Zum 200. Todestag der Glasharmonika-Virtuosin Marianne Kirchgessner am 9. Dez. 2008

  • Obwohl schon Jahrzehnte in ihrem Geburtsort wohnhaft, hatte ich die berühmteste musikalische Tochter der Stadt Bruchsal, ich gestehe es, vergessen – bis heute ein Artikel der Lokalzeitung mich wieder an sie erinnert hat.
    M.K. war offenbar tatsächlich die erste reisende Virtuosin der Musikgeschichte von Rang, rund ein halbes Jahrhundert vor Clara Schumann und zudem mit zwei weiteren Merkmalen ausgestattet, die jedes für sich genommen eine Rarität darstellen und in ihrer Kombination historisch einmalig gewesen sein dürften: Marianne Kirchgessners Instrument war die Glasharmonika, die sie blind spielte. (Entscheidend verbessert hatte die Glasharmonika übrigens der Erfinder des Blitzableiters, Benjamin Franklin.)


    Manchem wird der Name des aus Stuttgart stammenden Bruno Hoffmann (1913-1991) etwas sagen. Er war in etwa unser zeitgenössisches Pendant zu M. Kirchgessner. Allerdings brachte er eine Glasharfe zum Klingen, und wie gut, weiß ich noch selbst von seinem Auftritt in meiner prallvollen Schulsporthalle ca. anno 1978.


    Marianne Kirchgessner wurde geboren als fünftes von neun Kindern eines Kammerzahlmeisters am 5. Juni 1769 in Bruchsal (zwischen Karlsruhe und Heidelberg gelegen ; als Signaturort der berühmten „ostarrichi“-Urkunde von 896 auch für die Geschichte Österreichs erwähnenswert).


    Im Alter von 4 Jahren erblindete sie. Dennoch (oder gerade deshalb?!, vgl. Helmut Walcha) spielte sie so ausdrucksvoll Klavier, dass ihr 1779 vom Domkapitular eine Ausbildung auf der Glasharmonika beim Karlsruher Hofkapellmeister Joseph Aloys Schmittbaur (1718 Bamberg - 1809 Karlsruhe) ermöglicht wurde. Auch seine Tochter Therese erhielt von ihm Unterricht auf diesem Instrument. Schmittbaur erweiterte den Tonumfang der Glasharmonika, welcher ursprünglich g – g2 und später meist c – f3 war, auf c - c4.


    Der eigentliche Mentor Marianne Kirchgessners war wohl der 1744 in Darmstadt geborene und seit 1780 in Speyer lebende Kupferstecher Heinrich Philipp Carl Bossler, der auf den Tag genau 4 Jahre nach seinem wesentlich jüngeren Zögling sterben sollte. Er hatte 1779 in Heilbronn eine Maschine für den Notenstich erfunden, die schon bald das gewerbsmäßige Partitur-Kopieren verdrängte. 1780 hatte er in Speyer einen später namhaften Musikverlag und 1781 das Wochenblatt „Blumenlese für Kl.-Liebhaber beyderley Geschlechts“ gegründet.


    Von Anfang 1791 bis 1796 bereiste Bossler zusammen mit seiner Ehefrau und Marianne Kirchgessner zahlreiche Städte, so auch in Dänemark, England und den Niederlanden.
    In Wien hatten sie das Glück, mit dem noch lebenden Mozart Bekanntschaft zu machen, der von dem beseelten Spiel so beeindruckt gewesen sein muss, dass er am 23. Mai 1791 für M.K. ein Quintett für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Cello (KV 617) schrieb und sie bei der Uraufführung am 19. August im Kärntnertortheater begleitete, angeblich auf der Viola. Sein Adagio in C für Glasharmonika solo (KV 617a) wurde vermutlich ebenfalls von Marianne Kirchgessner inspiriert.
    In Berlin trat die jugendliche Glasharmonika-Virtuosin viermal vor dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. auf, und während der England-Konzertreise 1794-1796 begegnete sie im Rahmen zweier „Salomon-Konzerte" in London Joseph Haydn. Dort, in London, sollen mehrere Komponisten ihre für Marianne Kirchgessner bestimmten Werke ihr auf dem Klavier vorgetragen haben.


    1799 bezog Marianne Kirchgessner zusammen mit ihrem Mentor Bossler und dessen Frau ein Gut in dem damals noch selbständigen Gohlis b. Leipzig.
    War die Virtuosin dem „Liebling der Götter“ Mozart in dessem Todesjahr erstmals begegnet, so traf sie 1808, in ihrem eigenen Todesjahr, anlässlich eines Konzerts in Karlsbad zum ersten Mal mit Dichterfürst Goethe zusammen, der aus der Glasharmonika das „Herzblut der Welt" hörte.


    Im schweizerischen Schaffhausen am Rhein starb Marianne Kirchgessner am 9. Dez. 1808 infolge von Brustfieber. Ihre letzte Ruhestätte befindet sich unweit davon im ehemaligen Frauenkloster Paradies.


    Heinrich Philipp Carl Bossler verfasste nach dem allzu frühen Tod der gefeierten Ausnahme-Künstlerin die Lebensgeschichte der Marianne Kirchgeßner (erschienen in Leipzig 1809).


    Zum Abschluss die vielleicht beste Beschreibung über die Kunst Marianne Kirchgessners. Sie stammt aus einer Stuttgarter Chronik von 1791 aus dem Mund des Dichters Christian F. D. Schubart : „Ihr Spiel ist zum Bezaubern schön, es weckt nicht Traurigkeit, sondern sanftes, stilles Wonnegefühl, Ahnungen einer höheren Harmonie, wie sie die guten Seelen in einer schönen Sommermondnacht durchzittern. Unter ihren Fingern reift der Glaston zu seiner vollen schönen Zeitigung und stirbt so lieblich dahin wie Nachtigallenton, der mitternachts in einer schönen Gegend verhallt".

    Einmal editiert, zuletzt von PianoForte29 ()

  • Zitat

    M.K. war offenbar tatsächlich die erste reisende Virtuosin der Musikgeschichte von Rang, rund ein halbes Jahrhundert vor Clara Schumann


    Hm.


    Was ist mit Maria Anna Mozart [*30.07.1751] oder Maria Theresia de Paradis [*15.05.1759]? Beide sind älter als Kirchgäßner und ebenfalls gereist. Paradis feiert im kommenden Jahr den 250. Geburtstag - auch sie war blind.


    Trotzdem: gratULLIert! (falls man das so schreiben kann...)


    Kennt jemand den Film: Mesmer ?


    Zitat

    War die Virtuosin dem „Liebling der Götter“ Mozart in dessem Todesjahr erstmals begegnet [...]


    Für Kirchgäßner komponierte Mozart das Adagio und Rondo für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola, und Cello in c-moll KV 617 sowie das Adagio C-Dur KV 356 (617a).


    Zu dem von Kirchgäßner verwendeten Instrument gibt es hier weitere Informationen:


    Schon probiert? - Musik aus dem Glas...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)




  • Ja, das gute Nannerl – habe ich’s etwa vergessen?
    Mag sein, schenkt man aber dem Artikel "Die verhinderte Pianistinnenkarriere von Nannerl Mozart" (http://www.traunsteiner-tagbla…des/mehr_chiemg.php?id=64) Glauben, so war die Zeit noch nicht reif für eine Frau als reisende Virtuosin, weshalb offenbar Vater Leopold erstens seine Tochter nicht alleine auf Tournee ziehen ließ, und zweitens Nannerl immer mehr oder weniger in Verbindung mit ihrem genialen Bruder, der auf der Reise ja stets dabei war, auftrat – freilich saß die Schwester in etlichen Fällen auch alleine am Klavier, ohne dass Wolfgang sie begleitete. Nannerl Mozart war also sowohl künstlerisch wie organisatorisch, vor allem vom Vater, fremdbestimmt.


    Insofern scheint meine Aussage, die vielleicht der Klarheit halber durch das Wort „eigenverantwortlich“ (vor „reisende“) ergänzt werden sollte, im Ergebnis doch richtig zu sein: Marianne Kirchgessner war als Alleinunterhalterin bzw. Solistin sowohl künstlerisch wie in der Planung ihrer Reisen von niemandem abhängig – und das ist, jedenfalls nach meinem Verständnis, Voraussetzung für einen wirklichen 'reisenden Virtuosen'. Heinrich P.C. Bossler war ihr Mentor, er und seine Frau waren aber gewiss weder Erziehungsberechtigte noch gar künstlerisch für M.K. maßgebend. Joseph Aloys Schmittbaur, Marianne Kirchgessners Glasharmonika-Lehrer, der sie musikalisch wohl am meisten prägte, war an ihren Reisen in keiner Weise beteiligt.



    Maria Theresia de Paradis hingegen war anscheinend wirklich der Zeit Marianne Kirchgessners noch ein Jahrzehnt voraus, und muss wohl auch als reisende Virtuosin gelten.
    Zu meiner Ehrenrettung kann freilich gesagt werden, dass ihr auf ihrem Instrument, dem Klavier, nicht annähernd eine solche Ausnahmestellung zuerkannt wurde wie M.K. für die Glasharmonika.
    Gerade die oben erwähnte Nannerl Mozart dürfte als Pianistin deutlich mehr Ruhm errungen haben als die 8 Jahre jüngere Paradis. Marianne Kirchgessner jedoch war zeit ihres Lebens, und vermutlich sogar bis zum heutigen Tag, unangefochten die größte Virtuosin auf diesem klanglich exzeptionellen Instrument, vergleichbar mit Paganini, Liszt oder Zabaleta.

    Einmal editiert, zuletzt von PianoForte29 ()

  • Zitat

    Original von PianoForte29
    Gerade die oben erwähnte Nannerl Mozart dürfte als Pianistin deutlich mehr Ruhm errungen haben als die 8 Jahre jüngere Paradis.


    Hm, von der Besonderheit von Kirchgäßners Instrument mal abgesehen: eher nicht. Auch abgesehen davon, der Bruder Nannerl häufig Werke [zumindest proforma] zueignete, war doch Paradis die bekanntere von beiden: nicht nur Mozart dedizierte ihr ein Klavierkonzert [vermutlich KV 456], sondern eben auch [und vor allem] Leopold Kozeluch, mit dessen Werken sie die meiste Zeit brillierte. Außerdem war es Paradis, die zumindest mittelbar die Blindenschrift "erfand" [im eigentlichen Sinne: erfinden ließ] und jedenfalls die erste Blindenschule gründete.


    Nähere Infos hier:



    Wenn ich das Buch nur zur Hand hätte, dürfte sich bestimmt auch etwas über Marianne Kirchgäßner, um die es ja hier in der Hauptsache geht, darin finden lassen. Aber leider habe ich noch nicht alle Umzugskisten verräumen können...


    Das Buch enthält die sehr umfangreichen Reiseberichte der Paradis, die quer durch ganz Europa führten. Ihr Ruhm als Pianistin war ein großer und außergewöhlicher, während Kirchgäßner doch eher als bizarre Zirkusfigur [vornehmlich wegen des vielfach auch verschrieenen Instrumentes] gegolten hat.


    Ich bleibe übrigens bei der Schreibweise 'Kirchgäßner', da ich den Namen von 'Kirchgasse' ableite: Einer ihrer Vorfahren muß wohl in einer solchen geboren worden sein... (?)


    Nichstdestoweniger haben wir der blinden Glasharmonikavortuosin so manches grandiose Werk zu verdanken, vielleicht die heute anhaltende Präsenz des Instrumentes überhaupt!?


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Wenn ich das Buch nur zur Hand hätte, dürfte sich bestimmt auch etwas über Marianne Kirchgäßner, um die es ja hier in der Hauptsache geht, darin finden lassen. Aber leider habe ich noch nicht alle Umzugskisten verräumen können...


    Einiges lässt sich auch in diesem biographischen Artikel eines online-Lexikons erfahren:
    http://www.sophie-drinker-institut.de/Kirchgessner.htm


    Zitat

    Original von UlliDas Buch enthält die sehr umfangreichen Reiseberichte der Paradis, die quer durch ganz Europa führten. Ihr Ruhm als Pianistin war ein großer und außergewöhlicher, während Kirchgäßner doch eher als bizarre Zirkusfigur [vornehmlich wegen des vielfach auch verschrieenen Instrumentes] gegolten hat.
    Ulli


    Um und vor 1800 hatten Reisevirtuosen wohl immer ein wenig Spektakelhaftes. Frauen - die als reisende Virtuosinnen deutlich seltener waren als ihre männliche Kollegen - wurden dabei sicher noch mehr als Kuriosum betrachtet.


    Trotzdem gehört die Kirchgessner nicht einfach aufgrund ihrer Instrumentenwahl in die Manege. Aus heutiger Sicht ist die Glasharmonika eine eher seltsame Erscheinung, um 1800 war sie aber durchaus hip. Ihr Klang wurde als körperlos, ätherisch und zerbrechlich empfunden, einige Zeitgenossen (so z.B. Friedrich Rochlitz) waren gar der Meinung, der Klang des Instruments würde zu Nervenkrankheit führen. Das Entkörperlichte, nicht Fassbare des Klangs dürfte gut zu den Vorstellungen des Bürgertums von einem für Frauen besonders geeigneten Instrument gepasst haben (ähnlich wie die Harfe).


    Es ist daher wohl kein Zufall, dass eine der allerersten Instrumentalistinnen, die von ihrer Kunst auch leben konnten, diese Glasharmonika-Spielerin war.

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  • Zwar nur ein Roman - aber trotzdem nicht uninteressant:



    Die Glasharmonika
    von Horst Wolfram Geissler


    Die Protagonistin - eine mit ihrem Instrument reisende Engländerin - erkrankt zum Schluß an einem Nervenleiden und stirbt daran. Die Krankheit war hervorgerufen durch die Vibration in den Fingerspitzen beim Spielen des Instrumentes.


    Lg


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)


  • Das Buch hat eine reale Figur zum Vorbild, die Glasharmonika-Spielerin Marianne Davies (geb. ca. 1743). Die Vorstellung vom Krankmacher Glasharmonika, verbunden mit der Idee einer "typisch weiblichen" nervlichen Überreizbarkeit findet da ihren Niederschlag.


    Übrigens findet sich selbst noch 1980, im New Grove, ein Anklang daran. Dort ist auch bei Kirchgessner die Rede davon, dass sie an einer Nervenkrankheit verstarb.

  • Zitat

    Original von Vox
    Aus heutiger Sicht ist die Glasharmonika eine eher seltsame Erscheinung, um 1800 war sie aber durchaus hip.


    Ja, früher war sie hip, heute ist sie HIP. ;)


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)