Konservative Opernaufführung - was bedeutet das? (2. Versuch)

  • [i]Die "verlangsamten Bewegungen" Otellos ergeben sich zwangsläufig aus dem Tempo der Musik. Ausserdem war Vickers alles eher als ein viriler Typ.
    Nein, alternative Inszenierungen des Otellos weisen sinnvollere choreographische Umsetzungen aus, als die primitiv-illustrative, oft nicht nur musikalische Message überlagernde Karajans. Außerdem könnte beim Film ebenso gut ein Schauspieler den „Stunt“ des Tenors übernehmen.


    Mit diesen und vielen anderen Widersprüchen muss der Opernfreund leben
    So ist es.


    :hello:


    Ist es tatsächlich so? Selten so gelacht! Danke, Amfortas, für diese erhellenden Worte.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Die Oper soll in jenem Land spielen, welches der Librettist vorgesehen hat
    Die Oper soll in jener Zeit spielen, die der Librettist vorgesehen hat
    Die Kulissen und Kostüme sollen möglichst "realitätsnah" sein - ein Punkt auf den ich später noch eingehen werde.


    Ich würde Alfred auch hier widersprechen und gleich ganz anders beginnen:


    Die Oper erzählt eine Geschichte von Dramatis personae, und deren Agieren und Emotionen spiegeln sich in der Musik. Ganz am Anfang muß also die Forderung stehen, daß sich die Figuren im Gang der Handlung mit den von ihnen durchlittenen und ausgedrückten Gefühlen im Einklang mit den szenischen Vorgängen und zur Musik befinden.


    Ich stelle das deswegen an den Beginn, da ich die Klagen von Sängern zu unserem Thema sehr ernst nehme und nicht übergehen kann, daß sich ein Sänger in einer Opernrolle seelisch entblößt. Doch sollte er sich deshalb keine Blöße geben müssen.


    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Denn immer schon hat es in der Bühnentradition derlei Abwägungen gegeben, welche Fassung(en) man heranzieht, wenn mehrere Fassungen existieren. Darin sehe ich nichts Verwerfliches - ist eher eine Geschmacks- oder Stilfrage.


    Ts ts ts , das sehen aber einige Freunde „konservativer Opernaufführungen gaaaaaanz anders...
    Nicht das du plötzlich in deiner Fürsprache für diese Eingriffe zum Vorstreiter des sog. „Regietheaters“ mutierst. :thumbsup:


    Zitat

    Ist es tatsächlich so? Selten so gelacht! Danke, Amfortas, für diese erhellenden Worte.


    Verwunderlich, dass du deine eigene Worte

    Zitat

    Mit diesen und vielen anderen Widersprüchen muss der Opernfreund leben

    plötzlich als lächerlich befindest. Ich kann dieser Aussage eine Menge abgewinnen.


    Zitat

    Bezeichnend, dass auch hier wieder am Kern der Sache vorbeischwadroniert wird. Ich möchte endlich eine Antwort resp. Begründung auf die Frage erhalten, warum die Verlegung der Handlung in eine andere Epoche notwendig sein sollte, ebenso dass man Bühnenszenen kreiert, die mit den Intentionen und Anweisungen der Autoren dermaßen hart kollidieren.


    Ich habe nie von der Notwendigkeit einer Verlagerung geschrieben.
    Die Opern-Bühnenwerken entstanden bereits aus der Perspektive der Zeit heraus, in der sie geschrieben wurden. Sie sind damit einer anderen Epoche zugehörig bzw. verlagert.
    Die Entscheidung, nach der „Epoche“ ergibt sich am jeweiligen Einzelfall:

    Zitat

    "Denn immer schon hat es in der Bühnentradition derlei Abwägungen gegeben"


    Zitat

    , ebenso dass man Bühnenszenen kreiert, die mit den Intentionen und Anweisungen der Autoren dermaßen hart kollidieren.


    Die Intentionen der Komponisten/Autoren sind mir schnuppe. Die wichtigere Frage die sich stellt ist, ob eine Regie am Werk abgleitet oder nicht, egal ob sie dabei „konservativ“ oder eher in Richtung des sog. „Regietheaters“ tendiert.
    Librettoanweisungen bilden nur einen Teil des Werkes, es gibt vor allem Musik und auch Text. (Wenn eine Aktualisierung Sinn macht, indem sie z.B. neue Beziehungen/Zusammenhänge aus dem Werk heraus eröffnet, wäre sie sinnvoll, ohne daraus ein Dogma zu schmieden).
    :hello:

  • Zitat

    Die Intentionen der Komponisten/Autoren sind mir schnuppe.

    Da haben wir es doch!!! Was zeichnet also den sich "modern" wähnenden Regisseur (und ich rechne Amfortas schon lange - nicht erst seit diesem entlarvenden Ausspruch - dazu) aus? Dass er einfach glaubt - wie er es jetzt offen zugegeben hat - sich über das Werk hinwegsetzen zu dürfen. Darf man es dann aber noch unter dem Namen des Komponisten und der Originalwerks laufen lassen oder müsste man es nicht als Etikettenschwindel bezeichnen? Ich jedenfalls - und ich glaube - viele andere bezeichnen es so!!


    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Hochverehrter Gerhard,


    schön, dass du weiterhin an meinen unwürdigen Ergüssen Anteil nimmst und diese momentan nicht als langweilig titulierst. :thumbup:


    Eine bescheidene Bitte aber noch meinerseits sei gewagt:
    Wenn du dir die Mühe machen könntest, diese auch noch adäquat zu apperzipieren, dann würde dir sicherlich deutlich werden, dass darin immer wieder der Bezug der Regie zum Werk gefordert wurde. Das ist aber etwas anderes als der Bezug zu den Intentionen des Komponisten oder Librettisten.


    :hello:

  • Zitat

    Ich stelle das deswegen an den Beginn, da ich die Klagen von Sängern zu unserem Thema sehr ernst nehme und nicht übergehen kann, daß sich ein Sänger in einer Opernrolle seelisch entblößt. Doch sollte er sich deshalb keine Blöße geben müssen.

    vielleicht mag das ein Grund sein, warum ich gegenüber Opern, deren Handlungen sich z.B. aus Kriegen während der Antike ergibt, eher sehr distanziert bin...
    :hello:

  • Wenn du dir die Mühe machen könntest, diese auch noch adäquat zu apperzipieren, dann würde dir sicherlich deutlich werden, dass darin immer wieder der Bezug der Regie zum Werk gefordert wurde. Das ist aber etwas anderes als der Bezug zu den Intentionen des Komponisten oder Librettisten.


    Ich hoffe doch dass ich einigermaßen adäquat apperzipieren kann: Wenn also der Bezug zum Werk etwas anderes ist als der Bezug zu den Intentionen des Komponisten oder Librettisten, meinst du dann damit, das letztendlich beim Werk aus Versehen etwas anderes herausgekommen ist als die beiden eigentlich vorhatten? Dann verstehe ich jetzt endlich, warum so viele Regisseure glauben, den Autoren oder Komponisten erklären zu müssen, was sie eigentlich meinten.


    Viele Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Natürlich kann ich - in einigen Fällen - den "Sinn" eines Werke auch erhalten - wenn ich es in eine andere Zeit übertrage (wenngleich das eher selten der Fall ist) - aber ich nehme dem Werk in den meisten Fällen den Reiz.
    Und er Reiz einer Oper -sei er musikkalisch, sei er textlich - ist es der die Leute in die Opernhäuser treibt - nicht etwa ein doppelbödiger - oder im schlimmsten Falle sogar nicht vorhandener - "Sinn" des Werkes.
    Die Frage nach dem Sinn, eine Oper zu entstellen ist - wenngleich nicht hierher passend - immerhin interessant und eine Überlegung wert...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wenn also der Bezug zum Werk etwas anderes ist als der Bezug zu den Intentionen des Komponisten oder Librettisten, meinst du dann damit, das letztendlich beim Werk aus Versehen etwas anderes herausgekommen ist als die beiden eigentlich vorhatten?
    Das ist eher ein ganz „üblicher“ Vorgang bei der Entstehung großer Kunst, dass das Werk „mehr“ ist, als die Intentionen des z.B. Komponisten.


    Dann verstehe ich jetzt endlich, warum so viele Regisseure glauben, den Autoren oder Komponisten erklären zu müssen, was sie eigentlich meinten.
    Regisseure erklären nichts den Komponisten. Sondern sie versuchen zu interpretieren bzw. das Werk zu verstehen, wie letztlich auch das Publikum (mich eingeschlossen) versucht das Werk zu verstehen, zu deuten. Kurzstreckenmeister betonte völlig zu Recht, dass sinnliche Erscheinung mit Botschaft/Gehalt/“Sinn“ im Kunstwerk nicht identisch ist bzw. nicht zusammenfallen.
    Deine Schlussfolgerung kann ich mir (bei aller Distanz zur von dir beschriebenen Haltung der Regisseure), generell dabei gut zu eigen machen, weil darin sehr schön deutlich wird, dass das Werk eben reicher, bedeutender ist, als das was ein Komponist damit intendierte.


    Natürlich kann ich - in einigen Fällen - den "Sinn" eines Werke auch erhalten - wenn ich es in eine andere Zeit übertrage (wenngleich das eher selten der Fall ist) - aber ich nehme dem Werk in den meisten Fällen den Reiz.
    Das Gegenteil ist ebenso möglich.


    Und er Reiz einer Oper -sei er musikalisch, sei er textlich - ist es der die Leute in die Opernhäuser treibt - nicht etwa ein doppelbödiger - oder im schlimmsten Falle sogar nicht vorhandener - "Sinn" des Werkes.
    Ohne eine „doppelbödige“ Ebene, wären viele Opern bloße Produkte der Unterhaltungsindustrie (natürlich sollen diesei unterhalten).
    Und woher die Sicherheit über die Motivationen der Besucher ? Zahlen eines Markforschungsinstituts ?
    Außerdem ist der „Reiz“ nicht isoliert vom „Sinn“ zu denkbar, sondern mit ihm verknüpft, auch wenn beides nicht unmittelbar identisch ist bzw. unmittelbar zusammenfallen.
    Selbst bei Everding, Felsenstein gibt kein isoliertes bzw. primäres Herausarbeiten des „Reizes“


    Die Frage nach dem Sinn, eine Oper zu entstellen ist – wenngleich nicht hierher passen - immerhin interessant und eine Überlegung wert...
    Eines Aufführung, in der werkadäquate Gewichtung der Geltung von Librettoanweisung, Musik und Text vollzieht (jede Regie gewichtet und ist damitl als Eingriff zu betrachten), um den "Sinn" zu bewahren (auch ein Everding und Schenk machen das) und damit nicht vom Werk abgleitet, ist nicht entstellend.
    :hello:

  • Deine Schlussfolgerung kann ich mir (bei aller Distanz zur von dir beschriebenen Haltung der Regisseure), generell dabei gut zu eigen machen, weil darin sehr schön deutlich wird, dass das Werk eben reicher, bedeutender ist, als das was ein Komponist damit intendierte.

    Arme Komponisten! Mir scheint,da unterschätzt du sie doch etwas. Meinst du, sie wussten wirklich nicht, was sie taten und was sie mit ihrem Werk zeigen wollten?

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

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  • ihre Werke gerieten größer, anders und komplexer, als das was die Komponisten damit wollten... das bedeutet ja nicht gleichzeitig die Komponisten zu unterschätzen...
    :hello:

  • ihre Werke gerieten größer, anders und komplexer, als das was die Komponisten damit wollten... das bedeutet ja nicht gleichzeitig die Komponisten zu unterschätzen...
    :hello:


    Wenn das einmal passiert wäre,würde ich das ja noch für möglich halten, aber offenbar haben ja fast alle Komponisten bei allen ihren Werken ihre Intentionen weit übertroffen und ohne die heutigen Regisseure hätte das immer noch niemand gemerkt.
    Meinst du nicht auch, dass das einigermaßen absurd klingt?


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Nein, überhaupt nicht. Sondern das ist ein Merkmal aller großen Kunst, als z.B. auch der reinen Instrumentalmusik, also auch der Literatur usw.
    Das Entscheidende bei den Kunstwerken ist nicht, was die Künstler wollten, sondern das was von ihnen gestaltet wurde, also das Ergebnis ihres Schaffens.
    :hello:

  • Irgendwie geht mir das hier zu sehr durcheinander. Der Wolfram ist schuld mit seinem "Intentionen-des-Künstlers"-Argument.


    Keiner von uns, nicht mal der staubigste Staubi, möchte doch eine Aufführung von Goethes "Faust" sehen, in der alle "Intentionen" Goethes berücksichtigt und umgesetzt würden.


    Denn was hat der olle Goethe nicht alles gewollt mit seinem Faust, was steckt da nicht drin an Zivilisationskritik, Religionsphilosophie, an Ethik und Künstlerdrama, an höchsten Dingen und letzten Fragen, an Theatertheorie auch, denn der Faust ist ja im Grunde ein barockes Kasperletheater, wo der Teufel wie auf der mittelalterlichen Simultanbühne immer zugegen ist, gekreuzt mit einem Menschheitsdrama ersten Ranges, wo der Held sich titanenhaft durch die Liebe hindurchringt (gut, das Gretchen bleibt auf der Strecke) ... Also ich weiß es nicht, das wird ein langer Abend.


    Einige Stimmen hier fordern aber unter dem Etikett "Intentionen des Künstlers" bloß, daß in der äußerlichen Anlage des Stücks dem Genüge getan wird, was an Anhaltspunkten für die Umsetzung einer Aufführung dem Text zu entnehmen ist.


    Nun ist es zwar einsichtig, daß die ausführenden Künstler, egal ob Schauspieler oder Sänger, mit ihren Rollen sehr vertraut sind. Wer je das Vergnügen hatte, mit Schauspielern über die kanonisierten Meisterdramen der Weltliteratur zu plaudern, der staunt über das immense Gedächtnis, das dem Mimen zustatten kommt, wenn er alles auswendig am Text zu belegen weiß.


    Aber aus einer Handvoll von solchen Spielern wird noch lange kein Drama. - Diejenigen, die die Regieleistung für "Peanuts" halten, vertreten hier die uneingestandene Auffassung, aus dem Text selbst folge bereits der richtige Affekt, die treffende Gebärde, das beredsame Mienenspiel, gleichsam als gebe es eine natürliche Evidenz der Darstellung, als lasse sich eine schlüssige Aufführung intuitiv aus dem Rollenbuch deduzieren.


    Ich habe in den threads zum Thema wiederholt aufrißhaft die möglichen Themen etwa des Othello in den Raum gestellt in der Absicht, zu veranschaulichen, wie die Geschichte gewichtet werden könnte.


    Einige hier, ich lese das mit Kopfschütteln, halten diese Gewichtungen bereits für überflüssig und stellen sich etwa vor, es gäbe eine musterhafte Art der Aufführung, die sich für keinen Plot, keine Geschichte, keine Gewichtung entscheiden müsse, sondern wo die Spieler einfach den Text, wie ihn der Künstler gewollt habe, ins Zuschauerhaus sprächen, wo ein Publikum säße, das sich aus dieser Art der Vorführung die verschiedenen Interpretationen im Kopf zurecht legen könne, ohne sie vom Regisseur "mit dem Holzhammer" aufgedrängt zu bekommen.


    Gütiger Himmel, was für eine weltfremde, bornierte Haltung! Dazu paßt es dann wohl, daß die Kulissen, die Kostüme und Tableaux das Primat über die Figurenregie bekommen, ja daß behauptet wird, Opernfiguren seien ohnehin psycho-logisch unterbelichtet, holzschnittartig und schematisch, so daß man gar nicht erst versuchen solle, ihrem Tun allzuviel Sinn beizumessen.



    Nehmen wir nur eine berühmte, eine Schlüsselstelle von Verdis Otello (III,3):


    Ma, o pianto, o duol!
    m'han rapito il miraggio
    dov'io, giulivo, l'anima acqueto.


    Entscheidend daran ist der veränderte Akzent, verglichen mit Shakespeares Drama (IV,2):


    But there where I have garner´d up my heart (...)


    Das Wort miraggio bezeichnet bereits selbst das trügerische Wunschbild, die lebensnotwendige Illusion, die Desdemona nun zerstört hat, der sie nicht mehr als Grundlage und Medium dienen kann. - Der Zweck oder das Ziel dieser Illusion ist es, die Seele zu beruhigen, sie einzulullen (acquetare l´anima).


    Nicht der Quell des Lebens (The fountain from the which my current runs ebd.), der Sammelpunkt des Herzens wie bei Shakespeare, sondern die existenziell unentbehrliche Täuschung wird angesprochen. Indem der gesungene Text hier auf Otellos Liebe reflektiert, muß auch die Aufführung auf diesen Text reflektieren. Im Zusammenhang der Täuschungsanfälligkeit Otellos sind weitreichende Konsequenzen möglich, zumal was Otellos Liebesfähigkeit und die Rolle Desdemonas betrifft.


    Hier haben wir es tatsächlich einmal mit den Intentionen Verdis und Boitos zu tun, auf einer Ebene, die mit Kostümen und Tableaux nicht das geringste zu tun hat. Ich führe sie auch bloß an, um die eigentlichen Herausforderungen der Regie bei der Umsetzung eines so komplexen Dramas wie des Otello knapp anzudeuten.


    Denn hierauf lassen sich auch Otellos Worte nach der Mordtat beziehen: Calma come la tomba, sowie das Venga la morte! usw. im großen Liebesduett (das bei Shakespeare keine Entsprechung hat). Das Glück, die Exstase und der Tod mit seiner Ruhe bilden die Pole, an denen Boito das Drama verklammert; nicht bloß, um einen Scheitelpunkt und einen Tiefpunkt in Otellos seelischer Karriere gegeneinanderzusetzen; sondern zugleich, um eine geheime Identität in beiden walten zu lassen.


    Wenn man das in der Darstellung einfach übergeht, hat man das Drama nicht einer solchen Deutung gegenüber "offen gelassen", wie einige hier beschönigend behaupten; man hat das Drama gar nicht erst in seiner Tiefe angemessen begriffen. Man hat aus Verdis Meisterwerk eine beliebige Eifersuchtsgeschichte gemacht, deren Hergang die Inszenierung nicht begreiflich zu machen braucht. Man ist hinter den künstlerischen Intentionen, die das Drama so zwingend machen, in einem unverbindlichen Irgendwie zurückgeblieben.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Der Wolfram ist schuld mit seinem "Intentionen-des-Künstlers"-Argument.


    Ich Böser ... Gnaden möge zugute halten, dass die Diskussion wenigstens zur Zeit etwas mehr von Argumenten gestützt verläuft, als dies manchmal der Fall war ... :stumm::hello:


    .. beim Vortrag einer Klaviersonate Beethovens erwarte ich schon eine Umsetzung der Intentionen der Komponisten. Siehst Du das auch so? Oder darf der Pianist auch andere Noten spielen? Was ist bei einer Oper anders?


    Ich verstehe, dass das (Meister-)Werk größer ist als sein Schöpfer, dass die Frage nach den "Intentionen des Komponisten" in der Tat zu kurz greift. Ich habe das Argument verwendet, um gegen die Buchstabentreue zu argumentieren. - Aber was dann ist der Maßstab?

  • Natürlich kann ich - in einigen Fällen - den "Sinn" eines Werke auch erhalten - wenn ich es in eine andere Zeit übertrage (wenngleich das eher selten der Fall ist) - aber ich nehme dem Werk in den meisten Fällen den Reiz.
    Das Gegenteil ist ebenso möglich.


    Willst du damit sagen, lieber Amfortas, daß manche Opern in der Zeit, in der sie der Komponist spielen läßt, reizlos sind? Da würde ich jetzt gern einige Beispiele hören. ;)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe schon bei Beethoven meine Zweifel, ob man in einem sinnvollen Verstand auf die Intentionen des Komponisten rekurrieren sollte. Das ist eine Mystifikation, die das Spannungsverhältnis zwischen exakter Notation und unnotierbarer Subjektivität (die ja spontan und historisch veränderlich ist) in die Richtung eines hermeneutischen Wahrheitsdiskurses verbiegt.


    Nicht einmal eine individuelle Handlung drückt exakt ihre zugrundeliegende Intention aus. Jede selektive Entscheidung verweist zurück auf die Offenheit des Horizonts, der der Auswahl vorausliegt. Es folgt also nicht schematisch deduzierbar b kausal aus a. Sondern b leuchtet vor dem Hintergrund dessen, was gewaltsam zurückgedrängt wurde oder unausdrücklich mitschwingt. Daher die evokative Kraft der lyrischen Wendung im Gedicht.


    Was ist bei der Oper anders?


    Es existiert kein Notationssystem für taktgenaue szenische Vorgänge. Man müßte, gäbe es keine Bühnenanweisung im Libretto, den Sänger so lange herumstehen lassen. Zumal um den Handelnden und die Kulisse in eine reale, lebensnah sinnvolle Beziehung zu setzen, bedarf es der produktiven Phantasie eines Spielleiters und der Umsetzbarkeit bei den Darstellern.


    Zudem ist das Wort "Realismus" verfänglich. Als real empfinden wir eine bestimmte Dichte oder Intensität und Verwobenheit des Sichtbaren, verbunden mit einem Gefühl der Gleichzeitigkeit.


    Der leere Bühnenraum verkörpert die ganze Welt; auch alle Zeiten zugleich. Ein historisches Kostüm hat ursprünglich die Kraft, aus dem Nichts diese ferne Zeit hervorzuzaubern und den Zuschauer dorthin zu versetzen.


    Erst der Historismus wird diese evokative Kraft leugnen und die ferne Wirklichkeit en detail nachbauen. Aber damit wird ein Theaterbegriff zu Grunde gelegt, der für Shakespeare, den Goethe des Faust oder den Da-Ponte-Mozart keine Rolle spielt.


    In der Oper kennen wir z.B. den Begriff des verismo, der eng mit dem Genrebegriff verknüpft ist. Man müßte eigentlich bei der Commedia dell´arte und der Typenkomödie beginnen. Denn zuerst an die Typen der Komödie beginnt sich das Reale zu heften, das sozial verortete Konkrete, das Körperliche, der Schmutz. Rossinis Figaro ist noch ganz Typus und Rolle; Mozarts Figaro schon unterwegs zum Charakter. Susanna ist auch ein Charakter, Despina eine Type (u.a. passives Werkzeug) und eine Urgroßmutter der Fledermaus-Adele, die ja bloß ein gebündeltes Kammerzofen-Cliché bietet.


    Die Susanna hat aber eine soziale Note, einen Freiraum und damit bereits einen minimalen Aktionsradius. - Auch ein Van Bett ist kein Typus, sondern ein Charakter - er entlarvt sich selbst (anders als der Rossini-Figaro, der auf sich zeigt). Die Charakterkomödie geht auf Molière zurück, immer am Lasterkatalog entlang ("L´avare", "Le malade imaginaire"; "Le Misanthrope" usw.) Die Realität erscheint darin zugespitzt auf die Bedürfnisse eines zu gestaltenden Individuums - die Zielrichtung ist daher weniger realistisch-anschaulich als selbsteskamotierend-introspektiv. Noch Siegfrieds Mime ist so ein introspektiv-bloßgestellter Charakter.


    Aus dem Typus entwickelt sich als flächigeres Ornament das Genre. Aus dem Capitano wird der Matrosenchor, aus der Despina die summende brummende Spinnstube. Die Ansätze zum Genre sind bei Mozart bereits greifbar - die Bauernhochzeitsgesellschaft im Giovanni, die Ehrenmädchen im Figaro, das Kriegsvolk in der Cosi fan tutte. Der Chor ist sozusagen die Mutter aller Genres. Im ersten Bild der "Carmen" finden wir die Genre-Idee zur Totale entwickelt: Ein heißer Platz in Sevilla, die Zigarettenfabrik, die herumlungernden Soldaten, die trällernden Knaben.


    Das flirrende Nachmittagslicht dieses staubigen Südspaniens hat einen anderen Grad der Verwirklichung als eine "Waldweben" genannte Szene aus Siegfried. Was soll das für ein Weben sein, was für ein Wald, was für ein Vogel? - An die Stelle der illustrativen Konkretion rückt hier die bildlose Suggestion.


    Aus dem flächigen Total-Genre entwickelt sich dann der Verismo. Die Genauigkeit der Abbildung reicht nun bis in das soziale Gefüge der Figuren. Der "Tabarro" schildert die Unerfreulichkeit eines Milieus, das auch der Stummfilm nicht scheut. Vergeblich wird Puccini versuchen, auch seine "Bohème" als veristisch auszugeben, wogegen die Oper in Wahrheit ins Dekorative und Genrehafte eines nostalgischen Paris-Bilderbogens zurückfällt.


    Der erste Akt des "André Chenier" spielt im Dixhuitième. Aber es ist ein historistisch ausstaffiertes, überzeichnetes und vor allem: verlogen falsches Ancien régime à la Hollywood. Nur sehr stillose Menschen könnten auf den Gedanken kommen, es sei die gleiche Art von Opernrealimus, die Mozarts "Figaro" erheische. Denn für Mozart ist sein Jahrhundert Gegenwart, kein Genre.


    Die stilisierten Charaktere Da Pontes vertragen sich nicht mit dem weitschweifigen Realismus des Rollerschen Rosenkavaliers. "Dove sono" ist nicht der Monolog der Marschallin. Die Greifbarkeit der Verhältnisse, die den Realismus des Figaro ausmachen, beruht bis heute auf dem Witz und der Aktualität der Figurenkonstellationen, nicht auf einem kulturhistorisch geprägten Rückblick auf ein "So war es ehedem".


    Ich könnte lange so weiterschreiben, lasse es aber damit bewenden. Einige werden mich sicher verstehen. Anderen hoffe ich, es nicht gar so leicht werden zu lassen mit dem Realismus auf der Opernbühne.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

    Einmal editiert, zuletzt von farinelli ()

  • Zitat

    Willst du damit sagen, lieber Amfortas, dass manche Opern in der Zeit, in der sie der Komponist spielen lässt, reizlos sind? Da würde ich jetzt gern einige Beispiele hören.

    Nein nicht generell; sondern zunächst, dass es gleichfalls möglich ist, dass mit dem Verzicht auf eine genaue zeitliche Fixierung und damit „buchstabengetreue“ Umsetzung der Librettoangaben die Aufführung an Reiz gewinnt.
    :hello:

  • Was ist bei der Oper anders?


    Es existiert kein Notationssystem für taktgenaue szenische Vorgänge. Man müßte, gäbe es keine Bühnenanweisung im Libretto, den Sänger so lange herumstehen lassen. Zumal um den Handelnden und die Kulisse in eine reale, lebensnah sinnvolle Beziehung zu setzen, bedarf es der produktiven Phantasie eines Spielleiters und der Umsetzbarkeit bei den Darstellern.
    :hello:


    Hier wird wieder einmal dem Gottöbersten (= Regisseur) die Reverenz erwiesen, der ja die Weisheit mit dem großen Löffel gefressen hat, und zugleich werden die Sänger, die sich mindestens ebenso intensiv mit dem Werk und ihrer Rolle auseinanderzusetzen haben, als arme Hascherln denunziert, die ohne die Hilfe dieses Allmächtigen ratlos auf der Bühne herumstehen müssen. - Eine recht sonderbare Sicht der Dinge, aber heutzutage wird einem eingetrichtert, dass diese hilflosen Marionetten, diese bedauernswerten Hascherln, den Schnuller der wissenden Amme benötigen.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Hier wird wieder einmal dem Gottöbersten (= Regisseur) die Reverenz erwiesen, der ja die Weisheit mit dem großen Löffel gefressen hat, und zugleich werden die Sänger, die sich mindestens ebenso intensiv mit dem Werk und ihrer Rolle auseinanderzusetzen haben, als arme Hascherln denunziert, die ohne die Hilfe dieses Allmächtigen ratlos auf der Bühne herumstehen müssen. -


    Darum geht es doch gar nicht!?


    Es ist klar, dass der Wiedergabe auf der Bühne ein Konzept zugrunde liegen muss. Und dieses Konzept wird eben nicht durch Mehrheitsentscheidung von noch so kundigen Sängerinnen und Sängern gewählt, sondern durch die Entscheidung eines Regisseurs.


    Was gibt es daran auszusetzen?


    Im Übrigen macht doch der Ton die Musik - lieber Milletre, leider stellst Du selbst Deine guten Gedanken in schlechtes Licht. Warum?

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  • Ich muß gestehen, dass ich mit der so verächtlich gemachten "kulinarischen Oper" aufgewachsen bin, was zur Folge hatte, dass wir uns 2 Tage anstellten, um etwa Leontyne Price als Tosca zu erleben. Oder um di Stefano oder Pavarotti in einer glanzvollen Tenorpartie. Bei Karajan mußten wir uns noch länger anstellen, aber es lohnte sich über alle Maßen. Und da war es mir und uns vollkommen schnurz, ob die Sängerin oder der Sänger, dessentwegen wir die Oper frequentierten, in einer bestimmten Szene die Rechte oder die Linke erhob, denn jeder dieser Abende war unglaublich spannend, da diese Sänger ihre eigene Interpretation im Rahmen der vorgegebenen Regie auf der Bühne ausleben konnten. Wie ungemein verschieden war doch die Gestaltung der Tosca der Tebaldi beispielsweise von der der Rysanek. Beide in derselben Wallmann-Produktion, aber jedesmal unglaublich spannend und beeindruckend.


    Oder der Jago von Tito Gobbi! Der agierte zwar auch in der Karajan-Regie, aber wie grundverschieden etwa von seinem Kollegen Giuseppe Taddei.


    Wie gesagt, das Gerüst der Regie war natürlich der Ausgangspunkt, aber was jeder dieser Weltstars an eigener Interpretation bot, war aufregende Spannung pur.


    Hingegen heute ...

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Ich muß gestehen, dass ich mit der so verächtlich gemachten "kulinarischen Oper" aufgewachsen bin, was zur Folge hatte, dass wir uns 2 Tage anstellten, um etwa Leontyne Price als Tosca zu erleben. Oder um di Stefano oder Pavarotti in einer glanzvollen Tenorpartie. Bei Karajan mußten wir uns noch länger anstellen, aber es lohnte sich über alle Maßen. Und da war es mir und uns vollkommen schnurz, ob die Sängerin oder der Sänger, dessentwegen wir die Oper frequentierten, in einer bestimmten Szene die Rechte oder die Linke erhob, denn jeder dieser Abende war unglaublich spannend,


    Das kann alles sein oder auch nicht.


    Lieber Milletre, niemand will Dir Deine Opernerlebnisse nehmen. Ich weiß nicht, wer die kulinarische Oper hier angeblich verächtlich macht.


    Mir bleibt hier nur festzustellen, dass die "kulinarische Oper", wie Du sie nennst, jedenfalls die Diskussionskultur nicht bei allen, die dieses Genusses teilhaftig werden durften, erhöht hat.


    Es gibt übrigens Sängererinnerungen, in denen die Gesangsstars darüber schimpften, wie lieblos die (kaum existierende) Regie mit ihnen umgegangen war. Da blieb ihnen eigentlich nur die Improvisation. Große Künstler haben auch solche Situationen in imponierender Weise bewältigt. - Einige dieser Künstler haben sich dann auch darüber lustig gemacht, mit welchen euphorischen Worten dann die Presse ihren extemporierten Bewegungen irgendwelche tollen Aussagen und Konzepte unterlegte. - Ich kann dazu nichts sagen, und wenn hier ein Zeitzeuge etwas Fundiertes beisteuern kann, dann kann dies ja zur Sache durchaus beitragen.


  • Natürlich gibt der Regisseur die Linie jeder Rolle vor, das ist ja keine Frage und auch notwendig, soll die Aufführung nicht im Chaos enden. Aber unstrittig ist doch, dass man früher den Sängern größere Freiräume geboten hat, während heute schon jeder Augenaufschlag durchchoreographiert ist. Und damit wird den Sängern viel von deren eigener Kreativität genommen.


    Dass ich zum xte Mal meiner Ausdrucksweise wegen gescholten werde, liegt wohl daran, dass ich mit besonderem Engagement argumentiere. - Ich warte nur darauf, dass man andere Kollegen ebenso schilt, die von Karajan- oder Schenk-Debakeln permanent sprechen oder gar Karajan als Musik-Zerdehner hinstellt (z.B. Otello-Beitrag, wo er Vickers viel zu langsam agieren läßt, so daß ein Double als "Stunt" angebracht gewesen wäre ...)

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Ich warte nur darauf, dass man andere Kollegen ebenso schilt, die von Karajan- oder Schenk-Debakeln permanent sprechen oder gar Karajans Musikverständnis (z.B. Otello-Beitrag, wo er Vickers viel zu langsam agieren läßt, so daß ein Double als "Stunt" angebracht gewesen wäre ...


    Na ja, jeder Stil hat auch seine Zeit.


    Der Stil von Peter Anders etwa als Interpret der Winterreise hatte seine Zeit. Und Zeitzeugen schwärmen noch heute, weil sie in der Zeit gelebt haben und durch dieselbe Zeit geprägt wurden wie Anders. Sänger und Hörer hatten also einen gewissen gemeinsamen Werte- und Zeichenvorrat.


    Der ist bei generationenübergreifender Betrachtung eben ein anderer. Ich erkenne durchaus die Größe von Anders' Winterreisen, doch würde er heute mit seinen Ansätzen wohl scheitern. Weil die Menschen heute eben einen anderen Werte- und Zeichenvorrat haben.


    Ich möchte auch die Beethoven-Sinfonien nicht unbedingt mehr in den Interpretationen von Weingartner hören. Das scheint mir doch sehr weit weg. Mit Furtwängler und Klemperer habe ich deutlich weniger Probleme.


    Auch Inszenierungen haben halt ihre Zeit. Der Liebermann-Film zum Freischütz - toll gemacht. Aber die Volksszenen sehen eher nach dem "Blauen Bock" der 1950er/60er Jahre aus als nach Böhmen um 1650. - Eine noch so gut gemachte Inszenierung kann ihre Zeitgebundenheit nicht leugnen, auch wenn es den Zeitgenossen zeitlos vorkam. Denn die eigene Prägung kann man ja kaum bewusst wahrnehmen. - Vielleicht liegt ja eine Gefahr darin, dasjenige für zeitlos zu halten, was der eigenen Prägung voll entspricht.


    Darum erlaube ich mir durchaus, zu sagen, was ich in der Zeffirelli-Bohème albern finden würde. Was ein Zeitzeuge wie Du vermutlich nicht so empfinden würde. Das kann man doch akzeptieren? - Du hast in Deiner Sturm-und-Drang-Zeit vermutlich auch nicht alles übernommen, was die Generation Deiner Großväter gut und wichtig, wahr, gut und schön fand, oder? Schon vergessen?

  • Es wird hier sehr viel Gescheites geschrieben - ohne, daß jedoch je ein Konsens erzielt werden kann.
    Wolfram schreibt viele, wo ich beifällig mit dem Kopf nicke - aber in der Endbeurteilung sind wir Welten auseinander.


    Zitat

    Sänger und Hörer hatten also einen gewissen gemeinsamen Werte- und Zeichenvorrat.
    Der ist bei generationenübergreifender Betrachtung eben ein anderer. Ich erkenne durchaus die Größe von Anders' Winterreisen, doch würde er heute mit seinen Ansätzen wohl scheitern. Weil die Menschen heute eben einen anderen Werte- und Zeichenvorrat haben.


    Man kann beispielsweise der ersten Betrachtung wohl beipflichten, wenn man hier andeuten will, daß heutige Insenierungen ANDERS ausfallen würden, als jene vor 40 oder mehr Jahren. Lediglich WIE der Unterschied ausfallen sollte, bzw WARUM er anders ausfiele - darüber sind Wolfram und ich verschiedener Meinung.


    Ich werde versuchen dies an einem Beispiel näher zu bringen - ohne daß dieses allzu wörtlich genommen werden sollte. Es soll nur veranschaulichen was ich in etwa meine:
    Es gibt verschieden Filme über Wolfgang Amadeus Mozart, einen mit Hans Holt, einen mit Oskar Werner und einen mit irgendeinem Amerikaner in der Titelrolle. Jeder dieser Film wurde zu einer anderen Zeit gedreht - jeder zeigt einen anderen Mozart. Und immer war man bemüht "historisch glaubwürdig" zu sein - was aber nie wirklich gelang. Jeder der drei Filme war mit Spitzenschauspielern seiner Zeit besetzt - jeder der derei Filme ist meiner Meinung nach historisch UNHALTBAR !!
    Dennoch - bei oberflächlicher Betrachtung zeigen sie doch irgendwie Mozart - sein Umfeld, seine Zeit. Je nach vorhandenen Geldmitteln hat man Kostüme und Szenerie gewählt - und Szenen aus Mozarts Leben willkürlich ausgewählt. Die alten Filme zeigen einen eher süsslich oder erhabenen Mozart, der neuere ("Amadeus") einen Kasperl. Zudem wurden so ziemlich alle Clichees bedient. ABER: Immerhin atmeten alle drei Filme den Geist des 18. Jahrhunderts - mehr oder weniger.


    Genauso wäre es, wenn ich heute(nur als Beispiel) die Zauberflöte im alten Stil inszenieren würde:
    Bei allen Bemühungen - es würde - wenn vielleicht auch nicht heute (im Sinne von derzeit) - stets zu merken sein, daß es sich um eine Aufführung von 2011 - und nicht von (beispielsweise) 1960 handelte.
    Menschen bewegen sich anders, sie artikulieren anders ihre Körpersprache ist und bleibt - bei aller Verstellung - jene des beginnenden 21. Jahrhunderts. Ich würde Szenerien einbauen, die anders gelöst wären als jene bisheriger ("klassischer") Inszenierungen. Aber ich würde - da sei Gott davor - keineswegs Modernismen, die mir selbst bewusst sind, einbauen.


    Dennoch - in 50 Jahren würde man erkennen und anprangern, wie verfälschend meine alte Inszenierung doch gewesen ist.

    Zitat


    Weil die Menschen heute eben einen anderen Werte- und Zeichenvorrat haben.


    Stimmt das ?


    Manchmal möchte ich es glauben, wenn ich sehe was Menschen als "Speisen" bezeichnen (Im Englischen, woher heutige "Esskultur" ja kommt bezeichnet man das als "Food" - was der Realität treffend nahe kommt, gnauso wie "Hot DOG" etc..
    Oder wie Möbelhäuser Möbel "designen" die in meine Kategorie "Sperrmüll" fallen würden - von Bekleidung möchte ich erst gar nicht reden, wo vom Generaldirektor bis zum Strassenstrotter alles in diesen berüchtigten Jeans herumläuft.
    Und auch beim Opernball, wo man sieht, wie schwer sich die Leute in gepflegter Umgebung (auch diese ist mehr Kulisse als Realität) bewegen, welches Korsett ihnen dies alles ist.


    Ja - dann möchte ich schon an diesen geänderten - oder besser gesagt nicht mehr vorhandenen Werte - und Zeichenvorrat glauben.


    ABER: Ein Großteil des heutigen Publikums scheint sich dennoch nach dem alten Wertevorrat zu sehnen -
    denn ich kann keine große Begeisterung erkennen, wo - meist gegen den Willen der Zuschauer - diese Zeichensprache eingesetzt wird. Buhrufe sind - auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen - kein Ausdruck von Zustimmung oder Begeisterung...


    mit freundlichen Grüssen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hier wird wieder einmal dem Gottöbersten (= Regisseur) die Reverenz erwiesen, der ja die Weisheit mit dem großen Löffel gefressen hat, und zugleich werden die Sänger, die sich mindestens ebenso intensiv mit dem Werk und ihrer Rolle auseinanderzusetzen haben, als arme Hascherln denunziert, die ohne die Hilfe dieses Allmächtigen ratlos auf der Bühne herumstehen müssen.


    Lieber Milletre,


    es ist mir bewußt, daß ein Regisseur, der mit Profis arbeitet, nicht bei jeder zweiten Phrase unterbricht, sondern durchaus mal sagt: "Machen Sie mal", oder den Darsteller agieren läßt.


    Profis bringen jedoch auch bereits genug Bühnenerfahrung mit, um eine Szene im Griff zu behalten. Meine letzte Live-Einspringerin, Deborah Polaski als Isolde (StudL), hat mir dagegen eher die Grenzen derartiger Improvisationskunst aufgezeigt.


    Meine Vorstellungen von Opernregie beziehen sich z.B. auf die Making-Of-DVD der Böhm-Elektra unter Götz Friedrich. Das ist ein Dialog auf hohem Niveau, da die Sänger sich fabelhaft in die Regie einfühlen und der Regisseur die Sänger im vollen Rahmen ihrer Möglichkeiten einsetzt (Gott, das sind schließlich die Rysanek und die Varnay).


    Ein youtube-Ausschnitt mit der Tebaldi als Tosca (die Folterszene, live) hat mich nicht so ganz von den darstellerischen Fähigkeiten dieser Dame überzeugt - das war doch viel Armewerfen und Händeringen, und ein konfuses Umherirren. Aber was weiß ich schon.


    Im übrigen gehe ich in letzter Zeit überhaupt nicht mehr vom "Regisseurstheater" aus, sondern beziehe mich innerlich immer auf darstellerische Umsetzungen, die zeitlich und ästhetisch in die Epoche der "klassischen", "werkgerechten" Aufführung fallen.


    Was Du so nonchalant als "Gerüst" der Regie bezeichnest, scheint mir denn doch sehr viel sorgfältiger erarbeitet, als Du es wahrhaben möchtest. Ich denke bloß etwa an den Serafin-Otello von 1958. Sicher, die Sänger spielen unter playback. Aber wenn sie sich in diesem Rahmen einmal ganz auf die Darstellung zu konzentrieren vermögen, bekommt man genau jenes durchchoreographierte mimisch-gestische Netz subtilster psychologischer Ausdeutungen, das niemals spontan und halb improvisiert solche Stimmigkeit erreichen könnte.


    War es nicht Giulini, der keine Opern mehr dirigieren wollte, weil die Arbeit mit den Sängern zu kurz kam? Und war nicht Toscanini ein unerbittlicher Richter über die Sänger? - Ich meine im Grunde bloß eine Binsenweisheit zum besten zu geben, wenn ich behaupte, daß immer schon tiefe und ergreifende Aufführungen mehr voraussetzen als routinierte Sängerdarsteller. Daß auch die klassische Bühneneinrichtung tiefgreifende Konzepte bedient, die sinnlicher, impliziter und nachvollziehbarer sein mögen als beim Regietheater. Ohne sie aber bliebe es bei flächiger Unverbindlichkeit bar aller Dramatik.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Aus meiner Sicht: J ... ein, lieber Farinelli,


    denn fraglos sind die Arbeiten des Regisseurs eminent wichtig. Allerdings darf es m.M. nicht so weit gehen, wie heute meist praktiziert, dass die Sänger zu willfährigen Marionetten so mancher Egozentriker verkommen. Ausserdem bedingt dieses System, dass außer einem mitstudierten Cover niemand anderer diese Rolle übernehmen kann, was zu einer sängerischen Verarmung auf den Opernbühnen führt.


    An deinem Tebaldi-Beispiel erkennt man, dass sie tatsächlich sehr konventionell agierte. Jedoch darf man nicht ignorieren, dass der sängerische Ausdruck, den sicherlich niemand der Tebaldi absprechen wird, einen ganz wesentlicher Aspekt der Rollengestaltung ausmacht. Da ich ein Ohren-Mensch bin, "sehe" ich in den Farbschattierungen und der Ausdrucksfähigkeit kraft stimmlicher Möglichkeiten die große Stärke bedeutender Sänger.


    Wenn Isolde singt "Er sah mir in die Augen" - um nur ein Beispiel von vielen zu nennen -, kann es sein, dass mir die Tränen fließen, dann tritt alles andere (Körperhaltung, Handbewegung, Kopfstellung ...) in den Hintergrund; im geglücktesten Fall freilich führt die Darstellung der Sängerin auch mit Hilfe einer subtilen Regie alsdann zur unbeschreiblichen, ja unbeschreibbaren Erfüllung.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Wenn Isolde singt "Er sah mir in die Augen" - um nur ein Beispiel von vielen zu nennen -, kann es sein, dass mir die Tränen fließen,


    Volle Zustimmung! Aber wer hätte das so gesungen wie Kirsten Flagstad? Bei allen anderen, die ich bisher hörte, blieb ein unerfüllter Rest offener Wünsche an gerade diese Stelle ...

  • ABER: Ein Großteil des heutigen Publikums scheint sich dennoch nach dem alten Wertevorrat zu sehnen -
    denn ich kann keine große Begeisterung erkennen, wo - meist gegen den Willen der Zuschauer - diese Zeichensprache eingesetzt wird. Buhrufe sind - auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen - kein Ausdruck von Zustimmung oder Begeisterung...


    Lieber Alfred,


    da haben wir vielleicht aneinander vorbei diskutiert.


    Mit der Diskrepanz von Zeichen- und Wertevorrat wollte ich lediglich begründen, warum die heutige Generation diejenigen Inszenierungen, die Milletre in seiner Jugend für überragend und zeitlos hielt (und heute noch hält), anders bewerten könnte. Und ganz vorsichtig habe ich eine Vermutung geäußert, woran es liegen mag, wenn wir etwas für zeitlos halten.


    Das heißt: Ich habe lediglich gesagt, warum die Jungen nicht immer mögen, was die Alten mochten. Dies ist ja nicht neu ....


    Damit möchte ich aber nicht erklären wollen, was Du ansprichst: Dass einige heutige Regisseure sich eines Werte- und Zeichenvorrats bedienen, der großen Teilen des Publikums unzugänglich ist.


    Wenn überhaupt, dann würde ich eher eine Parallele zur atonalen Musik ziehen wollen - auch da sind (um 1910) große Teile des Publikums verständnislos geblieben, als Schönberg, Berg u. a. die tonalen Grenzen verließen. Ebenso wie heute große Teile des Publikums verständnislos bleiben, wenn sie eine gute Konwitschny-Inszenierung sehen. - Ich bin aber nicht sicher, wie stark und belastbar diese Parallele ist.

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