Obwohl schon Jahrzehnte in ihrem Geburtsort wohnhaft, hatte ich die berühmteste musikalische Tochter der Stadt Bruchsal, ich gestehe es, vergessen – bis heute ein Artikel der Lokalzeitung mich wieder an sie erinnert hat.
M.K. war offenbar tatsächlich die erste reisende Virtuosin der Musikgeschichte von Rang, rund ein halbes Jahrhundert vor Clara Schumann und zudem mit zwei weiteren Merkmalen ausgestattet, die jedes für sich genommen eine Rarität darstellen und in ihrer Kombination historisch einmalig gewesen sein dürften: Marianne Kirchgessners Instrument war die Glasharmonika, die sie blind spielte. (Entscheidend verbessert hatte die Glasharmonika übrigens der Erfinder des Blitzableiters, Benjamin Franklin.)
Manchem wird der Name des aus Stuttgart stammenden Bruno Hoffmann (1913-1991) etwas sagen. Er war in etwa unser zeitgenössisches Pendant zu M. Kirchgessner. Allerdings brachte er eine Glasharfe zum Klingen, und wie gut, weiß ich noch selbst von seinem Auftritt in meiner prallvollen Schulsporthalle ca. anno 1978.
Marianne Kirchgessner wurde geboren als fünftes von neun Kindern eines Kammerzahlmeisters am 5. Juni 1769 in Bruchsal (zwischen Karlsruhe und Heidelberg gelegen ; als Signaturort der berühmten „ostarrichi“-Urkunde von 896 auch für die Geschichte Österreichs erwähnenswert).
Im Alter von 4 Jahren erblindete sie. Dennoch (oder gerade deshalb?!, vgl. Helmut Walcha) spielte sie so ausdrucksvoll Klavier, dass ihr 1779 vom Domkapitular eine Ausbildung auf der Glasharmonika beim Karlsruher Hofkapellmeister Joseph Aloys Schmittbaur (1718 Bamberg - 1809 Karlsruhe) ermöglicht wurde. Auch seine Tochter Therese erhielt von ihm Unterricht auf diesem Instrument. Schmittbaur erweiterte den Tonumfang der Glasharmonika, welcher ursprünglich g – g2 und später meist c – f3 war, auf c - c4.
Der eigentliche Mentor Marianne Kirchgessners war wohl der 1744 in Darmstadt geborene und seit 1780 in Speyer lebende Kupferstecher Heinrich Philipp Carl Bossler, der auf den Tag genau 4 Jahre nach seinem wesentlich jüngeren Zögling sterben sollte. Er hatte 1779 in Heilbronn eine Maschine für den Notenstich erfunden, die schon bald das gewerbsmäßige Partitur-Kopieren verdrängte. 1780 hatte er in Speyer einen später namhaften Musikverlag und 1781 das Wochenblatt „Blumenlese für Kl.-Liebhaber beyderley Geschlechts“ gegründet.
Von Anfang 1791 bis 1796 bereiste Bossler zusammen mit seiner Ehefrau und Marianne Kirchgessner zahlreiche Städte, so auch in Dänemark, England und den Niederlanden.
In Wien hatten sie das Glück, mit dem noch lebenden Mozart Bekanntschaft zu machen, der von dem beseelten Spiel so beeindruckt gewesen sein muss, dass er am 23. Mai 1791 für M.K. ein Quintett für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Cello (KV 617) schrieb und sie bei der Uraufführung am 19. August im Kärntnertortheater begleitete, angeblich auf der Viola. Sein Adagio in C für Glasharmonika solo (KV 617a) wurde vermutlich ebenfalls von Marianne Kirchgessner inspiriert.
In Berlin trat die jugendliche Glasharmonika-Virtuosin viermal vor dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. auf, und während der England-Konzertreise 1794-1796 begegnete sie im Rahmen zweier „Salomon-Konzerte" in London Joseph Haydn. Dort, in London, sollen mehrere Komponisten ihre für Marianne Kirchgessner bestimmten Werke ihr auf dem Klavier vorgetragen haben.
1799 bezog Marianne Kirchgessner zusammen mit ihrem Mentor Bossler und dessen Frau ein Gut in dem damals noch selbständigen Gohlis b. Leipzig.
War die Virtuosin dem „Liebling der Götter“ Mozart in dessem Todesjahr erstmals begegnet, so traf sie 1808, in ihrem eigenen Todesjahr, anlässlich eines Konzerts in Karlsbad zum ersten Mal mit Dichterfürst Goethe zusammen, der aus der Glasharmonika das „Herzblut der Welt" hörte.
Im schweizerischen Schaffhausen am Rhein starb Marianne Kirchgessner am 9. Dez. 1808 infolge von Brustfieber. Ihre letzte Ruhestätte befindet sich unweit davon im ehemaligen Frauenkloster Paradies.
Heinrich Philipp Carl Bossler verfasste nach dem allzu frühen Tod der gefeierten Ausnahme-Künstlerin die Lebensgeschichte der Marianne Kirchgeßner (erschienen in Leipzig 1809).
Zum Abschluss die vielleicht beste Beschreibung über die Kunst Marianne Kirchgessners. Sie stammt aus einer Stuttgarter Chronik von 1791 aus dem Mund des Dichters Christian F. D. Schubart : „Ihr Spiel ist zum Bezaubern schön, es weckt nicht Traurigkeit, sondern sanftes, stilles Wonnegefühl, Ahnungen einer höheren Harmonie, wie sie die guten Seelen in einer schönen Sommermondnacht durchzittern. Unter ihren Fingern reift der Glaston zu seiner vollen schönen Zeitigung und stirbt so lieblich dahin wie Nachtigallenton, der mitternachts in einer schönen Gegend verhallt".