Dausgaard und Norrington 2 seinen Vorstellungen entsprechen.
    Norrington hat mich völlig unerwartet erwischt und ist für mich eine Offenbarung. Dagegen fällt Dausgaard zumindest bei den Hörschnipseln auf JPC deutlich ab, Järvi übrigens auch. Dausgaard werde ich am Dienstag live im Konzerthaus mit der Achten erleben. Mal sehen, was ich dann sagen werde.

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Ich habe ja schon in den Threads zu den einzelnen Sinfonien gelegentlich was zu Järvis Aufnahmen geschrieben und erlaube mir die entsprechenden Beiträge (und die einiger anderer User) hier reinzukopieren.


    Später sag ich dann auch nochmal was zur CD mit der Fünften und der Ersten sowie zu einem Konzert mit der Pastorale, das ich in Köln gehört habe.



    Also:



    Zur 3. Sinfonie:


    Zitat

    Original von Zwielicht
    [aus dem Zusammenhang gerissen - es geht zunächst um das Finale: ] Sehr typisch für Järvi, dass er das Poco Andante etwas langsamer ausspielen lässt, als vom Metronom vorgeschrieben: zumindest bis zur Fortissimo-Apotheose des Themas entfaltet sich das wunderbar lyrisch, aber in keiner Weise verklebt. Nur die Trauermarsch-Reminiszenzen nach dem Höhepunkt könnte ich mir etwas untergründig erregter vorstellen.


    Einige weitere Stichworte zur Einspielung: relative Nähe zu den Metronomziffern (Zeiten der einzelnen Sätze: 15:24/13:18/5:31/10:54), eher kleine Besetzung (Streicher: 8/7/5/5/3), HIP-naher Klang (wenig Streichervibrato, teilweise Originalinstrumente), antiphonische Violinen (sehr deutlich hörbar!), enorme Transparenz, sehr natürlicher Klang. Schärfungen und gesangliche Partien kommen gleichermaßen zu ihrem Recht. Penible Befolgung der Dynamikvorschriften. Gespielt wird nach der del-Mar-Edition (also z.B. in der zweiten Variation des vierten Satzes in solistischer Streichquartett-Besetzung). Manch einer wird vielleicht an den dynamischen Höhepunkten die Massivität des Orchesterklangs vermissen, die bei einer solchen eher kleinen Besetzung naturgemäß nicht erreicht werden kann.


    Zu dieser Einspielung hat bereits Ben Cohrs weiter oben in diesem Thread einen Kommentar abgegeben (im Vergleich mit der Aufnahme des RSO Wien unter de Billy):





    Zur 4. Sinfonie:








    Zur 7. Sinfonie:






    Viele Grüße


    Bernd

  • Sagitt meint:


    Der Chef-Dirigent der Kammerphilharmonie ist inzwischen einer mit viel Beethoven Erfahrung.


    Schon mehrfach hat die Kammerphilharmonie den ganzen Zyklus gespielt.I Strasbuurg, Japan, USA- in Breme leider nicht.


    Es gibt so unendlich viele Aufnahme,dass es schwer fällt. wirklich und gänzlich herauszustechen.


    Bei den grossen haben wir Maßstäbe, die ein wirkliches Ereignis sind


    Scherchen mit der Eroica, die Kriegsaufnahmen von Furtwängler mit der 7ten und 9ten.


    Solche Sternstunden sind im normalen Aufnahmebetrieb eigentlich nicht zu erreichen.


    Dennoch lobt sich die Kammerphilharmonie mit vielen ausgezeichneten Kritiken.


    Recht so, es muss Geld verdient werden.

  • Mit den letzten verbleibenden Sinfonien vollendet sich Järvis Zyklus.


    Unlängst erschienen die 2. und 6. Sinfonie, die 9. ist bei Amazon für den 25. September anvisiert:



    Zu den Aufnahmen der 2. und 6. Sinfonie ist das gleiche anzumerken, wie zu den anderen Sinfonien auch: Transparentes, farbiges, sehr engagiertes, rhythmisch präzises Orchesterspiel und hervorragende Klangtechnik.


    Zugegeben, auch die "Pastorale" ist für mich eine der Sinfonien Beethovens, die "mehr sind als das Metronom". Meine "Maßstäbe" sind Karl Böhm (Wiener Philharmoniker), Sir Neville Marriner und seit neuestem Eugen Jochum (Concertgebouw Orchester). Alle drei schaffen es in besonderer Weise, den "semiprogrammatischen Charakter" der Sinfonie (es gilt Beethovens Ausspruch "Mehr Ausdruck der Empfindung als Tonmalerei"), das besondere "Flair" der Sinfonie herauszuarbeiten.


    Ich brauchte einige Hörsitzungen, um mich mit Järvis Leseart anzufreunden. Die fantastische, rhythmische Ausarbeitung der Durchführung im ersten Satz nahm mich gleich gefangen, aber insgesamt schien beim ersten Hören die "Empfindung" zu kurz zu kommen. Darunter schien mir insbesondere der letzte Satz bei aller stimmiger Tempogestaltung ein wenig zu leiden.


    Mittlerweile denke ich anders.


    Bei Järvi ist die "Pastorale" "absolute Musik". Die Kammerphilharmonie Bremen hat seinen Sitz in Norddeutschland, und den Norddeutschen haftet das Klischee an, es mit überschwänglichen Gefühlen nicht so zu haben... ;)


    Die Gefühlswelt, die Järvi offenbart, ist in der Tat nicht so offenkundig und strahlend wie bei Böhm oder Jochum, sie zeigt sich vielmehr in der Präzision und der Sorgfalt, mit der sich der Partitur angenommen wird. Es ist quasi die Freude "von innen heraus", die sich hier manifestiert, eine Hommage an ein Meisterwerk, dem sich ein besonders spielfreudiges Ensemble mit großer Akribie widmet.


    Die Interpretation der 2. Sinfonie kann imo nicht ganz mit dem hohen Niveau mithalten. Auch wenn Järvi sehr schnelle Tempi anschlägt, wirkt mir die ganze Sinfonie etwas "gebremst" (vergleichbares schrieb ich bereits zur 7. Sinfonie).
    Man höre zum Vergleich einmal Rafael Kubelik oder Karl Böhm (beide mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks und beide erschienen bei Audite). Beide sind zwar vom Tempo langsamer, aber entfachen für mich ein "größeres Feuer". Kubeliks Aufnahme wurde in einer zeitgenössischen Kritik "Beethovens Werther" genannt.


    "Stürmer und Dränger" ist Beethoven bei Järvi inhaltlich nicht, er ist zwar schnell, aber für mich zu kontrolliert. Aber das ist, um ehrlich zu sein, "Jammern auf sehr hohem Niveau"...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo Norbert,


    Deine und alle anderen Beiträge in diesem Thread zeigen das die Paavo Lärvi-Aufnahmen insgesamt doch nicht das ganz "heiße Eisen" sind, wie man zunächst meinen sollte.
    Das zeigt auch dein Schlußsatz:

    Zitat

    "Stürmer und Dränger" ist Beethoven bei Järvi inhaltlich nicht, er ist zwar schnell, aber für mich zu kontrolliert. Aber das ist, um ehrlich zu sein, "Jammern auf sehr hohem Niveau"...


    Ich habe auch andere TAMINO-Fremde Kritiken gelesen, die sogar Thesen aufstellen und seine Interpretationen als Anti-Karajan sehen:

    Zitat

    Die Bremer Kammerphilharmonie und Paavo Järvi haben hier eine vorzügliche Interpretation der 8. Symphonie Beethovens geliefert: transparent, schlank, klar, tänzerisch, elegant! Sehr gelungen!
    Wie andere Rezensionen hier ja schon zeigen, könnte man sich über die "Eroica" streiten. Für meinen persönlichen Geschmack ist das eine hervorragende Version der Eroica. Die kleine Besetzung dämpft genau das, was mir an der Eroica nicht gefällt, nämlich die laut dröhnenden Blech-Parts. Vielleicht bin ich hierfür kein repräsentativer Bewerter, da ich persönlich die Eroica zwar in Ordnung finde, sie aber diejenige unter Beethovens Symphonien ist, mit der ich mich mit Abstand am schwersten tue.
    Wer diese Symphonie wirklich liebt wird hier das Pathos oder, wie Herr Dr. Alberts es nennt, den Gigantismus vermissen. Es ist schon wenig Klangvolumen da. Auch ist Järvi insofern eine Art Anti-Karajan als er eher tendenziell einen Staccato-Stil pflegt, wo Karajan seinen berühmten Legato-Stil kultivierte. Für mich ist das für die Eroica genau das richtige. Aber ich kann verstehen, dass es nicht jedermanns Sache ist.


    Zitat

    Zitat zur Aufnahme der Eroica:
    Bei der Kammerphilharmonie klingt es wie die Fortsetzung von Haydn, bei der achten in Ordnung, bei der Eroica nicht. Bei dieser geht es um Wucht,auch Agressivität. Das Spielerische ist diesem Werk Feind, nein, an der Grenze des Spielbaren sollte es sein, Beethoven existentiell. Gewogen und zu leicht befunden( würden sie doch Haydn spielen,was entgeht uns da). Mit dieser Einschränkung eine akustisch auch hervorragend eingefangene Interpretation eines Spitzenensembles.


    Da frage ich mich auch, ob das jedermanns Sache ist, wenn die EROICA eher schlank als dramatisch klingt.
    Ähnliches berichtet ja auch Norbert von den Sinfonien Nr.2 und 7, die bei Järvi zu gebremst klingen - Hilfe !!! Nein, so nicht.


    Die Järvi-Aufnahmen scheinen uneinheitlich zu sein, denn die Aufnahmen der Sinfonien Nr. 4 und 8 werden einhellig gelobt, was auch Cassiodor unmissverständlich ausdrückt.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Sagitt meint:


    Ich habe Järvi ja nun schön öfters live gehört und kenne die Aufnahmen.


    Präzision ja, Extase nein. Das ist die Kurzfassung. Wer einen extatischen Beethoven liebt, wird zu Furtwängler oder Kleiber oder Scherchen greiffen und nicht zu Järvi, wem diffenzierte Zugänge zu der Sinfonik liegen, ist mit Järvi bestens bedient.


    Derzeit wahrscheinlich der Dirigent, der am häufigsten Beethoven spielt.

  • Hallo Wolfgang,


    sagitt hat es meiner Meinung nach exakt auf den Punkt gebracht: "Präzision ja, Extase nein."


    Ich finde nicht, daß Järvis Beethoven "uneinheitlich" ist, im Gegenteil. Bei allen Aufnahmen begeistern die ungeheure Transparenz und die Freude am Spiel. Ferner weiß Järvi durch eine kluge Tempodisposition zu gefallen.


    Nichts klingt verhetzt oder maniriert. Somit ist er quasi Gegenpol zu Zinman (bei dem ich öfter das Gefühl des rein "technischen Musizierens" habe) und grenzt sich auch von Norrington (Stuttgart) ab (weil eben dort einige tempomäßige Manieriertheiten für meinen Geschmack festzustellen sind).


    Ich habe bloß, namentlich bei der 2. und 7. Sinfonie, das Gefühl, Järvi hält zu sehr "die Zügel in der Hand".


    In den relativ unbekannten Aufnahmen der 2. mit Karl Böhm und Rafael Kubelik werden diese "losgelassen". Somit wird Beethoven nicht erst in der "Eroica" der "Revoluzzer", sondern schon in der zu oft zu betulich "haydnhaft" (ohne Joseph Haydn damit abwerten zu wollen) interpretierten 2. Sinfonie.


    Bei der 7. sind es Kleiber oder insbesondere Leibowitz, die aufzeigen, wie die "Apotheose des Tanzes" klingen kann - wenn man die 7. Sinfonie (wie Wagner) als solche sieht.


    Järvis Beethoven ist in Bezug auf Präzision, Spielfreude, Transparenz und Tempogestaltung für mich mit das beste, was derzeit auf dem Markt zum Thema "Beethoven-Sinfonie" zu kaufen ist. Aber nicht jede Aufnahme ist für mich die neue "Referenz".

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo Norbert, Sagitt und Zwielicht,


    ich bin so Neugierig auf dieses scheinbare "heiße Eisen", sodass ich seit gestern im Besitz der P.Järvi-CD´s mit den Sinfonien Nr.3&8, sowie 4&7 bin.
    Ich habe zuerst die Sinfonie Nr.8 gehört; dann Nr.7....


    Meine Eindrücke sind sehr zweispältig. Die zupackende Art mit kräftigen Akzenten und ganz guten Pauken bei der Sinfonie Nr.8 fand ich ja noch ganz gut. Aber insgesamt und besonders bei der Sinfonie Nr.7 geht durch die kleine Besetzung etliches an Orchesterfarben verloren.
    Fazit und ganz kurzes Statement: Es ist mir zu dünn !


    ;) :D :yes: Ich freue mich jetzt schon in Kürze meine Beethoven-Welt mit Karajan, Bernstein und Szell wieder in Ordnung zu bringen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Wolfgang,


    immerhin kannst Du jetzt mitreden ;) .


    Die vierte Sinfonie wird Dir allerdings gefallen, denke ich...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • ..
    ..
    Ich höre soeben die Siebte. Nicht schlecht, aber vom Hocker reißt es
    mich erstmal auch nicht. Die Flöten finde ich gut geführt, die Steicher
    hoppeln mir ab und an ein wenig zu sehr. --- So, jetzt kommt der 2.
    Satz, den ich ja sehr liebe. Bißchen schwachbrüstig, aber doch mit
    Emphase gespielt. Tempo gefällt mir, das Orgelartige am Anfang auch.
    Ich würde sagen: alles in allem interessant, aber nicht revolutionär.
    ..
    ..

  • also, ich wiederhole mich zwar, aber: ich weiß nicht, was an diesem järvi-beethoven so fantastisch sein soll .. vergleichbar mit den alten großtaten ist er sowieso nicht und auch zur zeit finde ich viel spannenderes: norrington (referenz vielleicht sowieso), dausgaard, antonioni etc.pp ..
    ich werde ihn mir nicht kaufen und das will was heißen bei mir ...

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Mit der 9. Sinfonie endet Järvis Zyklus.


    Zeit für mich, ein paar Worte über die Aufnahme zu verlieren.


    Noch mehr als die "Pastorale" entzog sich bis dato die 9. weitestgehend den "Metronomisierungsversuchen" und der "hippisierung" ;) . Zinman, Herreweghe, Norrington (wenngleich mir die spätere Stuttgarter Aufnahme insgesamt recht gut gefällt), Goodman und Co. sind unter dem Strich "gewogen und für zu leicht befunden".
    Ein dritter Satz zum Beispiel, der in elf bis zwölf Minuten "durchspurtet" wird, ist für mich alles andere aber kein "Adagio molto e cantabile" und später "Andante moderato").


    Einzig und alleine Michael Gielen hat es in meinen Augen geschafft, Beethovens Metronomangaben ernst zu nehmen und gleichzeitig aufzuzeigen, daß Beethovens letzte vollendete Sinfonie (für mich) das bedeutendste, berührendste, meisterhafteste, spannendste und erstaunlichste Stück Musik ist, das jemals geschrieben wurde (knapp vor Mahlers und Bruckners 9. und der "Missa Solemnis").


    Auch Järvi kann mich nicht in allen Belangen überzeugen, aber er bietet zum einen wieder einmal ein Musterbeispiel für Transparenz und Rhythmik und zum anderen steigert er sich in meinen Augen von Satz zu Satz und in seiner Interpretation der 9. Sinfonie endlich nicht mehr "kontrollierte Offensive", sondern "läßt los", läßt sein Orchester stellenweise entfesselt aufspielen.


    Der erste Satz (13'55'') ist für mich "nur schnell". Es herrscht bei mir das gleiche Gefühl, das ich zum Beispiel bei der 2. oder 7. Sinfonie habe: Zwar wird schnell und rhythmisch präzise gespielt, aber es fehlen die Gefühle, die Spannungsmomente. Ferner stört mich bei der kleinen Streicherbesetzung (9-8-6-6-4) die überdominante Pauke. Ein "Konzert für Pauke und Orchester", zum Beispiel zu Hören im Klimax des ersten Satzes, paßt nicht zum zurückhaltenden, kultivierten Musizieren, das Järvi und Orchester an den Tag legen.


    Das erste Mal allerdings horcht man positiv zu Beginn des Scherzos (13'28'') auf. Das eröffnende Motiv, das alle Streichegruppen durchläuft, wird fast kammermusikalisch dargeboten, die mit einsetzenden Holzbläser treten fast schon keck hervor, das folgende Tutti wird nicht als lärmend und wild, sondern fast als introvertiert, eher "schüchtern-schnell" empfunden.


    Zm ersten Mal fällt die (für mich) hervorragende, exemplarische dynamische Staffelung auf. Järvis "Ode an die Freude" ist nicht laut-überrumpelnd, sie ist filigran, ungemein "farbenfroh" und zeigt auf, daß es in der Partitur durchaus "pianissimo"-Stellen gibt.


    Das Staunen setzt sich im dritten Satz fort, genauer: Ich kam aus dem Staunen kaum mehr heraus.
    Mit einem Zeitmaß von 13'15'' geht Järvi diesen Satz tempomäßig sehr entspannt an. Zum Vergleich: Zinman durcheilt ihn in 11'31'', und Michael Gielen paßt bei 11'43'' auf, daß ja nicht zu viele Gefühle dargeboten werden ;) .


    Aber noch mehr als die relative Tempofreiheit begeistert das wunderschöne Zusammenspiel der einzelnen Orchestergruppen, beglücken die feingliedrigen Pizzicato-Stellen und erfreut der fast jenseitige Charakter, der dem Satz angedeiht. Die Musik scheint zu "schweben", etwas pathetisch läßt sich sagen, daß das "Elysium" hier schon erreicht wurde.
    Soll heißen: Traumhaft schön, so schön habe ich diesen Satz in noch keiner anderen Aufnahme gehört.


    Apropos "realtive Tempofreiheit": Diese ist auch zu Beginn des Finales (23'05'') zu hören, denn gar nicht so "Presto" wie erwartet und wie zum Beispiel bei Gielen zu hören, beginnt der Satz. Die Themenmotive der zurückliegenden Sätze klingen kantabel, das dominante "Freude, schöner Götterfunken"-Motiv wird dynamisch zurückhaltend vorgestellt.

    Der Satzbeginn erklingt sehr introvertiert. Dieser Charakter herrscht selbst dann noch vor als Matthias Goerne mit seinem Rezitativ beginnt.


    Auch dann, wenn in der Regel "gelärmt wird", nämlich in den Chorpassagen, setzt Järvi auf dynamische Abstufungen und auf Zurückhaltung, denn mit 40 Stimmen ist der wunderbar singende und intonierende Deutsche Kammerchor nicht üppig, aber gemessen an der Orchesterstärke angemessen besetzt.


    Das Solistenquartett singt keine Arien, sondern paßt sich dem Konzept an, sogar das "dünne Stimmchen" von Klaus Florian Vogt wirkt zumindest nicht vollkommen deplatziert (ist aber vom Timbre für mich trotzdem nicht sonderlich attraktiv, im Gegensatz zu den beiden wunderbaren Damenstimmen von Chrstiane Oelze und Petra Lang).


    Die letzten beiden Überraschungen folgen ganz zum Schluß der Sinfonie. Zum einen schleudern insbesondere die männlichen Chorsänger das abschließende "Brüder" ("überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen") schier heraus und sorgen für einen ungewohnt intensiven Effekt und zum anderen wird das Schlußprestissimo endlich einmal als solches verstanden und gespielt. Selbst Michael Gielen hält sich hier zurück, nicht aber Paavo Järvi, der sein fantastisches Orchester bis an die Grenzen der Spielbarkeit antreibt und somit fast für eine "neue Referenz" gesorgt hätte, wenn er schon im ersten Satz die Zurückhaltung aufgegeben hätte...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Das war der erste Zyklus meines Lebens, den ich mir peu a peu und nicht "en bloc" gekauft habe.
    Und das will was heißen!
    Gruß S.

    Einmal editiert, zuletzt von s.bummer ()

  • Ich finde Järvis Ansatz gut. Er ist stringent, was dazu führt, dass der eine oder andere überrascht ist, dass manche Sinfonien plötzlich gar nicht mehr so klingen wie gewohnt.
    Die Kammerphilharmonie spielt ausgezeichnet und Järvi hat ein feines Händchen für Tempi und Dynamik. Er spielt eben keinen Harnoncourt-Stil. Es ist alles sehr modern.
    Ich schätze Järvi sehr. Er ist vielseitig und hat ein sehr gutes Gespür für die jeweiligen Orchester. Er arbeitet ja auch beim RSO Frankfurt und in Cincinnati. Habe mir neulich Prokofievs 5. mit ihm und CinSO gekauft. Eine sehr klare, für mich schlüssige Aufnahme. Die Leutnant Kije-Suite ist das Schmankerl der CD.


    Järvi hat einen sehr schönen Kompromiss zwischen HIP und konventionell geschaffen und das gefällt mir gerade bei Beethoven sehr gut.

  • Soeben habe ich in einige dieser Aufnahmen hineingehört.
    Ich kann mich der allgemein hier geäusserten Begeisterung überhaupt nicht anschliessen. Wenn ich hier lese, kommt es mir vor, als würde ich mich im Märchen mit des Kaisers neuen Kleidern befinden.


    Sicher, zu bewundern ist eine grosse handwerkliche Perfektion im Zusammenspiel bei jedem Detail, die vom Orchester und vom Dirigenten da vorgeführt wird.
    Ansonsten lässt mich aber nahezu alles musikalisch sehr kalt.


    Hier stichwortartig einige erste Eindrücke:
    Der strahlende Finalsatz der 5. strahlt nicht, der erste Satz kommt zwar irgendwie modisch- falschverstanden-HIPig kurz, aber gleichzeitig so etwas von belanglos und harmlos daher.
    Der nahezu durchgehende Verzicht auf jegliches Streichervibrato ist auch ein pures HIP-Missverständnis( ebenso wie das Dauervibrato als Klangbeigabe) und lässt die emotionalen Noten gewisser kantabler Figuren blass aussehen, ja sie wird verhindert. Beispiel Anfang 2. Symphonie, Streichermelodie nach dem insgesamt zum zweiten Mal unison vorgetragenen punktierten Motiv.


    Der erste Satz der 6. ist virtuos, viel zu schnell und doch dabei so langweilig. Spannung und das Erwachen heiterer Gefühle kann ich da kaum hören.
    Zum Vergleich habe ich Wand angespielt: Das ist wirklich eine ganz andere Welt, bei der die Musik wirklich lebt. Ähnlich habe ich es im Vergleich derselben Interpreten bei der 1. gehört.Bei Wand lebt und atmet es, man wird in die Musik mit hineingenommen. Von Järvi bekommt man da eher eine perfektionierte und scheinbar HIP-gestylte Oberfläche geboten.
    Kunsthandwerk....


    Überhaupt kommt mir Vieles hier wie eine äusserst perfektionierte Kammermusik vor, die vor lauter Perfektion keine Luft mehr zum Atmen, zum Leben hat.
    Klangrednerische Gestik, Dialog, Dramatik, Leiden, Sieg? Höre ich bei Anderen, aber nicht hier.
    Beethoven klingt mir da manchmal fast schon so harmlos wie irgendein Lückenfüller- Konzertsatz, der von einem Klassikradiosender vor den Nachrichten noch schnell eingeschoben wird - Dittersdorf oder dergleichen.


    Zitat


    Original von Luis.Keuco
    Die Kammerphilharmonie spielt ausgezeichnet


    ...ohne Zweifel richtig, was das Handwerkliche anbelangt. Da ist es traumhaft gut zusammen.


    Zitat

    Järvi hat ein feines Händchen für Tempi und Dynamik. Er spielt eben keinen Harnoncourt-Stil.


    Tempo und Dynamik müssen sich an den Affekten und an den Aussagen der rhetorisch gemeinten Figuren ( ich höre und sehe da nie einfach Noten die perfekt und durchsichtig aufeinander zu folgen haben, sondern Notengruppen und Figuren, die eine Aussage haben) orientieren.
    Das vermisse ich bei Järvi schmerzlich. Genau in diesem Bereich ist jedoch Harnoncourt der Grossmeister. Wenn man bei Harnoncourts Interpretationen nur einige scharfe Trompetenakzente mitbekommt, aber nicht die - im Falle der aufgenommenen Beethoven Symphonien ebenfalls vorhandene- unglaublich fein ausgestaltete Kleindynamik und Artikulation, die erst durch die entsprechend klug gewählten Tempi ermöglicht wird, dann liegt das nicht an Harnoncourt.


    Zitat

    Es ist alles sehr modern.


    Ja, in der Tat irgendwie sehr zeitgeistig, weshalb ich eine geringe Halbwertzeit voraussage.
    Ich freue mich da ehrlich gesagt schon auf den zu erwartenden Anachronismus Thielemanns. Wenn das lebt und im furtwänglerischen Sinne unter die Haut geht, dann wird mir das trotz der wahrscheinlich zu erwartenden Missachtung von HIP-Regeln immer noch vielfach besser gefallen, als diese 2009er-Järvi-Interpretationen. Und das sage ich als HIP-Freund.
    Ich mag es lieber, wenn einer Profil zeigt, wenn er aneckt, als wenn alles unangreifbar perfektioniert daherkommt, was langfristig nur den Eindruck gepflegter Langeweile erzeugt.
    Aber den Thielemann-Zyklus müssen wir ja erst noch abwarten....schade, dass er ihn nicht gleich mit den Berlinern machen konnte, denn die sind doch eigentlich prädestiniert für diesen Klang.
    Vielleicht verspreche ich mir da auch von ihm zu viel.


    Zitat

    Järvi hat einen sehr schönen Kompromiss zwischen HIP und konventionell geschaffen


    Finde ich aufgrund dessen, was ich bisher hörte gar nicht. Der Satz träfe viel eher auf Harnoncourt zu.
    Wenn das COE unter ihm historisch informiert spielt, dann liesst man darüber hier im Forum irgendetwas von "weder Fisch noch Fleisch", "unglaubwürdig" und ich weiss jetzt nicht, was sonst noch.


    Wenn Järvi ein "normales" Kammerorchester wie ein Orchester mit Originalinstrumenten klingen lässt, dann ist es ein toller Kompromiss.
    Das leuchtet mir nicht wirklich ein. Es ist von der Spielweise her das, was so mancher heute unter HIP im Jahre 2009 (miss)versteht. Konventionell sind nur die Instrumente, die aber auch schon bald wie alte Instrumente klingen - man sieht, dass der Musiker wichtiger ist als das Instrument.
    Von den Aufführungstraditionen a la Furtwängler, Karajan, Jochum, Böhm, Bernstein, Wand, Kleiber, etc. höre ich da eigentlich so gut wie nichts.
    Einen "sehr schönen Kompromiss" kann ich bei näherem Hinhören also nicht entdecken. Wirklich HIP finde ich bei diesen Symphonien - unabhängig von den verwendeteten Instrumenten- die Aufnahmen der Herren Brüggen, Harnoncourt, Gardiner und auch Herreweghe.



    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Lieber Glockenton,


    was Järvi und Harnoncourt u.a. eklatant voneinander unterscheidet, ist die Orchesteraufstellung.


    Ich schätze Harnoncourts Beethoven durchaus, aber man kann in meinen Augen nicht einerseits für sich reklamieren, "daß jede Mitteilung, die von einem Komponisten auf uns kommt, Wesentliches über das Werk aussagt, wesentlich für sein Verständnis ist" (Harnoncourt im Beiheft zu den Beethoven-Sinfonien) und daß der "Bewußtseinszustand der Entstehungszeit der Werke einigermaßen" versucht wurde "aufzuspüren" und ihn andererseits so aufzuführen, wie es erst nach dem 2. Weltkrieg "Mode" geworden ist.


    Beethoven nicht in der Orchesteraufstellung zu spielen, für die die Werke komponiert wurden, nämlich u.a. mit antiphonal aufgestellten Violinen, heißt für mich, die kompositorische Intention nicht zu beachten.


    Man kann, siehe Wand, Jochum, Böhm, Karajan, Harnoncourt usw. Beethoven hervorragend aufführen mit der "modernen, amerikanischen" Orchesteraufstellung, aber der Transparenzgewinn, der mit der "deutschen" Orchesteraufstellung erzielt wird, ist (nicht nur) bei Beethoven immens (siehe Gielen, Kubelik, Järvi, u.a.).

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Lieber Norbert,


    dass die deutsche Orchesteraufstellung vorteilhaft ist, möchte ich nicht in Frage stellen. Ich weiss, dass Harnoncourt seine Concentus-Leute so sitzen lässt, dass z.B. die zweiten Geigen rechts vom Dirigenten platziert sind, also gegenüber den ersten.
    Obwohl ich schon sehr als "Auch-Audiophiler" auf so etwas wie die Holografie im Stereobild achte, muss ich gestehen, dass ich mir dieser Aspekt noch nicht bewusst geworden ist.
    Es kann ja auch sein, dass das COE nicht so sitzen wollte...wer weiss?
    Ich meine irgendwo gelesen zu haben, dass Harnoncourt eigentlich die deutsche Aufstellung bevorzugt.
    Bei Barockmusik ist es natürlich je nach Werk etwas ganz anderes.


    Die Musiker optimal im Sinne eines transparenten Klanges hinzusetzen, ist ja das Eine, aber m.E. nun doch nicht der wichtigste aller Aspekte bei der Interpretation. Die eigentliche Frage, wie denn die Noten nun gespielt wurde, hängt vielleicht ein bisschen damit zusammen. Die klangliche Aussenwirkung etwas mehr.
    Aber die künstlerische Interpretation selbst war jetzt der eigentliche Gegenstand meiner Anmerkungen zu Järvis Aufnahmen, siehe oben.
    Und da kann ich es bisher leider nicht so begeistert mitpreisen, wie es hier im Thread Tenor zu sein scheint.
    Es ist eine faszinierende Perfektion zu erkennen - wie bei einer Schweizer Uhr. Ich möchte wie ein Buchprüfer "sachlich und rechnerisch richtig" unterschreiben.
    Aber wo bleibt die echt empfundene und vermittelte Leidenschaft?
    Diese Musik muss deshalb leben und atmen, weil man als Hörer dieser Symphonien durch so viele unterschiedliche Erlebnisse und Affekte gerissen werden kann und auch durch eine entsprechende Spielweise auch sollte.
    Da gibt es unbändigen Jubel, Tanz, Begeisterung, Idylle, Abgründe, das Grauen, Kampf, Ängste, Leid, majestätische Empfindungen, Idealismus und noch viel viel mehr.


    Was hilft es, wenn ich das in einer Fassung höre, bei der unter der handwerklich hervorragende gestaltete Oberfläche irgendwie nicht viel steckt ausser der Hoffnung, dass die Musik bei einer solchen technischen Vortragsart schon für sich selbst sprechen kann, und keine "überzeichnende" Nachhilfe eines irgendwie grossen Dirigenten-Interpreten braucht?


    Von meinem Empfinden her beginnt aber mit Beethoven eine Zeit, bei der die genau diese profilierten Vorgaben eines mit musikalischen Feuer erfüllten Charakter-Dirigenten wirklich wichtig werden.
    Ich meine - wie gesagt- gar nicht einmal nur immer Harnoncourt als positives Gegenbeispiel, mit dessen 3. 5. 5. 7. und 9. ich zwar in einzelnen Aspekten gut leben kann, die ich aber insgesamt nicht so überzeugend finde, wie etwa die 6. von Wand oder die 3. 5. und 9. mit Karajan.
    Ich muss eigentlich sagen, dass ich mit fast allen mir bekannten "Standard-Interpretationen" besser leben kann, als mit diesen Järvi-Aufnahmen.
    Da brennt es irgendwie nicht...
    Selbst eine recht "konventionelle" Masur-Aufnahme spricht mich da im Moment noch mehr an ( denke jetzt an die 6. )


    Das ist aber noch ein erster Eindruck.
    Bei Gelegenheit werde ich mir das noch öfter anhören.
    Jetzt muss ich erst einmal zum Orgelüben fahren...



    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Glockenton


    Es kann ja auch sein, dass das COE nicht so sitzen wollte...wer weiss?


    Hm, mit Verlaub, lieber Glockenton, diese spekulative Frage halte ich für sehr weit her geholt ;) . Ein Rafael Kubelik hat es geschafft, das Boston Symphony Orchestra in der deutschen Orchesteraufstellung spielen zu lassen (Smetana, "Mein Vaterland", Beethovens 5.), da sollte es einem Harnoncourt gelingen, ein europäisches Orchester zur ursprünglich gedachten Sitzordnung zu überzeugen...



    Zitat


    Und da kann ich es bisher leider nicht so begeistert mitpreisen, wie es hier im Thread Tenor zu sein scheint.


    Das muß ja auch nicht sein.


    Zitat

    Es ist eine faszinierende Perfektion zu erkennen - wie bei einer Schweizer Uhr. Ich möchte wie ein Buchprüfer "sachlich und rechnerisch richtig" unterschreiben.


    Dieses Gefühl habe ich erheblich mehr bei Zinman als bei Järvi, und selbst bei Zinman gibt es stellenweise begeisternde Momente.


    Zitat

    Aber wo bleibt die echt empfundene und vermittelte Leidenschaft?
    Diese Musik muss deshalb leben und atmen, weil man als Hörer dieser Symphonien durch so viele unterschiedliche Erlebnisse und Affekte gerissen werden kann und auch durch eine entsprechende Spielweise auch sollte.
    Da gibt es unbändigen Jubel, Tanz, Begeisterung, Idylle, Abgründe, das Grauen, Kampf, Ängste, Leid, majestätische Empfindungen, Idealismus und noch viel viel mehr.


    Ich empfinde es als legitim, Beethovens Sinfonien so zu sehen und zu beschreiben.


    Zitat

    Was hilft es, wenn ich das in einer Fassung höre, bei der unter der handwerklich hervorragende gestaltete Oberfläche irgendwie nicht viel steckt ausser der Hoffnung, dass die Musik bei einer solchen technischen Vortragsart schon für sich selbst sprechen kann, und keine "überzeichnende" Nachhilfe eines irgendwie grossen Dirigenten-Interpreten braucht?


    Ich denke, es ist nicht Järvis Intention gewesen, in die Musik etwas "hineinzuinterpretieren", er wollte wohl bewußt (abgesehen von den letzten beiden Sätzen der 9. Sinfonie) die Musik "für sich selbst sprechen lassen".


    Das Ergebnis stimmt mich nicht immer zufrieden, was in den diversen Beiträgen hier verdeutlicht wurde, aber ich empfinde es unter dem Strich erfreulicher und auch ehrlicher, zu zeigen, was ist als das, was sein könnte.


    Es ist nicht nur bei Beethoven ein sehr schmaler Grat zwischen "Gefühlswelt erleben" und "Sentimentalität". Einen dritten Satz der 9. Sinfonie zum Beispiel in fast 18 Minuten in die Gefühlswelt eines Gustav Mahler eintauchen zu lassen, gelingt einem Leonard Bernstein; aufzuzeigen, daß die "Sturm und Drang-Zeit" Beethovens nicht erst bei der "Eroica", sondern schon in der 2. Sinfonie beginnt, gelingt Kubelik oder Böhm in den jeweiligen Aufnahmen bei Audite vortrefflich; die Wärme und heitere Ausgelassenheit der "Pastorale" beschreiben wieder Böhm (Wiener Philharmoniker) und zum Beispiel Eugen Jochum (Concertgebouw) besonders exemplarisch, aber es gibt noch viel mehr Gegenbeispiele, in denen ich lediglich das Gefühl habe, "Thema verfehlt" (Karajan im zweiten Satz der 7. Sinfonie aus dem 1977er Zyklus gehört z.B. mit dazu).


    Järvi hätte hier und dort "die Bremse lösen können", so wie es die oben genannten Dirigenten zum Beispiel gemacht haben, denn dort, wo sich Järvi traut, ist er hinreißend.


    Der schon erwähnte 3. Satz der 9. Sinfonie ist ein Musterbeispiel für "loslassen können". Gerade weil Järvi sich ein bißchen mehr Zeit nimmt, als es bei den Temporelationen angebracht gewesen wäre, erreicht er eine Gefühlsebene, die ich in noch keiner anderen Aufnahme erlebt habe.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Ich finde es jedes Mal wieder faszinierend, wie dezidiert sich hier zT mit der Musik auseinandergesetzt wird und wie verschieden die Ergebnisse dabei sind.


    Ich habe vor ein paar Monaten, u. a. auch wegen des Forums, begonnen, mich mit den neueren Beethoven-Aufnahmen zu beschäftigen, die mit Kammerorchestern aufgenommen sind. Zusätzlich hatte ich noch die CD-Besprechung von Antoninis Aufnahme von Beethovens 3.+4. im Kopf und den Bericht in der Gramophone.
    Neben Järvi habe ich Boyd mit der Manchester Camerata und eben Antonini mit dem Kammerorch. Basel auf CD gehört.
    Es ist ein anderes Musizieren und man kann es aus meiner Sicht eben nicht, wie von Glockenton ausführlich dargestellt, mit den 70er und 80er Großorchesteraufnahmen vergleichen. Das Kammerorchester muss doch zwangsläufig schmaler klingen, allein wegen der Besetzung.
    Ich kann dazu nur anmerken, dass ich mir MAhlers 4. in der Kammerorchester-Version gekauft habe, ebenfalls mit der Manchester Camerata. Ich gebe auch zu, dass ich das u.a. wegen Kate Royal gemacht habe, die im 4. Satz sehr schön singt. Aber ansonsten bin ich natürlich erschrocken, weil ich da keinen Mahler zu hören glaubte, weil alles so klein und leise klingt. Da brummen zu Beginn nicht die Celli wie Hummeln über der Wiese, weil eben nur halb so viele Celli spielen. Und die Flöte geht nicht im Streicherklang wieder unter, sondern ist viel prominenter. Das ist alles sehr ungewohnt, aber durchaus interessant. Ich will deshalb nicht auf Bernstein, Chailly, Inbal verzichten. Nicht zu vergessen, Haitink und C Schäfer. Aber sich damit auseinanderzusetzen, wie Mahler mit kleinem Orchester klingt, finde ich spannend.
    Vor ein paar Jahren habe ich mir als eine der ersten Klassik-CDs Perahias Aufnahme des Beethoven-SQ op 127, arr. für Streichorchester gekauft. Da musiziert er recht gelungen mit der ASMF. Vergleichbar ist das natürlich überhaupt nicht mit dem SQ selbst. Allein schon wegen des Klaviers. Trotzdem schön.
    Es ist eine neue und - da gebe ich Glockenton recht - moderne Lesart Beethovens, die Järvi vorschlägt. Mag sein, dass in 5 Jahren sich keiner mehr dafür interessiert. Das kann aber auch mit Thielemanns Zyklus, der sicher die "alten Zeiten" hochleben lassen wird, auch passieren.


    Das Klangbild eines Kammerorchesters auf modernen Instrumenten ist zunächst mal ungewohnt, weil es recht knackig klingt, dabei aber eben nicht voll. Das wirkt sich auf die Tempi und die Dynamik aus. Da kann kein Karajan bei rauskommen. Vielleicht bin ich schon zu sehr im 21. Jht angekommen, aber ich finde, dass ein solcher Beethoven eben modern ist und gut hörbar. Ich schmeiße deshalb Lenny oder HvK nicht weg.
    Wer den Skrowaczewski-Zyklus kennt, weiß aber, dass man auch mit einem konventionellen Orchester eine durchaus luftige und gar nicht langweilige und ebenfalls moderne Lesart produzieren kann. Wir haben uns an einen Beethoven-Klang gewöhnt, bei dem man schnell ins Manisch-Depressive kippt. Das Tiefe wird SCHWER und BEDEUTSAM, das Hohe dann aber auch schnell mal ein bisschen überdreht, weil die Geigen zum Galopp ansetzen. Ich finde, dass Järvi das ganz gut ausgleicht und einen Mittelweg findet, der nicht so zu Übertreibungen neigt. Ob das echter Beethoven ist, weiß ich auch nicht, aber keiner von uns kann sagen, wie das klingen müsste.


    Zu den angesprochenen HIP-Alternativen:
    Bei Harnoncourt wirkt mir manches eben übertrieben und die Unterschiede kommen bei Originalinstrumenten noch stärker zur Geltung (insbes. Streicher vs Bläser).
    Brüggen habe ich mal live mit Haydn in der Münchner Philharmonie erlebt. Das war leider kein Genuss, seither bin ich nicht so sehr sein Freund. Vielleicht entgeht mir da bei Beethoven was, aber mein Beethovenregal ist ja schon gut gefüllt.
    Gardiner wäre vermutlich eine HIP-Alternative für mich, aber das muss im Moment einfach nicht sein.


    Und zuletzt was zu Zinman:
    Ich habe es schon mehrfach geschrieben und schreibe es jetzt nochmal, auch wenn es nicht zum Thema gehört und ich das sonst gern in einem neuen Thread diskutieren oder weiterdiskutieren würde: Zinman wird überschätzt. Ich finde an Zinmans Aufnahmen wirklich nichts, was kaufenswert wäre. Ich habe Skrowaczewskis 9. mit Solti verglichen, weil mich die Solisten im Vergleich, insbes. Dasch vs. Norman, interessierten. Und dann dachte ich, dass ich eigentlich auch mal bei Zinman reinhören könnte, den mir Schwiegervater bei einer seiner Regalentrümpelungen überlassen hatte. Da war ein Klassenunterschied zuungunsten Zinmans zu hören. Alles lahm, überhaupt nicht zwingend. Vielleicht findet man das in Texas auf der Ranch, beim Blick in den Sonnenuntergang und very laid back toll. Aber ein solch zentrales Werk kann man in Europa nicht so geben. Und das trifft auch für die anderen Sinfonien zu, die ich dann noch verglichen habe: Die 5. gegen Kleiber, die 3. gegen Giulini (und der ist ja eher träge). Da meint man bei Zinman immer, man müsste mal Feuer legen, vielleicht zieht dann die Spannung etwas an. Ich verstehe, dass die Amerikaner auch gern einen guten Dirigenten hätten, Bernstein ist tot, Levine ständig krank, Nagano in Kanada. Aber Zinman ist nicht derjenige, der Beethoven auf Topniveau hebt. Mahler will ich von ihm schon gar nicht hören. Da interessiert mich Gilberts neue Aufnahme mit dem NYPO deutlich mehr, vielleicht reisst der was.

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Und das trifft auch für die anderen Sinfonien zu, die ich dann noch verglichen habe: Die 5. gegen Kleiber, die 3. gegen Giulini (und der ist ja eher träge).


    Giulini ist tempomäßig zwar durchaus eher auf der langsamen Seite, aber für mich alles andere als "träge"... ;)

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Angeblich war das COE tatsächlich die deutsche Sitzordnung so wenig gewohnt, daß es nicht geboten schien, u.a. da damals einige der Sinfonien zum ersten Mal von diesem Orchester einstudiert wurden und die Aufnahmen ja live gemacht wurden, diese Neuerung durchzusetzen. Kommt mir zwar auch etwas seltsam vor, aber das behauptete jemand in der englischsprachigen Newsgroup, der angeblich Harnoncourt in einem Interview persönlich danach gefragt hat.
    Für mich auch ein Nachteil dieser Aufnahmen, die ich besonders bei 1-4, 7+8 dennoch hervorragend finde. (Die anderen drei müßte ich mal wieder hören; ich weiß noch, daß ich von der 5. irgendwie nicht so begeistert war (nicht "massiv" genug, die 6. mag ich eh nicht besonders. Von der 9. war ich, obwohl auch manchmal ungewöhnlich, recht angetan, aber die habe ich, wie gesagt, seit Jahren nicht mehr gehört)


    (Mein Interesse an Beethoven-Vergleichen ist, jedenfalls bei den Sinfonien, momentan zu niedrig, als daß ich Harnoncourts Aufnahmen für einen erneuten Eindruck anhören möchte; ich habe sie allerdings damals kurz nach dem Erscheinen gekauft und früher ziemlich oft gehört.)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe noch einmal in die Järvi-Aufnahmen gehört und muss zugeben, dass die Art der trocken-knackigen Darstellung auch so seine Reize hat.
    Die spieltechnische Präzision und Durchhörbarkeit ist faszinierend. Auf jeden Fall hat das Orchester hier eine erstklassige Visitenkarte abgegeben.
    Auch wenn mir nicht auf Anhieb alles bei dieser Interpretation gefallen will, merke ich schon, dass es nicht einfach irgendeine Aufnahme zu sein scheint. Sie hat zumindest im ausgehenden ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts etwas zu sagen.
    Wenn die Hörner nicht mehrfach besetzt, "schicksalshaft" aus der Tiefe des Raumes kommen ( wie etwa die Bläser bei der Tannhäuser-Ouvertüre...) sondern auf einmal knackig direkt und präsent ihr Thema des dritten Satzes der 5. pfeffern, dann ist das ein ganz anderer ( nicht "besserer" Ausdruck, ein anderer Charakter als etwa bei Karajan, den ich hier aber trotzdem wohl immer noch am liebsten höre.
    Meine Kritik an der zu sparsamen Vibratobehandlung ( an manchen Stellen müsste da zur Ausdruckssteigerung, aus Gründen der Emphase etwas mehr hin, keineswegs wünsche ich mir ständige Fieberschauer), an dem viel zu schnellen Tempo des ersten Satzes der 6., und daran, dass mir manche Figuren einfach nicht genug atmend ausgespielt/gekostet werden ( keine Zeit = modern...!) werde ich wohl auch dann aufrecht erhalten, wenn mir mit der Zeit immer mehr gute Dinge auffallen.


    Wie gesagt, ich habe bisher meine ersten Eindrücke geschildert und setze meinen vorherigen Beiträgen hinzu, dass für mich die Aufnahmen jedenfalls interessant und bemerkenswert klingen.


    Es wundert mich überhaupt, zu was für unterschiedlichen Ergebnissen die Dirigenten kommen und dass die Musik das hergibt.
    Man kann jedenfalls wohl nicht von einer einzig möglichen Sicht sprechen ( so ist es ja immer...)
    Aber wenn man nach dem Durchhören der Symphonie felsenfest überzeugt ist, hier die einzig wahre und richtige Darstellung gehört zu haben, dann hat der Interpret eine gute Arbeit gemacht.


    Es kann ja sein, dass man sich am nächsten Tag sich eine andere CD auflegt, einen anderen Ansatz hört, und dann sagt: "nun ja, so kann man es auch sehr gut machen."
    Wenn ich es selbst zu interpretieren hätte, würde ich in einer Frühphase der Vorbereitung mir alle möglichen guten Aufnahmen anhören und vielleicht einige Notizen machen. Man lebt nicht im luftleeren Raum, und es ist ein Unsinn, wenn man meint, dass man selbst so genial ist, dass man keinen Input, keine Ideen von Anderen mehr bräuchte.
    Dann allerdings würde an einem anderen Projekt arbeiten, alles vergessen und zu einem späteren Zeitpunkt anhand der Noten etc. meine eigene Interpretation und Klangvorstellung entwickeln. Ich kann nur aus Erfahrung berichten, dass es für eine überzeugende Aufführung sehr wichtig ist, dass jeder Ton aus dem eigenen Verständnis und Empfinden heraus hervorgebracht wird. Man muss als Interpret in allen Details überzeugt sein, dass es nur so und nicht anders gehen kann - das nur nebenbei.


    Die Frage ist immer, ob das, was hier Dirigenten mit unterschiedlicher Gewichtungen an Aspekten beleuchten, seriös als "aus der Beschäftigung mit der Musik selbst und ihrem Umfeld heraus entstanden" gelten kann, oder ob es unpassend/aufgesetzt ist.
    Da Beethovens Symphonien eben sowohl mit dem Barock als auch mit Wagner, Brahms etc. genetisch verbunden ist, scheint es mir so zu sein, dass sehr verschiedene stilistische Sichtweisen legitim und vertretbar sind.
    Die Gewichtung einzelner Aspekte ist immer auch eine Sache des Geschmacks.
    Man wird immer bestrebt sein,möglichst allen erkannten musikalischen Paramtern gerecht zu werden, wobei klar ist, dass man nie eine endgültige, mustergültige perfekte Interpretation erreichen kann, obwohl man es immer neu versuchen muss.
    Man kann z.B. probieren, dass luftig Durchsichtige mit dem Massiven und dem Wuchtigen innerhalb eines Satzes einer Symphonie zu vereinen. Je nach Orchester wird es da Bereiche geben, in denen beides bis zu einem gewissen Grad geht. Es gibt aber auch Grenzen - denn ein Kammerorchester kann nicht die Wucht des grossen Orchesters entfalten, und umgekehrt kann das Kammerorchester wieder Dinge tun, die dem Symphonieorchester schwerer fallen.


    Die unterschiedlichen Sichtweisen könnte man mit dem wechselnden Outfit einer schönen Frau vergleichen. Es ist immer dieselbe Frau, aber je nach dem, was sie anhat, wirkt sie immer jeweils etwas anders.
    Und wie es so bei der Bekleidung ist, kann man zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen kommen: Manches ist "grenzwertig", "geht gar nicht", "langweilig", "aufregend", "genial","kühl ( =cool ;) )" .
    Bestimmte Bekleidung steht der Dame nicht, andere Sachen wirken wie angegossen. Nicht alles fällt einfach unter den schwer greifbaren Begriff "Geschmacksache", denn es gibt immer auch Bereiche, in denen man einfach nur von geschmacklos sprechen muss.


    Ganz ähnlich ist es bei der Interpretation grosser Musik....


    Järvis Aufnahme ist eine vom HIP-Stil durchgezogene Sichtweise, die auf modernen Instrumenten realisiert wurde.
    Ähnlich ist es auch bei Herreweghe.
    Deswegen folgende Frage:
    Gibt es hier jemanden, der sich aufgrund der Kenntnis beider Einspielungen zutraut, Järvis-Interpretationen im Verhältnis zu Herreweghes Beethoven-Aufnahmen zu diskutieren und zu bewerten?


    Da ich beide Aufnahmen nicht besitzte, würde mich da das ein oder andere externe Meinungsbild interessieren.



    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Angeblich war das COE tatsächlich die deutsche Sitzordnung so wenig gewohnt, daß es nicht geboten schien, u.a. da damals einige der Sinfonien zum ersten Mal von diesem Orchester einstudiert wurden und die Aufnahmen ja live gemacht wurden, diese Neuerung durchzusetzen. Kommt mir zwar auch etwas seltsam vor, aber das behauptete jemand in der englischsprachigen Newsgroup, der angeblich Harnoncourt in einem Interview persönlich danach gefragt hat.


    Wenn's denn so sein sollte (was ich grundsätzlich nicht bezweifele), dann würde es mich ziemlich wundern.


    Zum einen, weil Harnoncourt nicht gemeinhin als jemand gilt, der bereit ist musikalische Kompromisse einzugehen und zum anderen, weil das Chamber Orchestra of Europe kein Laienorchester darstellt.


    Gustavo Dudamel hat unlängst sein Eröffnungskonzert als Chefdirigent des LA Philharmonic Orchestra gegeben. Es wurde u.a. Mahlers 1. Sinfonie gespielt und das in der deutschen Orchesteraufstellung.


    Das Orchester dürfte die Sinfonie "im Schlaf beherrschen", aber kaum jemals in der deutschen Orchesteraufstellung gespielt haben. Da wundert es mich sehr, daß Mitglieder europäischer Orchester Schwierigkeiten mit der Sitzordnung haben sollten.


    Sei's drum...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler



  • Wie gesagt, weiß ich keine Details, zunächst kam es mir auch sehr unglaubwürdig vor. Das COE ist sicher ein hervorragendes Kammerorchester, aber sie beherrschten (als Ensemble) damals die Sinfonien eben nicht im Schlaf und waren anscheinend die deutsche Sitzordnung überhaupt nicht gewohnt. Europa hin oder her, die Sitzordnung wurde vorübergehend (auf Tonaufnahmen) kaum praktiziert (gibt es *irgendeine* Aufnahme von Bernstein, Karajan oder Solti, gleich mit welchem Orchester in der "deutschen"?). Wie gut die Geigen bei Dudamel zusammen waren, weiß ich überdies nicht ;) Es ist anscheinend bei den eben auch nicht gerade seltenen Passagen, in denen die Geigen mehr oder minder dasselbe spielen, durchaus schwieriger in der deutschen Aufstellung. Ich habe von der Praxis ja keine wirkliche Ahnung. Aber ich könnte mir vorstellen, daß eine Perfektion im Zusammenspiel, die nicht zuletzt durch die Schallplatte selbstverständlich wurde, bei der amerikanischen Anordnung leichter zu erreichen ist.
    Harnoncourts Mozart und Haydn mit dem Concertgebouw erklingt ebenfalls in der "amerikanischen" Sitzordnung.
    Bei Carlos Kleiber sitzen die 2. Geigen der "Wiener" in der 7. Beethovens rechts; in der 5., wo keine solch offensichtlichen "Stereo-Effekte" vorkommen, sitzen wieder alle Geigen links vom Dirigenten. Daß die Wiener die nicht auch anders hingebracht hätten, schließe ich mal aus...


    Insgesamt scheint mir daher bei einem excellenten, aber eben mit recht jungen Musikern besetzten Orchester (ich weiß auch gar nicht, ob das Ensemble so dauerhaft zusammen spielt wie andere Orchester) die Geschichte einigermaßen nachvollziehbar.


    "http://tinyurl.com/ya9t2af" (Message #12 u. folgende)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Wie gesagt, weiß ich keine Details, zunächst kam es mir auch sehr unglaubwürdig vor. Das COE ist sicher ein hervorragendes Kammerorchester, aber sie beherrschten (als Ensemble) damals die Sinfonien eben nicht im Schlaf und waren anscheinend die deutsche Sitzordnung überhaupt nicht gewohnt.


    Das COE besteht aus Mitgliedern von Sinfonieorchestern, Solisten, Mitgliedern von Kammerorchestern und Musikprofessoren ("http://www.coeurope.org/biography.php").


    Es arbeitet projektezogen, also nicht das ganze Jahr zusammen ("http://de.wikipedia.org/wiki/Chamber_Orchestra_of_Europe").


    Natürlich ist eine Erfahrung (oder Nicht-Erfahrung) mit einer bestimmten Orchesteraufstellung ein starkes Argument, aber andererseits sind Gewohnheiten bekanntlich dazu da, um mit ihnen zu brechen ;) .


    Ich kenne nicht die genauen Umstände, unter denen die Live-Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien unter Harnoncourt entstanden sind. Die Aufnahmen wurden am 01., 03., 05. Juli 1990 und am 21. Juni 1991 mitgeschnitten, wie lange vorher geprobt wurde z.B., entzieht sich meiner Kenntnis.
    Bei entsprechender Probendauer und -anzahl, so bin ich mir sicher, wäre es Harnoncourt sicher gelungen, die Musiker "neugierig" auf die deutsche Orchesteraufstellung zu machen.



    Zitat

    Es ist anscheinend bei den eben auch nicht gerade seltenen Passagen, in denen die Geigen mehr oder minder dasselbe spielen, durchaus schwieriger in der deutschen Aufstellung. Ich habe von der Praxis ja keine wirkliche Ahnung. Aber ich könnte mir vorstellen, daß eine Perfektion im Zusammenspiel, die nicht zuletzt durch die Schallplatte selbstverständlich wurde, bei der amerikanischen Anordnung leichter zu erreichen ist.


    Zweifelsfrei richtig. Eine der Sinne und Zwecke, die amerikanische Orchesteraufstellung zu etablieren, war diejenige, "Klangmassen" zu bündeln, also hohe und tiefe Streichergruppen beieinader sitzen zu lassen.


    Wenn dann 1. und 2. Violinen nebeneinander sitzen, haben sie es als Einheit natürlich leichter, so wie es Herbert Blomstedt beschreibt: "Die zweiten Geigen fühlten sich von ihrem Lebensnerv, den ersten Geigen, getrennt. Sie waren wie eine Dame, die sich an ihren Tanzpartner schmeißt und führen lässt. Jetzt mit der neuen Ordnung mussten sie Selbstverantwortung übernehmen; die letzte zweite Geige sitzt vielleicht zwanzig Meter entfernt von der letzten ersten Geige. Sie haben akustisch keinen Kontakt.", im Orchesteraufstellung -Thread nachzulesen.


    Aber auch wenn man die Unterschiede in den Orchesteraufstellungen auf CD, am besten mit Kopfhörer, zweifelsfrei deutlicher und prägnanter hört als im Konzert, ändert es nichts an der Tatsache, daß (nicht nur) Beethoven für die damals gängige Orchesteraufstellung komponiert hat (und das war nun einmal nicht die amerikanische ;) ) und daß Authenzität bzw. der Versuch, diese zu erzielen, damit beginnt, dem Willen des Komponisten in der Transparenz der Orchesterstimmen möglichst zu entsprechen.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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