Hannover, "Der Rosenkavalier", Richard Strauss, 14.12.2008

  • Der Rosenkavalier – ein Endspiel


    1911 hatte der „Rosenkavalier“ von Hofmannsthal/Strauss in Dresden Premiere. Das Stück imaginiert eine Zeit, die längst vergangen ist: das Wien der Kaiserin Maria Theresia, die Handlung wird also etwa um 1740 angesiedelt. Aber es geht dem Autorenteam nicht um eine realistische Abbildung dieser Zeit, diese bildet nur die Kulisse für ein Stück um Identitäten, um Identitätswechsel und –verlust, für ein Stück übers Älterwerden und Abschiednehmen, für das Beenden alter Beziehungen und das Eingehen von neuen.


    Ambivalent bleibt die erste Beziehung dieses Stücks, die man kennen lernt: die Marschallin liegt mit einer Frau zu Bett, die einen Mann spielt und die wiederum im Stück zweimal in die Rolle einer Frau schlüpft. Die Stimmlage des Liebhabers ist ein Mezzosopran: wäre also der Liebhaber männlichen Geschlechts, hätte der Stimmbruch noch nicht eingesetzt. Die Marschallin läge mit einem vielleicht Dreizehnjährigen zu Bett – was nicht minder degoutant wäre, als wenn sie mit einer erwachsenen Frau zusammenläge, die es vorzieht in Männerkleidern herumzulaufen.


    Dass ausgerechnet der vermeintliche Frauenheld der Oper, ein grobschlächtiger Verwandter der Marschallin, Gefallen an dem verkleideten Mann findet, der ein Mädchen spielt und doch eine Frau ist, ist eine weitere Verwicklung dieser „Komödie für Musik“, die nicht immer wirklich komisch, sondern eher ironisch-sarkastisch daherkommt.


    Die Musik zu dieser Oper zitiert immer wieder den Wiener Walzer, giesst auch mitunter kräftig Sentiment über die Handlung, packt alles in Zuckerwatte, um dann doch am Ende merkwürdig kalte, kristallen-klirrende Töne zu präsentieren.


    Dass der Regisseur Christof Nel einen sehr eigenen Weg gehen wird, wenn er sich dem „Rosenkavalier“ nähert, war zu erwarten – und dass, was das Publikum in Hannover gestern Abend zu sehen bekam, ist durchaus bemerkenswert.


    Es gibt einen einzigen Raum für die gesamte Handlung, der sich durch das Verschieben von grossen, roten Wänden, in die Kassetten eingelassen sind, immer wieder verändert. Diese Wände bewegen sich nicht auf geraden Linien, sondern sie laufen schlangenförmig über die Bühne. Am Anfang sieht man rechts eine grosse Badewanne, davor die Marschallin, eine noch jüngere Frau, im Badetuch, sie hat dem Publikum den Rücken zugedreht. Auf der anderen Seite der Bühne sitzt an einem kleinen Tisch der schon halbangezogene, junge Mann, Octavian, – er lümmelt in teenagerhafter Machoattitüde auf seinem Stuhl und genehmigt sich ein Glas Champagner. Die Liebesnacht ist vorbei, ein Bad wurde genommen und die beiden Liebenden stehen weit entfernt von einander – so, als wäre schon klar, dass hier etwas zu Ende geht.


    Als der Diener (ein alter, gebeugter Mann) mit dem Frühstück naht, reisst Octavian kurzer Hand die Wandverkleidung auf, um sich dahinter zu verstecken.


    Kaum ist das Frühstück serviert, dringt von links Lärm herein. Der Baron Ochs von Lerchenau verschafft sich Zugang und wird sofort auf eine ganz unangenehme Art bei der Kammerzofe zudringlich, die gerade versucht, das Zimmer zu verlassen (und die niemand anders ist, als der verkleidete Octavian). Das Benehmen des Ochs mit seinen anzüglichen Gesten geht der Marschallin sichtlich zu weit.


    Dieser Ochs ist in der Inszenierung in Hannover kein gemütlicher, älterer Herr, der jungen Dingern nachsteigt. Er strahlt eine brutale Gefährlichkeit aus und wird von ebenfalls düsteren Gestalten begleitet, die vor Gewalt nicht zurückschrecken. Alle tragen sie kniehohe Stiefel und dunkle Kleidung – und nehmen damit eine Art Uniform vorweg, die wenige Jahre nach 1911 von Leuten getragen werden wird, die die Reinheit des Blutes zur Staatsdoktrin machen werden. Im Stück bleibt es erst mal bei den echten Blaublütern, die auf jene hinabsehen, die nur über ihr Geld ihren Stand verbessern wollen. Und da kann der Ochs noch so peinlich sein, da kann man noch so sehr die Auffassung vertreten, dass er sich ein Mädchen kauft – der Vater dieses Mädchens ist eben kein „echter“ Adliger, sondern nur ein „Neureicher“, der mitspielen muss, will er in der Gesellschaft „aufsteigen“.


    Und wegen dieser arrangierten Heirat mit dem Fräulein Faninal ist der Ochs diesen Morgen gekommen – er braucht einen Brautwerber – und die Marschallin empfiehlt niemand anderes, als ihren Liebhaber, dem der Ochs soeben, ohne es wirklich zu wissen, an die Wäsche gegangen ist.


    Eine bunte Schar von Händlern und Bittstellern tritt herein, der Friseur und sein Gehilfe kümmern sich um die Marschallin, während die Diener versuchen, diese von dem Treiben (zu dem auch ein Sänger und ein Zauberer gehören), abzuschirmen. Ganz am linken Rand sitzt eine alte Kammerfrau, in schwarzer Kleidung, und betrachtet das Geschehen quasi aus der Distanz.


    Der Ochs verhandelt mit einem Notar seine Eheangelegenheiten – und hat eine recht eigenwillige Vorstellung, wie die Geldflüsse in dieser Sache zu erfolgen haben. Als der Notar dieser Vorstellung des Ochs nicht folgen will, bricht bei dem wieder das cholerische Temperament durch und der Notar zieht es vor, dem Baron nicht mehr zu widersprechen.


    Die Marschallin geht, derweil der Friseurgehilfe ihr die Haare richtet, die Post durch. Sie benötigt dafür eine Lesebrille – ein kleiner Hinweis auf das fortschreitende Alter und die damit verbundenen – nunja – Verschlechterungen des physischen Zustandes.


    Unzufrieden ist sie mit dem Ergebnis der Bemühungen des Coiffeurs, alt schaut sie aus, findet die Marschallin. Während sie nun über die Zeit und die Vergänglichkeit der Jugend nachdenkt, tritt die alte Kammerfrau zu ihr. Liebevoll nimmt die Marschallin die alte Frau in die Arme, sieht in der Kammerfrau das, was sie, die Marschallin, einmal sein wird – nicht nur „älter“ wird sie sein, sondern eine Greisin mit grauem Haar.


    Octavian kommt zurück, aber er erreicht die Frau nicht mehr, mit der er die Nacht verbracht hat, nachdenklich ist sie geworden und da er nicht versteht, warum sie so verändert ist, glaubt er, sie schicke ihn fort, weil er ihr nicht mehr genügt. Er ist in seiner Rolle als Mann gekränkt und hier blitzt auf, dass sich Octavian und Ochs vom Rollenverständnis her gar nicht so unähnlich sind.


    Mit dem Medaillon, das Octavians Bildnis enthält, bleibt die Marschallin allein zurück, in sich vertieft. Da fällt ihr auf, dass sie dem Brautwerber Octavian die „silberne Rose“ für die Braut des Ochs, Sophie von Faninal nicht mitgegeben hat. Vier Diener bemühen sich erst gar nicht, dem „Herrn Grafen“ nachzulaufen. Der alte Diener schliesslich wird beauftragt, Octavian die Schatulle mit der „silbernen Rose“ hinterher zu tragen.


    Diese Diener stammen aus einer anderen Zeit – sie sind unvollständig. Manche tragen nur Manschetten, andere tragen die Weste auf der blanken Haut, ohne Hemd, uneindeutig wirkt das, fremd.


    Die Kostüme bewegen sich insgesamt in keiner einheitlichen, oder klar zu fassenden Zeit. Sie zitieren mehr, als dass sie eine klare Zuordnung ermöglichen würden.


    Im zweiten Akt wird Octavian von Freunden begleitet, die ein wenig wie Corps-Studenten aussehen. Silberflitter wird von ihnen verstreut, Octavian hält die Schatulle mit der „silbernen Rose“ fast kindlich eng an sich gedrückt. Während Octavian der etwas naiven und aufgeregten Tochter des Edlen von Faninal die „silberne Rose“ überreicht, taucht im Hintergrund die Marschallin auf, jenes Medaillon in der Hand, dass das Bildnis des Octavian enthält. Stumm schauen sich die Marschallin und Octavian an. Als die Marschalllin verschwindet, sieht man, genauso traumhaft, den Ochs, der sich schon mit dem nächsten Mädchen vergnügt.


    Die Leitmetzerin bleibt in der Mitte der Bühne als Anstandsdame zurück, links steht Octavian am Bühnenrand, rechts Sophie. Es dauert eine Weile, bis sie beieinander sind und es anfängt, zwischen den beiden zu knistern.


    Der Ochs und seine Leute treten auf – und sein Gehabe stösst alle ab. Wichtiger als die vorgesehne Braut sind ihm erst mal die finanziellen Angelegenheiten. Ochs, der Brautvater und der Notar ziehen sich zurück. Die Lerchenauer bedrängen eine Hausangestellte des Faninal – nur mit Mühe entgeht diese einer Vergewaltigung.


    Sophie fleht Octavian um Hilfe an – sie will den groben Klotz nicht heiraten.


    Als Octavian den Ochs zum Duell mit Degen herausfordert, wird Ochs eher durch eine absichtsvolle Ungeschicklichkeit verletzt, bluten tut nix, aber das Geschrei ist gross. Bei der Erstversorgung des Ochs wird die Leitmetzerin plötzlich entdecken, dass ihr ein so brutal-männlicher Typ, wie der Ochs, nicht zur Gänze unsympathisch ist.


    Der herbeigerufene Arzt kann wenig tun. Aber die Gefolgschaft des Ochs quält und entwürdigt den alten Mann – nur so, zum Zeitvertreib.


    Ochs hat reichlich schlechte Laune – die bessert sich erst, nachdem ihm ein Brief zugespielt wird, der ein Stelldichein mit jener Kammerzofe verspricht, die er bei der Marschallin gesehen hat und die kein anderer als Octavian ist.


    Zu Beginn des dritten Aktes steht Octavian allein im Hintergrund der Bühne, in der Hand ein Bündel Geldscheine. Er bezahlt die Leute, die dem Ochs einen „unvergesslichen“ Abend bereiten werden. Die Kellner bieten auf einem Silbertablett den abgeschlagenen Kopf eines Mannes an, doch diese Idee, mit soetwas den Ochs zu erschrecken, verwirft Octavian.


    Ochs tritt auf, seine Leute im Schlepptau, die den unerwünschten Musikern gleich mal die Geige zertrümmern. Der als Mariandl verkleidete Octavian landet schnell im Bett und zweimal scheint es fast so, als wolle Octavian den Ochs mit einem Schleier erwürgen.


    Gestalten tauchen auf: Männer in Brautkleidern mit hochschwangeren Bäuchen, die Kinderschar einer Witwe, die behauptet, der Ochs wäre ihr Mann, die Szene gerät aus den Fugen. Die Sittenpolizei kommt, dann Faninal, zuletzt dessen Tochter und die Marschallin.


    Als die Situation sich langsam aufhellt, werden dem Ochs die Zusammenhänge klar – auch darüber, was da in den Privaträumen der Marschallin wohl vorgegangen sein mag, bevor er kürzlich dort eines Morgens vorstellig wurde.


    Ochs hat für diesmal verloren – aber so, wie er abgeht, macht er keinen gänzlich zerknirschten Eindruck. Er ist ein Stehaufmännchen, mit dem man wieder wird rechnen müssen.


    Zurück bleiben die Marschallin, Octavian und Sophie. Man spürt die Zwiespältigkeit, mit der die Marschallin auf Sophie reagiert und wie schwer ihr doch der letzte Schritt des Verzichtes auf Octavian fällt.


    Im Vordergrund breiten Sophie und Octavian ihre Jacken und Mäntel aus, sie legen sich mit dem Rücken darauf und singen dieses „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ – eine Szene, bei der man nicht weiss, ob sie sich zum Sterben hingelegt haben. Ganz in schwarz gekleidet tritt der Chor langsam wie eine Trauergesellschaft nach vorne, der Chor nimmt Sophie und Octavian auf, er beginnt zu kreisen, immer schneller wird diese Bewegung und spült alle von der Bühne. Die Musik der Schlusses mit ihrem Schlussakkord klingt wie ein Zitat, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, nachdem kurz zuvor diese merkwürdig fragilen, kühlen Töne den Gesang der jungen Leute begeleitet haben.


    Christof Nel legt einmal mehr grossen Wert auf eine ausgefeilte Personenführung, die jede Übertreibung zu vermeiden versteht. Es sind oftmals ein Blick, ein Gesichtsausdruck, eine Handbewegung, die eine Geschichte erzählen – sehr detailliert und spannend.


    Nel legt das frei, was im „Rosenkavalier“ zu finden ist, aber oft unter zuviel gepuderten Perücken verschwindet – er regt zum Weiterdenken über ein Stück an, das nur vermeintlich ein gut bekanntes ist.


    Darstellerisch sind alle Sängerinnen und Sänger in den Hauptpartien ausgezeichnet – Kelly God als Marschallin, Matilda Paulsson als Octavian, Albert Pesendorfer als Ochs, Frank Schneiders als Faninal und Dorothea-Maria Marx als Sophie.


    Gesanglich herausragend der Octavian von Matilda Paulsson mit ihrem androgynen Charme, ein ausgeglichener Mezzo, der nur gegen Ende etwas nachliess.


    Auch die Marschallin Kelly God überzeugte mit ihrer leicht scharfen, aber sicher geführten Sopranstimme, die auch schön gestaltete Zwischentöne einzubinden verstand.


    Albert Pesendorfer war ein Ochs, jenseits aller Buffo-Klanglichkeit, der die Partie auf seine Art durchaus aufgewertet hat.


    Grundsolide Frank Schneiders mit seinem etwas engen Bariton und Dorothea-Maria Marx mit einer noch nicht ganz sattelfesten Sopranstimme.


    Erwähnt werden muss die Annina Okka von der Damerau – da könnte vielleicht ein Octavian heranreifen.


    Wolfgang Bozic leitete das Orchester der Staatsoper Hannover. Der Einstieg in den Abend blieb etwas beliebig, wenig konturiert. Das wurde mit dem zweiten Akt deutlich besser und auch der dritte gelang dann insgesamt zufriedenstellend. Solide Leistung vom Chor, nicht mehr, aber auch nicht weniger.


    Viel Beifall für alle Beteiligten – dann aber deutliche und massive Ablehnung für Christof Nel und sein Team, aber so muss das wohl sein, wenn jemand ein solches Stück auf seine Tauglichkeit für die heutige Zeit befragt.