Die blaue Mazur ist eine jener Operetten, die Volker Klotz in seinem Standardwerk anhand von nur sechs Musiktiteln zu charakterisieren sucht, eine Vorgehensweise, wie ich sie auch in meinem Beitrag über dieses Buch im letzen Absatz beschrieben habe. Die Beschränkung auf sechs Titel folgt dabei der von Klotz entwickelten These einer Tanzdramaturgie, bei welcher dann nicht Personen die Hauptrolle spielen, sondern eben die Blaue Mazur. Die Blaue Mazur ist eine Mazurka, die erst dann zur Blauen Mazur wird, wenn sie in den ersten Morgenstunden, bei den ersten Strahlen des Sonnenaufgangs, erklingt und nur dann fordert der Pole die eine Frau auf, der sein Herz allein gehört.
Der polnische Graf Julian Olinski feiert in seinem Schloss prunkvoll die Hochzeit mit der Wiener Gräfin Blanka von Lossin. Noch bevor die Hochzeitgäste sich verabschiedet haben, macht sich Blanka heimlich davon, hat sie doch von des Grafen ausgelassenem Vorleben, vor allem mit der Tänzerin Gretl Aigner erfahren und auch davon, dass er dieses auch zukünftig nicht aufzugeben gedenkt.
Ein Hinweis in einem kleinen Medaillon von ihrer Mutter führt sie in die Villa des alten Freiherrn von Reiger, der einst vergeblich ihre Mutter umworben hatte. Hier findet sie Zuflucht im Kreise dessen ebenso verknöcherten Lebensabendgenossen, die sich rührend um die hilfesuchende Frau kümmern. Sie trifft dort ebenfalls auf Adolar, den draufgängerischen Freund ihres Mannes, der aber im Hause seines sittsamen Onkels das Doppelleben eines vergeistigten Bücherwurms mimt. Am Ende des zweiten Bildes wird Blanka in einer langen Traumsequenz deutlich, dass sie innerlich von ihrem Mann aber nicht loskommt.
Reiger gibt ein Fest zu Ehren von Blanka. Der Hochzeitsskandal des Grafen Olinski ist noch in aller Munde, allerdings wissen die Gäste nicht, dass Blanka damit in Zusammenhang steht. Julian Olinski, der inzwischen seinem bisherigen Lebenswandel abgeschworen hat, dringt ungebeten in das Fest ein, erobert Blanka endgültig und fordert sie am Ende auf zur Blauen Mazur. Adolar tut sich dagegen mit Julians Verflossener Gretl zusammen.
Die sechs Musiktitel, die Volker Klotz nun als Beispiel aufführt, sind drei Walzer und ein Walzerliedchen, die er gegen die eine Mazurka auf- oder ausspielt und eine Serenade. Der erste Walzer ist Bestandteil des ersten großen Finales, den Blanka anstimmt, nachdem sie vom Vorleben ihres Mannes erfahren hat und in den sie sich aus einem Anfall von Enttäuschung und Selbsttäuschung hineinsteigert, die ganze Hochzeitsgesellschaft mitreißt, dem Walzer aber selbst die Funktion des Paartanzes verweigert und an dessen Ende sie dann plötzlich verschwunden ist. Der zweite Walzer wird ausgelöst durch eine schwermütige slawische Serenade, von der Blanka und auch das Publikum nicht weiß, ob sie tatsächlich von Julian unten auf der Straße gesungen wird oder ob sie dies nur träumt. Jedenfalls singt Blanka als Antwort darauf diesen Walzer, der sie aus ihrer Melancholie zurück in Leben ruft und dann als Walzerkette, der auch das Walzermotiv des 1. Finales nochmals aufnimmt, fast das ganze ca. 13 minütige Finale II ausfüllt. Der dritte Walzer schließlich kommt nur instrumental daher, wenn am Ende eines 5 minütigen Duetts, in langweiligem Parlando-Stil gehalten, die beiden Partner, nachdem sie sich gegenseitig vorgemacht haben, dass jeder sein eigenes Glück finden werde, sich nichts mehr zu sagen haben und schweigend miteinander tanzen. Das Walzerliedchen hat Julian hingegen schon vor dem ersten Finale gesungen. In diesem Liedchen hat er, allerdings nicht so richtig ernst gemeint, Abschied von seinem bisherigen leichten Leben genommen. Die Wiedereroberung Blankas gelingt Julian schließlich dann aber mit Hilfe der Mazurka, indem er ihr klar macht, was geschieht, wenn der Pole die Mazurka tanzt und was es mit der Blauen Mazur auf sich hat.
Die Operette hat insgesamt 15 Musiktitel. Auffallend sind drei überaus lange Finale, das erste gar mit über 20 Minuten außerordentlich lang. Aber gerade dieses Finale ist es, das m. E. bei Volker Klotz zu kurz kommt. Er erwähnt nur diesen einen Walzer, lässt aber die Tatsache völlig unbeachtet, dass dort schon in einer Szene, in welcher die umliegenden Bauern das Hochzeitspaar begrüßen, erstmals eine Mazurka vorkommt: „Tanz mit uns du schöne Braut“. In dieser Sequenz entwickelt Lehár einen beachtlichen Volksopernstil, von dem ich mir noch mehr gewünscht hätte. Das ganze Finale ist meiner Meinung nach eine gelungen Mischung aus Oper, Volksoper, walzerseliger Operette, polnischem Kolorit und changiert ausgewogen zwischen gelungenen Parlando, Melodram und Melodik; für mich eines der interessantesten Lehár-Finale.
Geradezu als Gegenteil erweist sich das Finale des 2. Bildes. Es wird von jenem lang-weiligen Walzer dominiert, der zudem auch melodisch nicht besonders markant oder eingängig ist. Auf der hier vorgestellten CD wird übrigens die slawische Serenade nicht, wie von Volker Klotz erzählt, vor dem von ihr ausgelöstem Walzer, sondern erst nach dem Walzer, als Blanka schon eingeschlummert ist, gesungen, und ist bereits eine Reminiszenz aus dem Finale I, denn auf der CD erklingt er dort erstmals ganz am Ende des Finales, als Julian von seiner Frau und allen Hochzeitsgästen schon verlassen war. Ich empfinde dieses Finale II als eines der schwächsten, das ich von Lehár kenne. Überhaupt ist dieses zweite Bild (konzipiert als Zwischenspiel zwischen insgesamt zwei Akten) musikalisch dürftig ausgestattet. Es gibt neben dem Finale nur noch zwei weitere Nummern, ein Terzett der drei alten Herren, in welchem diese melancholisch den verrauschten Jugendzeiten nachtrauern und ein Quintett der drei Herren mit Adolar und Blanka, in dem die Anwesenheit eine Weibes in diesem sittsamen Haus bejubelt wird. Letzteres ist ein netter Versuch, an alte Traditionen der Spieloper anzuknöpfen, auch noch in Form eines Madrigals, aber es erweist sich, dass Humor oft nicht Lehárs Stärke war.
Unter den 15 Titeln finden sich auch vier Buffonummern. Ich habe mich immer schon gewundert, warum Lehár auch bei seinen ambitioniertesten Werken auf zumeist läppische Bufffo-Nummern nicht glaubte verzichten zu können, wo doch seine „Lustige Witwe“ noch ganz gut ohne solches Beiwerk auskommt. Der Auftritt der Tänzerin Gretl im 3. Akt „Wenn ich die Bühne betrete“ hätte eigentlich vom Ansatz her das Zeug für eine großartig lustige Nummer, doch diese gleitet dann wieder in Melancholie ab. Humor ist nicht erwünscht auf der fast verzweifelten Suche der Protagonisten nach dem Glück.
Die Nummer, die alles rausreißt und der Operette den so oft vermissten Schwung zurückgibt, ist natürlich „Tanzt der Pole die Mazur“. Hier gibt Lehár sein Bestes an Einfühlungsvermögen in die polnische Mentalität, und es ist kein melodisch einschmeichelnder Lehár, wie man ihn kennt, sondern ein betont rhythmischer, mit folkloristischer Kraft und mit Ecken und Kanten, und das ist es, was diese Nummer doppelt interessant macht. Es versteht sich von selbst, dass diese Mazurka, die zunächst als vorletzte Nummer in Form eines Tanzduettes erstmals auftritt, im wieder ungewöhnlich ausladenden letzten Finale nochmals auftrumpft und den Schlusspunkt setzt, diesmal als Blaue Mazur.
Uwe