Gerade mit Verwunderung festgestellt, dass es noch gar keinen Thread zu Beethovens einzigem Oratorium "Christus am Ölberge" gibt. Es entstand im Frühjahr 1803. Kurz vorher hatte er die "Eroica" vollendet, die in ihrem Schlußsatz "Die Geschöpfe des Prometheus" wiederaufgreifft. Kurze Zeit später begann er die Arbeit an seiner einzigen Oper "Fidelio".
Das Libretto stammt von Franz Xaver Huber, einem in Wien um 1800 bekannten Librettisten.
Musikalisch wie geistig steht sein Oratorium dann auch im engen Zusammenhang mit der Eroica, mit "Die Geschöpfe des Prometheus" und mit dem "Fidelio". Denn Beethoven rückt in seinem Passionsoratorium in der Vordergrund das dramatische Bestehen auf der eigenen Haltung in Erwartung größter Herausforderung und getragen von eigenem freien Denken und der Fähigkeit zum Mitleiden. Der aufgeklärte Protestantismus wird so, ganz wie bei Hegel, in den Zusammenhang mit der französischen Revolution gerückt: Freies Denken und die Fähigkeit zum Mitleiden werden beerbt als Freiheit und Brüderlichkeit.
Insofern läßt Beethoven die Leidengeschichte völlig weg und konzentriert sich auf den Abend am Ölberg, den Jesus mit seinen Jüngern verbringt, bis zu seiner Verhaftung. Beethoven formt meisterhaft sowohl die innere wie äussere Dramatik der Situation in musikalisches Geschehen. Einerseits steht Jesus vor der Herausforderung, seine menschheits-, wie heilsgeschichtliche Rolle auch anzunehmen und diese wissende Erwartung macht ihn einsam unter seinen Jüngern. Andererseits entsteht der Konflikt mit und zwischen seinen Jüngern, ob man sich zu wehr setzen solle. In dem Jesus dies verhindert und seine Rolle als Mensch voller Zweifel und in Freiheit annimmt, wird, in christlicher Tradition gesehen, die Katastrophe in Heilsgeschichte gewendet.
Die Situation der Einsamkeit der vor große Herausforderungen von menschheitsgeschichtlicher Dimension gestellten Persönlichkeit unter seinen Mitmenschen wird in der Beethoven-Literatur häufig auch in den Zusammenhang mit seinem im Oktober 1802 geschriebenen "Heiligenstädter Testament" gebracht, in dem er, sich seiner herausgehobenen Künstlerrolle bewußt und unter dem Eindruck seines sich verschlimmernden Hörverlusts, seine Einsamkeit, sein "Leben wie ein Verbannter" beklagt.
Eine Aufname, der es m.E. meisterhaft gelingt, den musikalischen und geistigen Zusammenhang dieses Oratoriums mit der "Eroica", mit "Die Geschöpfe des Prometheus" und mit dem "Fidelio" hörbar zu machen, hat Kent Nagano eingespielt.
Placido Domingo, Luba Orgonasova, Andreas Schmidt
Rundfunkchor Berlin
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Kent Nagano
Exakt, äußerst differenziert, klar und gut durchhörbar, doch auch sehr schwungvoll, kraftvoll und dynamisch!
Der Chor und das Orchester halten auch bei den zügigen Tempi die Dynamik und können Naganos differenzierte Interpretation gut umsetzen. Auch Luba Orgonasova und Andreas Schmidt finden mein Gefallen. Placido Domingo kann mich jedoch hier richtig begeistern. Na klar, er singt mit Akzent und auch nicht immer gerade wortdeutlich, aber viel besser als bei seinen Wagner-Aufnahmen, und der Ausdruck und die Dynamik stimmen - und wie!
Neben dem Vergleich von Aufnahmen können wir vielleicht auch noch etwas genauer auf das musikalische Geschehen eingehen?
Interessant fände ich auch die Fragen: Wieso wird dieses große Werk eigentlich so relativ selten aufgeführt und eingespielt? Wieso (und von wem) wird es heute häufig als schwächer eingestuft, wie Alfred Schmidt irgendwo in diesem Forum schon beklagte?
Matthias