Sicher ist der Hunger eines der zentralen Motive in Humperdincks Oper, zumindest ist er DER Impuls für beinahe jede dramaturgische Wende innerhalb der Handlung. Mir ist solch ein inszenatorischer Grundgedanke bei diesem Stück jedenfalls lieber, als ein rein illustrativer oder plakativer Ansatz. Nur, wie leider so oft im Theater, können zwischen einem guten Grundgedanken und einer guten Umsetzung Welten liegen. So sehr ich selber in "Hänsel und Gretel" eher eine "dunkle, böse Mär" als eine "Waldromanze" sehe und mir in Humperdincks Partitur der Klang des Grotesken stärker scheint, als der Ton des volkstümelnd-sentimentalisierenden - so bin ich doch recht enttäuscht über Richard Jones Inszenierung, von der ich mir etwas mehr Hintergründigkeit erwartet hätte. Es gibt zwar immer wieder gute Ideen, aber das Ganze wirkt doch arg wie eine einzige Parodie. Und das wäre nicht mal so schlimm, wenn die Inszenierung dabei nicht so unglaublich oberflächlich und in Sachen Personenführung eben auch unsauber und unmotiviert wäre.
Auch wenn jeder der drei Akte in einer anderen Art von Küche bzw. Speisesaal angesiedelt ist, so fehlt doch ein sinnlicher und sinnvoller Kontext. So ist der zweite Akt zwar in seinen Einzelheiten recht stimmungsvoll (der düstere "Wald"-Saal, die bizarren Baumwesen), aber es fehlt doch einfach die Frage nach der dramaturgischen Plausibilität: wenn sich Regisseur und Bühnenbildner dazu entschließen, den ersten Akt in einem realen Raum (einer heruntergekommenen Wohnung, die man sich in dieser Art gut in einem suburbanen London vorstellen könnte) spielen zu lassen, den folgenden Akt dann aber in einer surrealen (Alp-)Traumwelt, dann müssen sie die Sinnfälligkeit und Logik des Ganzen überprüfen. Ebenso unmotiviert wirken auch viele Aktionen auf der Bühne: warum schmieren sich Hänsel und Gretel die gesammelten Beeren ins Gesicht und auf die Kleider? Warum finden sie den Ausweg nicht mehr, wo sich doch in Sichtweite eine große Türe befindet? Warum fürchten sie sich nicht vor den wandelnden Baumwesen, aber vor einem alten (Sand-)Mann im dreckigen Pyjama (der irgendwie ein wenig an eine Senioren-Version von Freddy Krueger mit Sopranstimme erinnert)? Warum erschreckt sich Gretel plötzlich vor den gebackenen Lebkuchenkinder in der Speisekammer der Hexe, obwohl diese zahlreich und offensichtlich schon seit Beginn der Szene in der Küche herumstehen und -liegen? Solche Ungereimtheiten gibt es leider ständig in dieser Produktion.
Die ganze Hexenszene artet dann in puren Aktionismus aus: es wird zwar eine große Küchenschlacht veranstaltet, die Knusperhexe selbst wirkt aber in keinster Weise auch nur annähernd bedrohlich. Obwohl mir auch hier die Idee der `netten alten Dame von Nebenan´ gefällt, bleibt die Darstellung dieser Figur erstaunlich blass und müde; trotz aufwendiger Maske - es ist die übliche clowneske Travestienummer...
Mich persönlich stört also weniger das Erscheinungsbild oder die grotesk-morbide Bildsprache der Inszenierung (ich kann den Bildern von John Macfarlane eigentlich sogar recht viel abgewinnen), als vielmehr deren Inhaltlosigkeit und Ungenauigkeit. Das ungewöhnliche Gewand der Aufführung vermag da leider nur wenig zu verschleiern.
Es gibt auch gelungene Momente, wie das stimmungsvolle Traum-Bankett mit seinen skurrilen Figuren, die einem Bild von Fernando Botero oder Michael Sowa entsprungen sein könnten, oder die Fressgier, mit der sich die hungrigen Geschwister über das üppige Kuchen- und Puddingbuffet hermachen, welches die Knusperhexe im Stil einer Kindergeburtstagsparty zubereitet hat. Und die ganze Inszenierung ist immer noch besser, als das, was Frau Thalbach in Dresden verbrochen hat...
Allerdings gibt es eine große Geschmacklosigkeit: wenn nämlich unmittelbar nach der `Hexenverbrennung´ (man kann durch die feuerfeste Glastüre des Ofens der Alten beim braten zuschauen) Hänsel von seiner Schwester einen Zweifingerbart a la Adolf Hitler aus Schokolade über die Oberlippe geschmiert bekommt, dann ist das mehr als anstößig und deplaziert.
Als Freund von Opernaufführungen in der Originalsprache habe ich große Schwierigkeiten mit der englischen Übersetzung. Nicht nur das es häufig die Gesangslinien - und dadurch für meine Ohren auch oft den gesamten musikalischen Eindruck (zer-)stört, diese Übersetzung ist in weiten Teilen einfach lächerlich und eher eine komplette Neudichtung, die mit der Vorlage rein gar nichts zu tun hat. (`Drüben hinterm Herrenwald, da gibt's prächt'ge Feste bald.´ wird z.B. übersetzt mit:`Back in 1843, we achieved democracy.´ - Das ist so bescheuert, das ich mir einen Kommentar hierzu lieber spare... )
Ein musikalisches Highlight der Aufführung ist das wunderbare Dirigat von Vladimir Jurowski, der schon die ursprüngliche Premiere dieser Inszenierung an der Welsh National Opera 1998 leitete. Mit großer innerer Ruhe versteht er es, die wunderbare Dynamik dieser Partitur zu entfalten, mit viel Liebe zum Detail, aber immer einem guten Gespür für den Gesamtzusammenhang.
Alice Coote singt einen wunderbar klang- und kraftvollen Hänsel, während Christine Schäfer leider einen etwas angeschlagenen Eindruck macht; ihre Stimme wirkt eng, in der Höhe angestrengt, es fehlt die Leichtigkeit und das Pure, Klare, daß ich sonst so an ihr schätze. Beide sind aber besonders spielerisch absolut in ihrem Element. Philip Langridge singt zwar recht anständig, wirkt aber stimmlich wie darstellerisch sehr eindimensional. Alan Held gibt einen sehr soliden Vater, Rosalind Plowright wirkt - wie so viele Sängerinnen mit der Partie der Mutter - überfordert, vieles gerät schrill und unsauber.
Im Gesamten ist es trotzdem eine sehr gute musikalische Leistung - leider nur in einer Übersetzung, die einem die Freude beim Zuhören trübt.