Welche Dirigenten "färben" Werke um ?

  • Man könnte natürlich sagen: "Alle"


    Aber dies würde den Intentionen dieses Threads widersprechen.
    Natürlich hat jeder Dirigent sein Lesart - aber bei einigen ist es eben heftiger - und zudem färben sie die Werke stets in ihre Richtung.
    Da gab es dereinst einen Dirigenten, dessen Name ich hier nicht nennen will, der stand - ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt - ALLE Werke mit seiner Prägung zu versehen - egal ob dies dem Stück entspricht oder nicht.


    Ein zeitgenössischer Dirigent dieser Art ist IMO Roger Norrington.
    Das wurde mir speziell bewusst, als ich in eine seiner neuen Bruckner Aufnahmen hingeingehört habe. Wir könnten nun versuchen herauszufinden was Norrington prinzipiell macht um die Werke zu "vergewaltigen" oder "fehlzuinterpretieren" - auf höchsten Niveau vorbei am Ziel.


    Aber natürlich können wir auch andere Dirigenten aufstöbern, die eine derart signfikante Handschrift aufweisen, daß darüber des öfteren der (vermeintliche) Wille des Komponisten auf der Strecke zu bleiben scheint.


    Glenn Gould war ja leider kein Dirigent - ansonst wäre er hier ein Fixstarter...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ach?


    Falls Du damit Nikolaus Harnoncourt meinst: Er färbt nicht um - er kann [oder will?] keine Noten lesen [können]. Und das Dirigieren eines Largo anstelle eines Presto ist für mich ebensowenig eine Umfärbung eines Werkes XY wie die Verschiebung von Takten [Idomeneo/Figaro] - es ist einfach nur falsch. Wenn jemand die Aura eines Werkes definitiv ändern kann, so ist dies Arthur Schoonderwoerd, der nicht nur als Pianist, sondern auch als Orchesterleiter - schlechthin Dirigent - tätig ist. Man könnte fast annehmen, der Kerl habe soetwas wie Charisma... Nähere Ausführungen dazu in den entsprechenden Threads.


    Ein anderer Fall wäre noch Michel Corboz - auch bei ihm erhalten die Werke eine ganz andere Färbung und Ausstrahlung, ohne daß Corboz vom Notentext abweichen würde.


    Bei Roger Norrington habe ich eher das Gefühl, dass Werke, welche er zwischen seine Kiemen nimmt, hernach dreimal chemisch gereinigt sind – dabei verlieren sie aber nicht an der ihnen eigenen Farbe [Beethovenzyklus]. In Ausnahmen, beispielsweise die G-Dur-Sinfonie KV 318 von Mozart – ein eigentlich tuffiges Werk – erklingt plötzlich ungewohnt bedrohlich.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Glenn Gould war ja leider kein Dirigent...



    Als Ausnahmeerscheinung machte er auch Ausnahmen.





    Außerdem leitete er ausladend sich selbst.





    .

  • Zitat

    [oder will?] keine Noten lesen


    Also ich würde das durchaus als "Umfärben" bezeichnen.


    Prinzipiell übergehen etliche Interpreten die Anweisungen des Komponisten - in Einzelfällen.


    Was hier gemeint ist, ist (bei Harnoncourt durchaus zutreffend, IMO), wenn ein Dirigent KONSEQUENT fast allem was er dirigiert, seinen persönlichen Stempel aufdrückt, so daß letztlich eher der Personalstil des Dirigenten, als jener des Komponisten erkennbar ist.


    Dies ist durchaus ambivalent zu sehen, weil hiebei durchaus hörenswerte Aufführungen/Einspielungen zustande kommen können (nicht notwendigerweise müssen) - oft an den Intentionen des Komponisten vorbei.


    Im Falle Harnoncourts stellt sich die Sache mir sor dar, daß er prinzipiell jedes Werk anders dirigiert als es durch Jahrzehnte üblich war.
    Auffallend ist, daß es hier durchaus ein "geschlossenes Ganzes" zu geben scheint - unter Harnoncourts Stabführung verliert (von Auisnahmen abgesehen) fast jedes Werk an Liebreiz und Harmonie - Herauskommt zumeist ein (mich) verstörender spröder bis aggressiver Klang. Man kann (etwa im Gegensatz zu Norrington) Harnoncourt nicht vorwerfen, er hetze durch das Stück - nein - er kann auch lähmend langsam werden - zumeist dort, wo es IMO nicht angebracht ist.


    Wer beispielsweise die Ouvertüre zu Mozarts Entführung in "herkömmlichen" Interpretationen gewohnt ist, der wird bei Harnoncourts Lesart vermutlich schnell reißaus nehmen, er dirigiert dieses Stück als "Türkische Musik" an Stelle von Musik "al la turca", also "türkisierender" Musik......


    aber es geht hier ja um etliche Dirigenten - nicht um Harnoncourt.


    mag sein daß dieser Thread manche Kaufentscheideng der Zukunft vereinfacht......


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Also ich würde das durchaus als "Umfärben" bezeichnen.


    Ich denke, man sollte durchaus zwischen Zerstörung und In-anderes-Licht-Rücken unterscheiden: eine mit Pech übermalte Mona Lisa hat keine andere Farbe mehr, sie ist einfach unsichtbar geworden. Es gibt da m. E. "logischere" Mittel, die Farbe eines Bildes - oder musikalischen Werkes - zu verändern, ohne gleich mit Hammer, Kreissäge und Meißel zur Tat schreiten zu müssen...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Im Rahmen meiner Arbeiten am Inhaltsverzeichnis "Dirigenten" bin ich auf diesen Thread gestoßen und ich glaube, er ist aktueller denn je. Eigentlich sollte man einen Thread starten, "Welche Dirigenten färben Werken NICHT um ?"


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Der Thread von 2008 könnte hochinteressant werden, hatte aber seinerzeit weiter keine Reaktion ausgelöst. Ich sehe und lese diesen auch erstmalig !


    Der Dirigent, den Alfred nicht genannt in Beitrag 1 meint, kam auch bisher nicht zur Sprache.
    :!: Es ist mit Sicherheit Leonard Bernstein gemeint.


    Richtig, er drückt gerne den Werken (wo es möglich ist) seinen Stempel auf. Aber so, wie er es macht - mit seiner Emotion und Ausstrahlung, sehe ich daran überhaupt keine Nachteile.
    :thumbsup: Im Gegenteil - Leonard Bernstein gehört zu meinen drei Lieblingsdirigenten !


    Es ist doch so, dass sein Stempel mal mehr oder weniger zu den Werken passt: Ganz gross bei Beethoven, Brahms, Sibelius, Nielsen, Schumann, Hindemith, Britten, sogar bei seinen wenigen Bruckner - Aufnahmen der 6 und 9, natürlich seinen eigenen Werken und seiner amerikanischen Komponistenkollegen, u.v.m.
    Bei Haydn möchte ich die Pariser und Londoner Sinfonien hervorheben - spritziger als seine Pariser-Sinfonien geht wohl kaum !
    Bei Mahler gereicht sein deutlicher Stempel manchmal zur Übertreibung (bes. bei den DG-Aufnahmen).
    Nur Liszt und Mendelssohn, vielleicht auch Mozart, scheinen ihm (nach meinem Eindruck) nicht so zu liegen.


    Fazit: Es gibt kaum eine Bernstein-Aufnahme die keinen Hörspass vermittelt !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Eigentlich sollte man einen Thread starten, "Welche Dirigenten färben Werken NICHT um ?"


    Oder nicht NICHT um. Neben dem schon genannten Norrington möchte ich auch Paavo Järvi dazurechnen. Für mich klingen seine Beethoven-Sinfonien eher kammermusikalisch, er gibt den Holzbläsern mehr Raum und reduziert die romantische Stimmung.
    Für mich zu trocken und emotional unterkühlt, aber die Presse ist begeistert.

  • Zitat

    Der Dirigent, den Alfred nicht genannt in Beitrag 1 meint, kam auch bisher nicht zur Sprache.
    :!: Es ist mit Sicherheit Leonard Bernstein gemeint.


    Ui uiuiuiui.... Knapp vorbei ist auch daneben. Gemeint war hier eigentlich Herbert von Karajan, dem man zeitweise vorgeworfen hatte man hörte bei einer Einspielung unter seinem Dirigat, mehr Karajan als (beispielsweise) Tschaikowski, Und ich erinnere mich an ein geflügeltes Wort, dass da "karajanisiert" lautete.


    Aber im Prinzip liegst Du da gar nicht falsch, wenn Du Bernstein erwähnst. Auch ihm sagt man nach, daß er jeglicher Interpretation seinen unverwechselbaren Stempel aufdrücke.......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Nur den ganz Großen gelingt es, das Werk im Sinne des Komponisten aufzuführen und ihm dennoch den Stempel der eigenen Unverwechselbarkeit zu verleihen. Ich denke dabei besonders an Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini, die diese ganz große Kunst offnsichtlich beherrschten.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!