Beethoven, Klaviersonate Nr. 11 B-dur op. 22, CD-Rezensionen und Vergleiche (2016)

  • »›Diese Sonate hat sich gewaschen, geliebtester Hr. Bruder‹, schrieb Beethoven am 15. Januar 1801, als er das Werk seinem Leipziger Verleger Hoffmeister anbot. Es ist ein Werk ohne große musikalische Probleme, wohl aber voller pianistischer Glut, weit ausgesponnener Modulationen und markanter Thematik, in dem Beethoven sich nochmals als Erbe der Wiener Klassiker Haydn und Mozart legitimiert« heißt es im Beiheft von Paul Komen.

  • Schönen Dank für die Ergänzungen, lieber Dieter, aber Paul Komen habe ich gar nicht in meiner Sammlung, ebenso wenig wie Ronald Brautigam. Ich habe von der Anschaffung von Beethoven-Sonaten auf derlei historischen Instzrumenten abgesehen, als ich Ronald Brautigam in meinem Klavier-ABO im Jnuar 2015 auf einem schwachbrüstigen historischen Instrument hörte mit der Pathétique, der Waldstein-Sonate und der Sonate Nr. 32, und vier Tage später hörte ich hier in Coesfeld Boris Giltburg mit dem gleichen Programm auf einem modernen Bechstein-Flügel. Das war doch klanglich ein Unterschied wie Tag und Nacht. Gerade die Sonaten 8, 21 und 32 sind doch absoluten pinanistische Schwergewichte, und es ist kein Wunder, dass Beethoven mit dem Klang und auch dem Volumen der Klaviere seiner Zeit nie zufrieden war. Man stelle sich nur mal die ff-Eruptionen in der Grave-Einleitung der Pathétique vor. Der arme Ronald Brautigam hat sich ja fast die Arme lahm gespielt, weil die Fortissimi, die er erzeugen konnte, viel zu schmal waren für die riesige Kuppel der Kölner Philharmonie.
    Ich habe Brautigam allerdings auch schon auf einem Steinway spielen hören. Vielleicht nimmt er ja die Beethoven-Sonaten noch einmal auf mit einem größeren Flügel.


    Liebe Grüße


    Willi :)


    P. S. : Ich hatte dein zweites Posting noch nicht gelesen. Die Geschichte mit Hoffmeister kannte ich schon, aber was in Paul Komens Beiheft stand, natürlich nicht.

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Der arme Ronald Brautigam hat sich ja fast die Arme lahm gespielt, weil die Fortissimi, die er erzeugen konnte, viel zu schmal waren für die riesige Kuppel der Kölner Philharmonie.

    Man könnte es auch anders herum sehen: Das Instrument passt schon, aber der Saal ist viel zu groß.

  • Nach langer Zeit habe ich mir wieder die Gilels-Aufnahme zu Gemüte geführt. Diesen Ausdruck kann ich nur unterstreichen. Dieses Gilels-Zeugnis ist schlicht ein Wunder. Diese vorgeblich so spielerisch leichte Sonate geht durch Gilels zum Gemüt, wird zu einem wirklich großen Erlebnis, einer der ganz großen Sonaten Beethovens geadelt. Das allergrößte Wunder ist der langsame Satz. Gilels verleiht ihm eine pathetische Getragenheit, die aber nie schwerfällig wird, weil sie sich mit einer unglaublichen Feinheit und Feinfühligkeit verbindet. Dabei gelingt es ihm, auch in diesem langsamen Tempo Musik zu einem bruchlosen organischen Ganzen werden zu lassen, wie aus einem Guss. Dies geschieht, wenn man nur aufmerksam hinhört, durch eine äußerst komplexe und einfühlsame Dynamik des Anschwellens und Abschwellens, welche ein Kontinumm, eine "unendliche Melodie", entstehen läßt. Gilels realisiert wahrhaftig das "molto espressione", eine Gesanglichkeit, welche das gesamte Stimmengefüge ergreift, volltönend wie der Klang einer Orgel. Da gibt es unendlich viele Töne, Schattierungen, eine beseelte Empfindsamkeit, die zum Ereignis von erhabener Schönheit wird. Bei Gilels läutert sich das Weltlich-Spielerische dieser Sonate zur intimen Zwiesprache der Seele mit sich selbst. Damit ereignet sich etwas wahrlich Erhabenes. Beethovens Musik erlangt - mit Friedrich Schiller gesprochen - "Anmut und Würde". Das ist so zart, so schön, zugleich so klar, so pathetisch gewichtig gespielt, eine "unmögliche" Synthese eigentlich, die wahr wird. Diese Aufnahme ist ein ganz großes Ereignis, ein einsamer Gipfel der Kunst des Klavierspiels und der Interpretation, der Verwandlung des "Vortrags" von Musik in ein seelisches Geschehen. Wenn Gilels geendet hat, ist man eigentlich nur noch betroffen und glücklich, dass man solche musikalisch-geistigen Höhenflüge wahrlich (mit-)erleben durfte.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Zitat

    Dieter Stockert: Man könnte es auch anders herum sehen: Das Instrument passt schon, aber der Saal ist viel zu groß.


    Völlig richtig, lieber Dieter. Aber die Philharmonie fasst nun mal ca. 2000 Zuhörer, und Brautigam wusste das. Dann wählt er noch ein Programm mit drei hochdynaamischen Stücken, op. 13, op. 53 und op. 111. Der herzliche Schlussbeifall war denn auch seinen unendlichen Mühen geschuldet, nicht dem klanglichen Ergebnis.


    Ich komme nochmal zurück auf das Konzert vier Tage später, das bei uns in Coesfeld stattfand, vor 650 Zuhörern, in einem Saal mit optimaler Akustik, in dem Boris Giltburg das gleiche Programm spielte. Das war nicht etwa überpowert, sondern das passte genau, weil die Stücke m. E. so ein Instrument erfordern, wie ich schon sagte, dass nämlich auch Beethoven selbst mit dem klanglichen Ergebnis der ihm zur Verfügung stehenden Instrumente alles andere als zufrieden war.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Holger,


    ich habe nach der Lektüre deines Berichtes erst mal einen Augenblick innegehalten und dann nochmal meine Bericht durchgelesen, und ich muss sagen, dass wir nicht immer so exakt in unseren Eindrücken übereingestimmt haben wie hier und dass auch m. E. solche Interpretationen wie diese wirklich ein "Wunder" sind. Ich habe auch, so glaube ich, in keiner bisherigen Rezension der Gilelsschen Beethoven-Interpretationen die Worte "wunderbar" oder "Wunder" so oft gebraucht wie hier. Gerade der Kernpunkt, den ich genauso empfunden habe wie du, ist es, der eine langsame, spannungsvolle Interpretation von einer langsamen, langweiligen unterscheidet. Und das ist eben bei Emil Gilels der unglaubliche Umgang mit dem dynamischen Gehalt dieses Satzes. Ich habe, wenn ich richtig gezählt habe, alleine 19 Crescendi und 14 Decrescendi im Adagio gezählt, und erst, wenn man den überlegenen Geist eines Emil Gilels besitzt, kann daraus ein Wunder werden oder wird es eins wie hier. Es ist wenig hilfreich, hier mit der Mathematik an die Sache heranzugehen und die Stoppuhr herauszuholen.
    Und letztlich sehe ich es auch nicht als hilfreich an, dass Satzzeiten zum Vergleich herangezogen werden und eine Zeit von unter 5 1/2 Minuten für diesen Satz als zutreffender angesehen wird als eine doppelt so lange Zeit. Ich möchte zur nochmaligen Untermalung meiner Ansicht das Zitat aus Joachim Kaisers Werk anführen:

    Zitat

    Joachim Kaiser, S. 210: Das Problem des Adagios heißt: Lebensvolle Reproduktion eines anfänglich nicht sehr charakteristischen "Materials". Wählt der Interpret ein so rasches Tempo wie Friedrich Gulda - der statt des vorgeschriebenen 9/8-Taktes eher 3/4- Takt spielt und die Begleitakkorde zu Triolen macht, dann braucht ein solches Tempo, eine solche Auffassung, nicht einmal unbedingt zu schnell zu sein. Sie macht es nur später unmöglich, den Charakter des Hallenden und Mystisch-Tönenden , Nach-Tönenden noch herzustellen. Weil Gulda die Begleitachtel als Triolen versteht und konsequenterweise die jeweils erste Triole noch akzentuiert, bringt er eine allzu scharfe rhythmische Gliederung ins Spiel und löscht jedes Geheimnis aus.



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Paavali Jumppanen, Klavier
    AD: Juni 2010
    Spielzeiten: 6:54-7:44-3:05-6:02 -- 23:35 min.;


    Paavali Jumppanen ist im Kopfsatz geringfügig schneller als Gulda, etwa im Tempo Richard Goodes und natürlich schneller als Emil Gilels. Auch sein Spiel ist im Kopfsatz leichtfüßig und dynamisch wohl auch als moderat zu bezeichnen. Im lyrischen Schlussabschnitt der Überleitung, zum Seitenthema hin, crescendiert er jedoch ordentlich, aber gleichfalls organisch.
    Auch im Seitenthema selbst spielt er dynamisch kraftvoll und glockenschlagartig und spielt auch den zweiten Teil als Echo. Im dritten Teil mit den Oktavwechseln bleibt er auf einem relativ hohen dynamischen Niveau, ohne allerdings in der Schlusssteigerung das Fortissimo einiger Anderer zu erreichen. In der Schlussgruppe gelingt ihm das in Takt 62 und 67/68 doch.
    Er spielt die Exposition natürlich noch einmal.
    Die Durchführung spielt er ebenfalls dynamisch mit Kraft, doch in der Konfrontierung nicht mit Fortissimoschlägen, wie ich es schon verschiedentlich gehört habe.
    Im Ganzen lässt er es in der Durchführung, trotz des latent dramatischen Untertones, weiterhin spielerisch leicht fließen und fährt vom austrag Takt 93 an kontinuierlich dynamisch zurück und offenbart dabei ein alertes, leichtfüßiges Spiel, dass auch im abschließende Crescendo moderat und leicht bleibt und sanft in der pp-Fermate ausläuft.
    Auch in der Reprise behält er dieses Spiel bei, immer Staccato und Legato in schönem Wechsel ausführend. Hier klingt der lyrische Teil der Überleitung in der höheren Oktave wunderbar leicht und silbrig.
    Das Seitenthema hat wieder herrlich Glockenschläge und auch in der Echosequenz regt sich dynamische Bewegung. Wiederum sehr schwungvoll ist die Sequenz mit den Oktavwechseln , wobei er sich dem Fortissimo in Takt 185 aber wieder nur nähert.
    Ein sehr lebhaft und virtuos gespielter Kopfsatz, der hier Beethoven pur bietet.


    Im Adagio gehört er zu den Schnelleren, ist aber, wie ich finden noch im tolerablen Bereich, zumal seine Lesart mit den sanften dynamischen Wellenbewegungen in keiner Weise hastig klingt. Auch der Ausdruck ist m. E. viel tiefer als der Guldas.
    Die themenerweiternde Überleitung nach dem Doppelstrich Takt 13 mit Auftakt spielt er ebenso wie das sich anschließende Seitenthema sehr anrührend und klanglich in großer Reinheit.
    Die sich anschließende Schlussgruppe hält dieses Niveau mindestens. Da ist ihm bis hierhin schon ein ganz großer Wurf gelungen.
    Dieser große Wurf gelingt ihm m. E. auch in der Durchführung, die er bis Takt 38 wunderbar steigert und dann subito ins Piano zurückgeht, und von hier ab (Takt 39), verringert er die dynamische Amplitude, um damit zur Reprise hin, die musikalische Tiefe noch zu vergrößern. Atemberaubend sind vor allem die beiden letzten Takte 45 und 46.
    In der Reprise überzeugt er weiterhin durch dynamisch variables Spiel, wobei mir zunehmend sein Ausdruck in den dynamisch tieferen Regionen über die Maßen gefällt und mich dies auch sehr berührt. Grandios ist auch das Decrescendo ab Takt 61 mit den neuerlichen Seufzern, die durch das Sforzando in Takt 63 auf der Eins nicht zerschlagen, sondern miteinander verbunden werden. Es steigert sich noch weiter. Das Seitenthema in der hohen Oktave ab Takt 65 und die anschließende Schlussgruppe spielt er unglaublich intensiv, und dass auf vergleichsweise niedrigem dynamischen Niveau.
    Dieses Adagio ist sicherlich das Beste, was ich bisher von Paavali Jumpanen gehört habe.


    Das Minuetto spielt Jumpanen in klarem, reinen Ton und dynamisch, wie gehabt, moderat, zumindest im ersten Teil. Im zweiten Teil steigert er schnell, hält aber trotzdem vor Erreichen des Fortissimo inne und führt den Bogen zurück zur Themenwiederholung (Takt 17). Diese zweifache Steigerung in Takt 9 mit Auftakt bis Takt 16 ist schon temporal, rhythmisch und dynamisch etwas ganz Besonderes, an das ich mich in dieser Form nicht erinnern kann.
    Das Minore spielt er kraftvoll mit großem Vorwärtsdrang und gleichzeitig fließend mit inneren dynamischen Bögen, im zweiten Teil (Takt 39 mit Auftakt), spielt er dynamisch etwas verhaltener. Im Ganzen ist seine Anlage dieses Satzes m. E. sehr überzeugend. Natürlich schließt er das großartige Minuetto Da Capo an.


    Im Rondo Allegretto bleibt er seiner Linie des klaren, diesseitigen Ausdrucks unter Ausschluss hemmungsloser dynamischer Höhen treu. Temporal ist er ca. 1 1/4 Minuten langsamer als Gulda und immer noch 20 Sekunden langsamer als Goode.
    1 1/4 Minuten können manchmal den Unterschied zwischen einer zu schnellen (Non-Allegretto) und einer temporal genau richtigen (Allegretto)-Interpretation bedeuten. Das ist hier der Fall.
    Auch dynamisch ist Jumppanen wieder sehr bedachtsam. So erreicht er tatsächlich das Forte in Takt 15, geht aber sofort subito piano in Takt 16 zurück. Auch hier ist die spielerische Wellenbewegung nicht nur temporal, sondern auch dynamisch gegeben. Auch das Seitenthema ab Takt 22 fließt wunderbar in das musikalische Geschehen ein, zunächst in den Arpeggien, dann in den Oktaven und mündet in die herrlichen Zweiunddreißigstel-Girlanden der Schlussgruppe.
    Nach der wunderbaren Themenwiederholung mit der Oktavenverlagerung ab Takt 50 bis 55 spielt Jumppanen einen vordergründig kräftigen Einstieg in die Mollwelt der Durchführung, die aber rasch ihre Vordergründigkeit offenbart, ab Takt 72 mit einsetzen der luftigen Zweiunddreißigstel-Sequenz. Und in Takt 81 mit Einsetzen des Durchführungskerns herrscht weiter klassisch-barocke Strenge mit dem kurzen Fugato, dass aber seine wahre rhythmische Leichtigkeit kaum verbergen kann, zumal bald wieder die leichtfüßige Zweiunddreißigstel-Sequenz einsetzt.
    Nach dieser zweiten Sequenz deutet sich ab Takt 103 im Übergang vollends Entspannung und Licht an.
    Im letzten Takt vor der Reprise, Takt 11, greift Jumppanen zu einem Kniff: er spielt diesen Zweiunddreißigstel-Takt mit einem leichten Ritartando- das ist großartig. und ein perfekter Einstieg für die beseligenden Reprise, die ihm so leicht von der Hand geht, auch in den kurzen Oktavwechseln ab Takt 121.
    Auch das Seitenthema mit den faszinierenden Arpeggien spielt er wieder so natürlich, als wenn es das Einfachste auf der Welt wäre.
    Auch die Schlussgruppe gefällt mir ausnehmend, zumal er jeweils die Tiefbass-Achtel (ab Takt 145 dynamisch etwas anhebt, was ihr wieder einen Glockenschlag-Effekt verleiht. Wunderbar auch am Ende der Schlussgruppe die hohe Oktave , in der er so herrlich zwischen pp und p changiert und noch einmal das Thema anhebt, diesmal von Sechzehnteltriolen ausgeführt, und als Steigerung noch ab Takt 173 von Sechzehntelduolen. Hier spielt Beethoven auf höchstem Niveau, und Jumppanen gibt das m. E. adäquat wieder. Und dann- endlich- ab Takt 182 eine Coda von herrlicher Spielfreude, und endlich ein Fortissimo in Takt 193 und in Takt 197(198!


    Eine grandiose Aufnahme!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Holger,


    ich habe nach der Lektüre deines Berichtes erst mal einen Augenblick innegehalten und dann nochmal meine Bericht durchgelesen, und ich muss sagen, dass wir nicht immer so exakt in unseren Eindrücken übereingestimmt haben wie hier und dass auch m. E. solche Interpretationen wie diese wirklich ein "Wunder" sind. Ich habe auch, so glaube ich, in keiner bisherigen Rezension der Gilelsschen Beethoven-Interpretationen die Worte "wunderbar" oder "Wunder" so oft gebraucht wie hier. Gerade der Kernpunkt, den ich genauso empfunden habe wie du, ist es, der eine langsame, spannungsvolle Interpretation von einer langsamen, langweiligen unterscheidet. Und das ist eben bei Emil Gilels der unglaubliche Umgang mit dem dynamischen Gehalt dieses Satzes. Ich habe, wenn ich richtig gezählt habe, alleine 19 Crescendi und 14 Decrescendi im Adagio gezählt, und erst, wenn man den überlegenen Geist eines Emil Gilels besitzt, kann daraus ein Wunder werden oder wird es eins wie hier. Es ist wenig hilfreich, hier mit der Mathematik an die Sache heranzugehen und die Stoppuhr herauszuholen.
    Und letztlich sehe ich es auch nicht als hilfreich an, dass Satzzeiten zum Vergleich herangezogen werden und eine Zeit von unter 5 1/2 Minuten für diesen Satz als zutreffender angesehen wird als eine doppelt so lange Zeit. Ich möchte zur nochmaligen Untermalung meiner Ansicht das Zitat aus Joachim Kaisers Werk anführen:

    Lieber Willi,


    das ist doch beglückend, dass wir das Verbindende der Musik so erfahren. Bei Gilels wid aus russischem Expressivo wirklich eine vollkommene Vergeistigung und Beseelung, jenseits alles Bloß-Rhetorischen. Den Kaiser muß ich auch endlich lesen. Genau das meinte ich mit dem "Verjazzen". Bei op. 7 ist das Problem ja ähnlich - auch da wird in seinem (und Schnabels) überschnellem Tempo aus 6/8 ein 3/4-Takt. Bei Gulda wird der Beethoven - jedenfalls hier - schon sehr "positivistisch" (wie die Stop-Uhr :D ) : alles ist was es ist, nichts soll etwas bedeuten. Aber so etwas vergißt man bei Gilels. Durch ihn liebt man diese Sonate wirklich - sie wird zum Ausdruck von Schönheit schlechthin. Was für eine himmlisch-anmutige Melodie dieses Scherzo doch hat nach diesem tief bewegenden langsamen Satz!


    Lumpanen kenne ich gar nicht - Finne nehme ich an. Vielleicht - als Anregung - solltest Du solche unbekannteren Pianisten etwas vorstellen? :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Gegen "mystisches Hallen" ist natürlich mit rationalen (oder auch musikalischen) Argumenten nicht anzugehen. Das wird dann "positivistische Mathematik".
    Nochmal, es geht weniger um ein bestimmtes absolutes Tempo. Sondern darum, dass ein 9/8-Satz, zumal mit melodischen Gestalten wie im vorliegenden Fall, normalerweise so gespielt werden sollte, dass man noch ein Gespür für die punktierten Viertel hat. Das deckt sicher einen breiten Tempobereich ab, sagen wir von ca. 30 bis ca. 50 (oder noch schneller, aber das steht bei diesem Satz wohl kaum zur Debatte) für punktierte Viertel. Aber bei 21-22 für punktierte Viertel kann die kein Mensch mehr als übergeordnete "Schläge" wahrnehmen. Das ist doch keine Erbsenzählerei.
    Kaiser liegt hier einfach falsch, dass das "3/4 statt 9/8" ein "Argument" gegen Guldas Lesart wäre. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Was sollte denn sonst überhaupt der musikalische Sinn von "kombinierten" Taktarten wie 9/8 sein? (Man kann Gulda dennoch zu nüchtern oder unflexibel finden, aber das hat mit dem Tempo nicht so viel zu tun.)


    Woher die Idee kommt, dass das ein besonders "tiefer" Satz sein soll, ist mir auch schleierhaft. Das wird doch nicht tiefer, wenn man es im halben Tempo spielt...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Gegen "mystisches Hallen" ist natürlich mit rationalen (oder auch musikalischen) Argumenten nicht anzugehen. Das wird dann "positivistische Mathematik".

    Folgt man der musikalischen Ausdrucksästhetik (von Hegel bis hin zu Wagner), dann erschöpft sich Musik nicht darin, in etwas "Escheinendem" unmittelbar und erschöpfend präsent zu sein, sondern transzendiert dieses, was Hegel "Innerlichkeit" und Wagner mit Schopenhauer "Wille" nennt. Wenn das irrationale Mystik sein soll, dann ist Musik damit zum ausdruckslosen Formalismus verdammt.


    Kaiser liegt hier einfach falsch, dass das "3/4 statt 9/8" ein "Argument" gegen Guldas Lesart wäre. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Was sollte denn sonst überhaupt der musikalische Sinn von "kombinierten" Taktarten wie 9/8 sein? (Man kann Gulda dennoch zu nüchtern oder unflexibel finden, aber das hat mit dem Tempo nicht so viel zu tun.)

    Bezeichnend, dass Du genau das nicht verstehst. :D Ich hatte den Hinweis auf Forkel gegeben. Für die musikalische Rhetorik ist das bloß Rhythmische eigentlich sinnleer, nur ein bloßer Ordnungsfaktor. Die sinngebende Sprachanalogie von Musik stellt sich erst mit der Transzendierung des Rhythmischen durch das Melodische her. Gulda - und das hat Joachim Kaiser wirklich gut gesehen - verhindert genau das, indem er den unbestimmten, vagen 9/8-Rhythmus in einen bestimmten und eindeutigen 3/4-Rhythmus umwandelt. Die Unbestimmtheit des 9/8-Rhythmus ist es hier nämlich gerade, welche die Konzentration des Hörens weg vom Nur-Rhythmischen auf das Melodische leistet. Dadurch wird der ganze Vortrag dann unrhetorisch und das molto espressione, das nun mal von Beethoven vorgeschrieben ist, ist nicht mehr zu realisieren.


    Woher die Idee kommt, dass das ein besonders "tiefer" Satz sein soll, ist mir auch schleierhaft. Das wird doch nicht tiefer, wenn man es im halben Tempo spielt...

    Ich glaube, Du bist in diesem Fall einfach ein Opfer Deiner musikalischen Erwartungshaltung. :D Du läßt Dich halt auf das Zeitempfinden von Gilels nicht ein. Für Willi und mich beweist letztlich Gilels durch seine Interpretation, dass diese Musik wirkliche Tiefe hat. Auch das hat Kaiser gut gesehen: Dieses "dürftige" Material muß der Interpret beseelen, sondern wird keine irgendwie Bedeutung habende Musik daraus. Wenn man darauf reduktionistisch verzichtet wie Gulda, klar, dann verschwindet solche Tiefe. Und es ist auch nicht das langsame Tempo an sich, was die überragende Ausdrucksqualität von Gilels ausmacht. Der Sinn von Zeit und Zeitgefühl ändert sich. Metronomische Zeit ist und bleibt mit Henri Bergson "objektive", gemessene Zeit - temps. Das ist aber gerade nicht die dynamische Erlebniszeit (bezeichend für Gilels sind ja die unerhört subtilen Dynamisierungen, auf die Willi in seiner Analyse zu Recht so abgehoben hat) - duree - wo man, wie Bergson so schön sagt, auf das Schmelzen des Zuckers warten muss. ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Lumpanen kenne ich gar nicht - Finne nehme ich an. Vielleicht - als Anregung - solltest Du solche unbekannteren Pianisten etwas vorstellen? :hello:


    Der Gute heißt Jumppanen, lieber Holger, und etwas über ihn lesen kannst du hier:


    Beethoven: Klaviersonate Nr. 1 f-moll op. 2 Nr. 1, CD-Rezensionen und Vergleiche (2014)


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Wilhelm Kempff, klavier
    AD: 1964-65
    Spielzeiten: 7:21-7:04-3:01-6:15 -- 23:41 min.;


    Wilhelm Kempff ist im Kopfsatz temporal ganz normal unterwegs, etwa im Tempo von Arrau und ABM, also etwas langsamer als Badura-Skoda und Buchbinder.
    Dynamisch spür er wie immer sehr sorgfältig den Bewegungen der Partitur nach, wobei er in den Spitzen durchaus kräftiger agiert als mancher seiner Kollegen, aber alles sehr fließend und rhythmisch sehr leicht. Am Ende der atemberaubenden lyrischen Sequenz der Überleitung, zum Seitenthema hin, macht sich wieder sein kraftvoller dynamische Zugriff bemerkbar, beispielhaft in der gleichmäßigen Steigerung.
    Im Seitenthema gestaltet er den ersten Teil mit sehr schönen Abschattierungen nach den jeweiligen Sforzandi, und im zweiten Teil mit den verkürzten Notenwerten rhythmisch fein akzentuiert. Auch im dritten Teil mit den Sechzehntel-Oktavwechseln bleibt er rhythmisch-dynamisch sehr kontrastreich.
    Die Schlussgruppe gehört mit ihrem dynamischen Kontrast mit zum Überzeugendsten, was ich bisher gehört habe. Das reicht durchaus vom pp/ppp bis zum kraftvollen Fortissimo, eine bis dahin glänzende Vorstellung. Natürlich wiederholt er die Exposition.
    Im natürlich fließenden und sich in diesem Fluss organische ergebendem Kontrastreichturm kommt einmal mehr Wilhelm Kempffs überragende Musikalität zum Tragen, und in der Wiederholung ist nochmals im dritten Teil des Seitenthemas seine zupackende dynamische Art zu loben.
    Die Durchführung beginnt er im Pianissimo und vergrößert somit den dynamischen Kontrast innerhalbe von drei Takten (Takt 69 mit Auftakt bis Takt 71) ganz enorm. In der Konfrontierung gleichen seien ff-Akkorde wieder mehr veritablen Glockenschlägen, während sie bei den vorher gehörten Beispielen manchmal weniger Dynamik aufwiesen. Von daher ist bei ihm auch die dynamische Fallhöhe bis hin zum vierten Abschnitt der Durchführung, dem Frieden, größer als bei einigen seiner Kollegen.
    Auch in diesem Abschnitt ist trotz der niedrigen dynamischen Anfangsschwelle noch genügend dynamische Bewegung vorhanden, weil er eben auch ein Meister der leisen Töne ist. Von daher ist auch sein Schlusscrescendo zur Reprise mit der abschließenden pp-Fermate atemberaubend gespielt.
    In den Oktavenwechsel des Themenbeginns Takt 138 bis 141 entwickelt er einen ungeheuren rhythmisch-dynamischen Drive, den er im anschließenden langen Legatobogen Takt 142 ff. sanft auslaufen lässt, und die anschließende lyrische Übeleitun zum Seitenthema hin spielt er wieder sehr anrührend, das Seitenthema mit seinen dynamischen Wellenbewegungen und einem unglaublichen Decrescendo in der Mitte zwischen dem ersten und zweiten Teil (Takt 166/167). Auch der dritte Teil ist wieder überragend gespielt samt der nachfolgenden wundersamen Schlussgruppe, die anstelle der fehlenden Coda steht.
    Eine grandiose Vorstellung des Kopfsatzes!


    Auch Wilhelm Kempff spielt m. E. das Adagio objektiv sehr rasch, aber er spielt es auf eine abgeklärte Weise gleichmäßig fließend, bei der ich nicht auf die Idee komme wie bei Brendel, dass das zu rasch ist oder gar bei Gulda, denn ich sehe keine Veranlassung, dass man das auch in "3/4" denken könnte. Das wäre auch mathematisch gar nicht machbar, denn wenn man den Nenner auf Viertel setzen würde, müsste man auch den Zähler halbieren, und dann hätte man einen Bruch, den es gar nicht gibt: 4,5/4, und Gulda spielt dann die Begleitachtel, wie Joachim Kaiser sagt, als "Triolen" und führt weiter aus: "dann braucht ein solches Tempo, eine solche "Auffassung", nicht einmal unbedingt zu schnell zu sein. Sie macht es nur später unmöglich, den Charakter des Hallenden und Mystisch-Tönenden, Nach-Tönenden, noch herzustellen. weil Gulda die Begleitachtel als Triolen versteht und konsequenterweise die jeweils erste Triole auch akzentuiert, bringt er eine allzu scharfe rhythmische Gliederung ins Spiel und löscht jedes Geheimnis aus."
    In seinem zwar objektiv raschen Tempo, aber seiner unnachahmlichen Art, das Adagio wunderbar auszusingen, spielt Kempff eine unglaublich Überleitung mit anrührenden Seufzern in Takt 16 und 17, und im Seitenthema bringt er noch eine ausdrucksmäßige Steigerung. Das ist schon fast überirdisch.
    Wenn es einem überhaupt rasch vorkäme, dann vielleicht in den Zweiunddreißigsteln ab Takt 24, aber wiederum auch nicht, weil auch diese Passage den gleichen Atem hat wie die bisherigen Abschnitte.
    Auch die Durchführung strahlt trotz der Molleintrübung die gleiche Ruhe aus wie die Exposition und verändert auch deswegen den Charakter des Satzes nicht. Dynamisch arbeitet Wilhelm Kempff auch hier wie immer exakt und spürt den Wellenbewegungen ab Takt 39 aufmerksam nach, in einem ruhigen Fluss bleibend.
    Auch in der Reprise atmet die Musik unter Kempffs Händen in der richtigen ruhigen Weise, und dadurch erreicht er , z. B. in dem Abschnitt ab Takt 57 eine große musikalische Tiefe. Durch ein moderates Ritartando in Takt 60 erhöht er noch die Spannung dieses Abschnitts und erreicht im Seufzer-Decrescendo ab Takt 61 m. E. eine atemberaubende Wirkung.
    Im Seitenthema, diesmal in der noch höheren Oktave, ist m. E. vollends eine überirdische Sphäre erreicht.
    In der auch hier statt einer Coda angeschlossenen Schlussgruppe hält er dieses unglaubliche Ausdrucksniveau mühelos.
    Ein Satz, in dem er das objektiv schnelle Tempo durch einen unglaublichen Ausdruck nicht nur ausgleicht sondern di tempofrage vergessen macht.


    Auch im Minuetto ist er nicht gerade langsam, aber hier stellt sich die Frage auch nicht. Der sangliche Charakter des Minuetto kommt dem großen Lyriker Wilhelm Kempff auch geradezu entgegen. Gleichsam schöpft er aber auch die dynamischen Ressourcen der Partitur aus und gelangt folgerichtig in Takt 10 zum Fortissimo, aber organisch.
    Auch das Minore spielt er zwar marcato, aber auch im Gesamtkontext des Satzes unverändert fließend, zwar moll gefärbt ,aber durchaus positiv gefärbt. Er schließt natürlich das Minuetto Da Capo an.


    Im Finale ist Wilhelm Kempff etwas langsamer als ABM, Buchbinder und Heidsieck, aber etwas rascher als Arrau. Von Beginn an ist es beseligender Gesang, in den er ganz natürlich die wellenförmigen dynamischen Bewegungen engfließen lässt und ihre Ausschläge voll ausnutzt, desgleichen die rhythmischen Feinheiten. Das Seitenthema mit seinen Arpeggien und die Schlussgruppe mit ihren fließenden Zweiunddreißigstelfiguren spielt er ebenfalls herausragend. Auch die Überleitung und die Themenwiederholung ab Takt 40 sin vom Feinsten. Vor allem ist auch das Finale unverbrüchlich im Kontext der ganzen Sonate zu sehen, über die er einen großen, spannend entspannten Bogen spannt. Er kommt sicherlich dem Ideal dieser "Spielsonate" sehr nahe, in dem sich die musikalische Tiefe ganz aus sich selbst heraus ergibt.
    Das ist auch in der Durchführung zu vermelden, in der sich zwar zu Beginn ein Moll-Überzug darstellt, der aber durch geschickte dynamische Bewegungen und durch die Zweiunddreißigstel-Beschleunigung ab Takt 72 schon wieder in Wohlgefallen auflöst. Das habe ich auch schon dramatischer gehört, aber so, wie Kempff es spielt, gefällt es mir eben auch außerordentlich.
    Auch im Durchführungskern erreicht Wilhelm Kempff durch seinen glockigen Wohlklang eine Entschärfung des Mollcharakters und in der nachfolgenden Zweiunddreißigstelsequenz stellt sich wieder etüdenhafte Bewegung ein, kein dramatischer Impetus, was ja auch sonst eine zu große Fallhöhe des Stimmungscharakters bedeuten würde. Und ab Takt 103, in der Überleitung ist der Wohlklang schon wieder erreicht, und seiner Linie treu bleibend, spielt Kempff die Reprise in wunderbar beseligender Weise. Vor allem dir rhythmischen Oktavwechsel ab Takt 121 gehen ihm auf eine Art leicht von der Hand, wie man sie nicht oft hört. Dieser Satz und in ihm diese Reprise sind wieder ein Beweis für Wilhelm Kempffs hohe lyrische Kompetenz. Er ist m. E. kein Philosoph am Klavier, sonder ein Sänger, der geradeaus und klar singt und damit ganz absichtslos große musikalische Tiefen erreicht. Dazu muss man nicht unbedingt ein Supervirtuose sein.
    Er lässt auf anrührende Weise das hohe Seitenthema und die wunderbar glissandierende Schlussgruppe folgen, wobei besonders das Thema in der hohen Oktave besticht und er auch di absteigenden Sechzehntel als klangglichen Kleinodien setzt.
    Sehr schön stellt er auch den Unterscheid zum voraufgegangenen in den Sechzehnteltriolen ab Takt 164 mit Auftakt heraus, was in seiner Lesart ganz natürlich klingt. Wunderbar auch der große Bogen ab Takt 168, in dem sich die Sechzehntel ganz fließend in zweiunddreißigstel verwandeln, ganz, als ob das genauso sein müsste, Und es muss genauso sein. Auch die Sechzehntelduolen ab Takt 173 spielt er sehr ausdrucksvoll.
    Dem lässt er eine rhythmisch und dynamisch fein ziselierte Coda folgen, der einzigen in der ganzen Sonate, aber es ist ja auch noch früh genug dafür.


    Welch eine herausragende Interpretation!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Mari Kodama, Klavier
    AD: August 2012
    Spielzeiten: 7:19-6:57-3:16-6:22 -- 23:54 min.;


    Mari Kodama spielt den Kopfsatz etwas im Tempo von Wilhelm Kempff, also schneller als Gilels, auch noch etwas schneller als Arrau, aber z. B. wesentlich langsamer als Gulda. Dynamisch agiert sie ähnlich kraftvoll wie Wilhelm Kempff, und der Klang dieser Aufnahme (DSD9 ist einfach über jeden Zweifel erhaben. Auch rhythmisch ist sie sehr feinfühlig, und vor allem in der zweiten, lyrischen Sequenz der Überleitung liegt die Struktur wie ein offenes Buch vor uns.
    Auch die beiden ersten Abschnitte des Seitenthemas behandelt sie wie Kempff ohne Echoeffekt, wobei bei dem vorzüglichen Klang der glockige Ausdruck der Sforzandi besonders gut zum Tragen kommt. Im dritten Teil spielt sie die Oktavwechsel akzentuiert ,aber nicht mit der äußersten Kraftanstrengung, und auch in der Schlussgruppe fehlt ein wenig die letzte Energie, die Kempff aufbietet, aber dennoch ist das ein dynamisch sehr ausgewogener Vortrag. Natürlich wiederholt auch sie die Exposition.
    Auch die Durchführung beginnt sie in dieser dynamisch akzentuierten, aber dennoch überschaubaren Spannweite. In der Konfrontierung (2. Teil) vermeine ich zu hören, dass sie den jeweils ersten ff-Akkord nicht so stark spielt wie den zweiten, und im Austrag setzt sie ähnlich wie Kempff das Decrescendo schon eher an und dehnt es weiter nach unten aus, was eine frappierende Wirkung hervorruft. Der "Frieden" (4. Teil) beginnt schon früher, und im 5. Teil, der Vorbereitung der Reprise, nimmt sie das Crescendo kaum noch wahr, sondern gleitet sehr sanft in die abschließende pp(p)-Fermate- faszinierend!
    In der Reprise mit ihren geänderten musikalischen Figuren bleibt sie bei ihrem schon in der Exposition vorgetragenen dynamisch-rhythmischen Konzept. wobei sie die anfänglichen Themenauftakte rhythmisch sehr prägnant vorträgt. Dabei gerät die lyrische Sequenz der Überleitung wieder sehr berührend, und ich meine, dass sie hier den Beginn des zweiten Seitenthema-Abschnitts dynamisch niedriger ansetzt.
    Auch die Ausführung der Schlussgruppe entspricht in etwa der der Exposition. Im ganzen ist ihr da eine großartige Interpretation des Kopfsatzes gelungen.


    Im Adagio gehört sie mit unter 7 Minuten, obzwar nicht ganz so schnell wie Brendel und erst recht nicht wie Gulda, zu den Raschen, wobei hier die Gefahr besteht, den mystischen Charakter dieses Satzes zu verfehlen, wenn der Eindruck von Eile im Vordergrund steht.
    In der Überleitung, nach dem Doppelstrich, Takt 13 mit Auftakt, ist dieser Eindruck so nicht vorhanden, wobei vor allem durch die korrekte Ausführung der 3/8-Akkorde, Takt 13 bis 16. jeweils auf der Eins, dann doch der Eindruck von Ruhe und zaubrischer Gelassenheit aufkommt, der bei langsameren Interpretationen (ich darf schon jetzt den grandiosen Swjatoslaw Richter ankündigen), durchweg vorhanden ist.
    Auch im Seitenthema gelingt es ihr, die Musik ruhiger atmen zu lassen, aber in den Zweiunddreißigstelbögen der Schlussgruppe ist das schon wieder schwieriger. Im letzten Abschnitt der Schlussgruppe in den Achteln ist es wieder so, dass die Musik wieder Luft holt, aber ich finde, dass dieses "Luftholen", dieses ruhige Atmen in diesem Satz, einem veritablen Adagio "mit großem Ausdruck" jederzeit die Zeit vorhanden sein sollte, diesen Ausdruck auch zu erreichen und nicht darüber hinweg zu spielen.
    Vor allem auch in der Durchführung "tackern" die Achtel in der Begleitung so insistierend voran, dass man hier m. E. bestenfalls von einem aufgeregten "Andante" sprechen kann, mehr nicht. Die dynamischen Wellenbewegungen zeichnet sie gleichwohl aufmerksam nach, und am Ende der Durchführung in den Sechzehntelbögen kommt das Ganze etwas zur Ruhe, um gleich darauf in der Reprise wieder in den tackernden Grundrhythmus zu verfallen. Dass wir uns nicht falsch versstehen, sie spielt das alles wunderbar, nur bei ihrem Tempo bilden sich in meinem Kopf große Fragezeichen.
    Ich habe hier in diesem Thread auch schon Besprechungen abgeliefert, in denen ich die Zeitfrage überhaupt nicht gestellt habe, keine Vergleiche mit anderen Interpreten angestellt habe, einfach, weil alles stimmte.
    So ist z. B. hier am Ende der Überleitung zum Seitenthema auch wieder Entspannung zu verspüren, und das Seitenthema wäre herausragend, wenn darüber ein "Andante" stände, steht da aber nicht!
    Ich finde, dass Mari Kodama so gut Klavier spielen kann, dass es eigentlich schade ist, dass sie hier etwas liegengelassen hat.


    Das Minuetto ist dagegen ganz herausragend. Da ergibt sich nicht das geringste Fragezeichen. Da braucht man auf keine Einzelheiten einzugehen. Das ist ganz einfach toll.
    Auch das etwas aufrührende Minore spielt sie, wie ich finde, genau im richtigen Rhythmus und mit der richtigen Dynamik und vor allem im richtigen Tempo des bachischen Vorbildes.
    Das Minuetto schließt sie dann natürlich Da Capo an. Das ist Spielfreude pur.


    Auch der Hauptsatz des finalen Rondos ist unglaublich, das atmet, das fließt, das strahlt intensiv von innen, das ist einfach grandios. Auch das Seitenthema in diesem "genau richtigen" Tempo strahlt den Eindruck aus: "so und nicht anders". Auch die Struktur tritt hier wieder so unmittelbar zu Tage, wie man sie nicht oft hört. Schlussgruppe und Überleitung schließen sich ganz organisch an, man achtet nicht mehr auf formale Dinge, man lässt die Musik einfach auf sich wirken, und schon wieder hebt das Thema beseligend an (Takt 50 mit Auftakt).
    Auch die Durchführung stellt in ihrer Interpretation keinen musikalischen Kontrast zur Exposition das, sondern eine variierende Weiterentwicklung, weiter im warmen Klanggebilde und nahtlos in die leise wuselnden, geradezu vorwitzigen Zweiunddreißigstel übergehend. Das hat nichts Bedrohliches.
    Desgleichen empfinde ich beim Durchführungskern, klangvolles, fugatives Voranschreiten, Spielen im besten Sinne, selbst dieses vordergründig eckige Schreiten besteht aus Ketten vorn kurzen Legatobögen, und ihre Lesart der sich wiederum anschließenden huschenden und sich dann steigernden Zweiunddreißigstel ist einfach frappierend, und spätestens ab Takt 103, als die Überleitung in der tiefen Oktave anhebt, hellt sich alles wieder auf, und sie spielt die überirdische Reprise so zart, so anrührend, dass es eine wahre Freude ist.
    Auch die Zweiunddreißigstel-Oktavwechsel spielt sie so zart und anmutig, wie ich sie selten gehört habe. Das Seitenthema zieht ein weiteres Mal tief berührend an uns vorüber, und die Schlussgruppe lässt sie geradezu perlen. Auch in der Themenwiederholung in der hohen Oktave breitet sich ein wohliges Gefühl aus. Ein letztes Mal wird das Thema wiederholt, bevor die erste und einzige Coda in dieser Sonate ertönt.
    Auch Mari Kodama spielt die Sechzehntel-Duolen ab Takt 173 zum Niederknien schön, und die wundersame Coda ist in ihrem Vortrag ein letzter Höhepunkt, in dem sie zum ersten Mal (Takt 193) das Fortissimo erreicht, aber das habe ich vorher auch nicht vermisst.


    Eine grandiose Interpretation über drei Sätze mit dem einen, wie ich finde, Irrtum in der temporalen Wiedergabe des zweiten Satzes.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Michael Korstick, Klavier
    AD: Juli 2007
    Spielzeiten: 6:47-9:50-3:19-6:12 -- 26:08 min.;


    Michael Korstick gehört im Kopfsatz zu den Schnelleren, er ist temporal etwa bei Gulda, also schneller als Arrau und vor allem als Gilels. Dynamisch ist er in der Überleitung durchaus auf der starken Seite, wenn auch nicht überbordend, und rhythmisch ist er sehr leicht, wenngleich er die Sforzandi (ab Takt 16) durchaus gewichtet. Bestrickend ist wie eh und je sein pianistisch überaus herausragendes Spiel. Da wackelt kein Ton, da ist alles in einem faszinierenden Fluss.
    Der lyrische Abschluss der Überleitung ist grandios und mündet in ein sattes Crescendo. Das Seitenthema spielt er in der ersten Sequenz schön glockig, und in der zweiten spielt er im Gegensatz zu Kodama und Kempff doch ein moderates Echo. Die dritte Sequenz mit den Oktavwechseln ist ebenfalls rhythmisch grandios, wenn auch dynamisch nicht bis an das Äußerste gehend. In der Schlussgruppe dreht er noch etwas mehr auf, bleibt aber trotzdem in seinem Konzept der "kleinen Schritte", sodass man schon auf die Wiederholung der Schlussgruppe (anstelle einer Coda) am Satzende gespannt sein darf. Natürlich wiederholt er die Exposition. Auch in der Wiederholung lässt er am Ende dynamisch keineswegs nach.
    Auch in der fünfteiligen Durchführung bleibt er bei seinem behänden rhythmischen Vortrag, was von vornherein eine stimmungsmäßige Verdüsterung sehr gering hält. Wichtiger ist der melodische Fluss und das riesige zur Reprise hinführende Decrescendo. Dieses alles hält auch weiterhin den spielerischen Charakter dieser Sonate an dieser prägnanten Stelle aufrecht.
    Auch am Ende des fünften Teils bleibt er in der Folge Crescendo (Takt 120) - Decrescendo (Takt 124) bei seiner atemberaubend zarten dynamischen Kurve- grandios!
    Auch die geänderten musikalischen Figuren der Reprise spielt er rhythmisch-dynamisch unverändert mit Zug, wobei der lange Bogen Takt 142 bis 146 besonders beeindruckend ist, desgleichen die anschließende lyrische Sequenz der Überleitung, in der abermals die hohe pianistische Kompetenz Korsticks deutlich wird. Auch Seitenthema und Schlussgruppe ziehen mit dem gleichen dynamischen Kontrastreichtum an uns vorüber, samt den beiden Schlusstakten, in denen endlich das Fortissimo erreicht wird, ist ja auch früh genug. Ein grandios gespielter Satz.


    Wer Korstick kennt, der freut sich immer auf den langsamen Satz. Korstick ist zwar nicht ganz so langsam wie Gilels, aber auch in seiner Interpretation spürt man diesen wunderbaren Satz ganz entspannt atmen und kann in diesem Kontext die organischen dynamischen Wellenbewegungen so eindringlich vernehmen. Kräftiger als mancher seiner Vorgänger betont er auch dies Sforzandi im Takt 12 vor dem Doppelstrich.
    Die Überleitung nach dem Doppelstrich, Takt 13 mit Auftakt ff. ist erfüllt von einem tiefen Frieden, und nach der grandiosen Seufzer-Sequenz Takt 16(17 folgt ein Seitenthema, das erfüllt ist von einer tiefen musikalischen Beseligung, wie sie nur mit solchem Tempo ausgedrückt werden kann.
    Ein weiterer Beweis für diese meine Behauptung scheint mir die Zweiunddreißigstelsequenz der Schlussgruppe zu sein. Der Aufbau der musikalischen Figuren, ihr Ineinandergreifen wird in diesem Tempo viel fassbarer, viel begreifbarer.
    Die Durchführung erfährt durch diese temporale und dynamische Auffassung Korstick dann auch eine andere emotionale Erschließung., ist gleichsam verbunden mit einer dunkleren Farbe. aber auch das macht er konsequent, und das zeigt auch eine andere mögliche Sichtweise dieses Satzes auf.
    Diese Durchführung zeigt, dass es nicht nur eine Sichtweise dieser Sequenz gibt.
    Auch in der Reprise zeigt sich, dass das Tempo auch in den Zweiunddreißigsteln immer noch den Charakter dieses Satzes unverändert ausdrückt.
    Wiederum zeigt uns Korstick, dass die Seufzersequenz durch seine Spielweise (Takt 61ff.) adäquat wiedergegeben wird, und sein kraftvolles Sforzando in Takt 63 auf der Eins zeigt uns eindringlich, dass wir uns dort immer noch im Moll befinden.
    Das Seitenthema zeigt in Korsticks Lesart wieder, welche ein beinahe jenseitige Musik das ist, tiefster Friede und ergreifende Beseligung! Die Seufzersequenz Takt 69 und 70 habe ich kaum jemals so grandios gehört. Auch die Schlussgruppe gehört m. E. einfach so.


    Das Minuetto spielt Korstick äußerst sanft und auch hier greift er m. E. zum richtigen Tempo. E ist eine wunderbare Musik. Das gilt auch den zweiten Teil des Minuetto, das er in dem gleichen Fluss dem gleichen dynamischen Gewand präsentiert. Das Minore präsentiert Korstick ebenfalls im passenden Fluss und schließt dann das Minuetto Da Capo an.


    Auch im Rondo habe ich das Gefühl, dass Korstick genau das richtige Tempo gewählt hat, weil einfach der Generalbogen weiter gespannt wird. Der Grundtenor dieser Sonate, Das Spielerische, Spielfreudige, bleibt unverändert erhalten. In diesem Tempo, das Korstick wählt, etwa wie Kempff, Kodama und Feinberg, kann sich die lyrische Essenz dieses wunderbaren Rondos ungehindert entfalten. Hier kommt es nicht darauf an, wie etwa in der Appassionata existenzielle Konflikte zu lösen, sondern hier ist m. E. nur die Freude am Spiel und am Leben wichtig, und das kommt auch in Korsticks Interpretation wunderbar zum Ausdruck. In Schlussgruppe, Überleitung und Themenwiederholung setzt sich dies fort.
    In der Durchführung schlägt Michael Korstick relativ moderate Töne an, zumal in der Zweiunddreißigstelsequenz die Post wieder abgeht. Da sind keine wirklich dramatische Töne ehr zu vernehmen.
    Auch im Durchführungskern ist zwar ein Mollschleier vorhanden, aber keine abgrundtiefe Trauer.
    Auch in der nächsten Zweiunddreißigstelsequenz löst sich das ganze wieder auf und beginnt schon im ÜbergangTakt 103ff. wieder von innen zu leuchten. Die Beseligung der Reprise drückt Korstick mit seinem warmen Ton besonders schön aus. Auch die Oktavwechsel sind bei ihm vom Feinsten.
    Das neuerliche Seitenthema kann m. E. nur in dieser Gangart so von innen leuchten. Ebenso wunderbar leuchtet auch seine Themenwiederholung in der ganz hohen Oktave. Korstick spielt das herausragend.
    Auch die wundersame Coda ist unglaublich.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Stephen Kovacevich, Klavier
    AD: 1997
    Spielzeiten: 7:16-7:10-3:12-5:57 -- 23:35 min.;


    Stephen Kovacevich ist im Kopfsatz langsamer als Korstick, etwa tempogleich mit Arrau, Kodama und Kempff. Auch er spielt sehr transparent und schwungvoll., dynamisch durchaus zupackend, aber nicht überbordend.
    In der Überleitung zum Seitenthema ist sein Spiel nicht ganz so federleicht wie das von Korstick, sondern hat mehr Körper.
    Auch im Seitenthema greift er durchaus zu und im zweiten Teil spielt er auch nur mit wenig Echoeffekt. Auch im dritten Abschnitt mit den Oktavwechseln spielt er sehr geradeaus, aber ebenfalls nicht zu laut.
    In der Schlussgruppe jedoch ist sein dynamischer Kontrast größer als der von Korstick, auch wenn das nicht plötzlich kommt, sonder sich entwickelt. Auch diese Lesart hat ihre Berechtigung, zumal sie sich im Rahmen der Partitur bewegt und Kovacevics zupackende Art unterstreicht. Natürlich wiederholt auch er die Exposition.
    In der Durchführung bleibt er weiter bei seiner relativ hohen dynamischen Obergrenze und führt die ff-Akkorde in der Konfrontierung kraftvoll aus un spielt ebenfalls eins ehr langes kleinschrittiges Decrescendo, ähnlich wie Korstick. Auch er betont mehr den Fluss der Musik. und spielt im Frieden ein sehr anrührendes Pianissimo. Allerdings steigert er jedoch das abschließende Crescendo wesentlich stärker als Korstick. Doch auch dies gibt die Partitur zweifellos her.
    Die Reprise spielt er ebenso kontrastreich wie die Exposition, wobei er die lyrische Sequenz in der Überleitung zum Seitenthema doch etwas luzider spielt als in der Exposition.
    Die Sforzandi im Seitenthema spielt er wieder schön glockig, und die Schlussgruppe wiederum noch kraftvoller als Korstick. Auch er liefert hier einen grandiosen Kopfsatz ab.


    Allerdings spielt auch er das Adagio ziemlich rasch, nicht ganz so rasch wie Mari Kodama und auch in der Ausführung relativ entspannt, aber natürlich kein Vergleich zu der unendlich gelassenen und bedeutungstiefen Ausführung von Michael Korstick. Das sind eben zwei verschiedenen Welten, das ist allerdings auch zuerst meine persönliche Meinung, allerdings auch bestätigt durch die Ausführungen von Joachim Kaiser, die mir doch sehr überzeugend erscheinen.
    In der Überleitung und auch im Seitenthema scheint er mir das Tempo etwas reduziert zu haben, und schon klingt das ganze viel eindringlicher, allerdings nur bis zur Schlussgruppe, wo die Zweiunddreißigstel in ihrem hohen Tempo die Wirkung wieder pulverisieren.
    In der Durchführung stellt er durch das permanent rasche Tempo wohl einen dramatische Impetus her, aber nicht eine mystische Versenkung, wie sie beispielsweise von Korstick erreicht wurde. Denn es ist in der Tat ein verhangenes Adagio, kein alertes Andante. Und so zieht die Durchführung so an uns vorüber, ohne, zumindest auf mich nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen.
    Auch in der Reprise bleibt dieser unnötige Tempoeindruck erhalten. Erst in den Seufzerfiguren (Takt 61ff.) wird durch die Temporeduktion der Eindruck wieder stärker, und das Seitenthema in der höhn Oktave ist dann wieder sehr anrührend, bis zur Schlussgruppe, in der die Zweiunddreißigstel wieder gnadenlos zuschlagen: ja, ich empfinde das genau so.


    Ds Menuetto ist in seiner Anmut und spielerischen Eleganz um Äonen besser als das Adagio und auch wieder im richtigen Tempus. Wie sich die Dinge doch ähneln.
    Auch das wunderbar fließende und nicht sonderlich tragisch wirkende Minore ist vom Feinsten und temporal genau richtig. Wie gesagt, ich beurteile die Tempi nur nach Gefühl und nach Vergleich mit anderen Interpretationen, da es ja generell keine Metronomangaben gibt, und ich glaube, dass man sich da auf sein Gefühl am besten verlassen kann. Kovacevich wiederholt natürlich auch das Minuetto. Ist es denn so viel schwieriger, ein Adagio im richtigen Tempo zu spielen als ein Minuetto? Ich meine nicht.


    Auch im Rondo Allegretto ist Kovacevich zügig unterwegs, aber, wie ich meine, nicht zu schnell, hier atmet die Musik im richtigen Pendelschlag, hier ist alles entspannt und ruhig fließend. Die Arpeggien des Seitenthemas breiten sich so wunderbar aus, und auch die Schlussgruppe perlt durchaus klar und unaufgeregt dahin.
    In der Überleitung zur Themenwiederholung fügt er die Themenanfänge ganz entspannt aneinander, und auch die dynamische Wellenbewegung bleibt im Rahmen der Partitur und fließt ohne große Sprünge dahin.
    Auch die Erschwerung und Verdunklung in der Durchführung fällt hier nicht allzu sehr ins Gewicht.
    Auch Kovacevic begreift die hurtigen Zweiunddreißigstel spielerisch. gleichwohl dynamisch kraftvoll, auch den Durchführungskern, doch trotz seiner herben bachischen Form bleibt es m. E. im Spielerischen, wie auch die nachfolgende Zweiunddreißigstelsequenz beweist, und in der nahen Reprise ist die Melodienseligkeit wieder erreicht. Hier haben sich einerlei dramatische Abgründe aufgetan.
    Die kniffligen Oktavenwechsel in der Reprise meistert Kovacevich, wie ich mein, auf das Feinste, und auch die Arpeggien im Seitenthema nehmen wieder für sich ein, ebenso die herrliche Schlussgruppe mit den perlenden Zweiunddreißigsteln und die Themenwiederholung und schließlich die herrlich wundersame Coda.
    Mit der temporalen Konsequenz, die Stephen Kovacevich in den Sätzen 1, 3 und 4 hat walten lassen, wäre ihm eine wahrlich herausragende Interpretation gelungen, hätte er das im zweiten Satz auch beherzigt.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Werter Willi B.A.!


    Deine Beethoven-Analysen lese ich immer mit großem Vergnügen - ich überfliege sie, wenn ich die Einspielung nicht kenne, und studiere sie im andern Falle (in mindestens sechs Fällen also). Mitzumachen juckt mich immer wieder, aber es ist halt eine Zeitfrage - und die Zeit ist (noch) nicht so da. Meist habe ich zudem andere Hörschwerpunkte, die quasi auch "abgearbeitet" werden müssen.


    Ein kleiner Tipp: Solltest Du nicht Dein gerne verwendetes Adjektiv "temporal" durch ein anderes ersetzen oder paraphrasieren ("was das Tempo anbelangt" o.ä.)? Die Verwendungsweise passt nicht.


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Lieber Wolfgang,


    ich will mal daran denken, die Ausdrucksweise dahingehend zu variieren. Das hat sich alles schon bei mir automatisiert, zumal das gestern Abend meine 651. Rezension war. ^^


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Die Verwendungsweise passt durchaus, Willi! Es gibt ja nicht nur die anatomische Bedeutung.
    Liebe Grüße,
    Christian


    Ich wollte eigentlich nicht schon wieder lauter Konflikte heraufbeschwören - :P -, aber - unabhängig von meinem Sprachgefühl, das mich täuschen kann -, sieht mein DUDEN-Universalwörterbuch und sieht die erste Online-Quelle, die ich gefunden habe, die Bedeutung "temporal = das (musikalische) Tempo betreffend" nicht vor, sondern neben wenigen Spezialbedeutungen nur die Verwendung als grammatischen Begriff für "Zeit-, zeitlich".


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!


  • ... siehe Martin Heidegger: Temporalität und Zeitlichkeit... :hello:


    Das ist wahrscheinlich eine spezielle Verwendung von Heidegger, der auch sonst privatsprachliche Elemente pflegt, und/ oder es spielt eben auf die Funktion von realer versus grammatischer Zeitlichkeit an, also auf die pragmalinguistische Ebene - das vermute ich ebenso. In jedem Fall hat es nichts zu tun mit der Problematik, die sich im obigen musikalischen Kontext ergeben hat. Da sind wir uns hoffentlich einig.


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ein gewisser französischer Präsident hatte auch mal den Gebrauch von Fremdwörtern unter Strafe gestellt. :D Ich glaube in musikwissenschaftlichen Texten ist auch schon mal von "temporaler Gestaltung" o.ä. die Rede. Ich selbst würde eher das Deutsche bevorzugen. Wozu muss es auch das Fremdwort sein? "Tempogestaltung" geht genauso und ist doch eigentlich schöner... :)

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  • Da du auch wieder zu diesem Thread gefunden hast, lieber Holger, ist meine Frage dahingehend,


    ob du jetzt endlich die Feinberg-Dateien abgerufen hast, die ich dir am 4. 4. zum zweiten Mal zugesendet habe.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • ob du jetzt endlich die Feinberg-Dateien abgerufen hast, die ich dir am 4. 4. zum zweiten Mal zugesendet habe.

    Ich hatte, Dir, lieber Willi, eine Mail geschickt! Ist geschehen! :) Zum Hören bin ich leider noch nicht gekommen - gestern war erst einmal das Opern-Erlebnis Weill/Brecht - grandios! (Rrezension ist fertig, kommt morgen!) Kempff werde ich mir in der kommenden Woche auch noch zu Gemüte führen! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Paul Lewis, Klavier:
    AD: 2007
    Spielzeiten: 7:35-7:17-3:24-6:41 -- 24:57 min.;


    Paul Lewis ist im Kopfsatz etwas langsamer als Wilhelm Kempff und Mari Kodama, aber wesentlich langsamer als Michael Korstick.
    Dynamisch scheint er mir einen Mittelweg einzuschlagen, und sein Spiel ist wie immer geprägt von rhythmischer Leichtigkeit. Besonders kommt das in der lyrischen Sequenz der Überleitung zum Tragen.
    Im Seitenthema gehört er zu derjenigen Fraktion, die den zweiten Teil mit den verkürzten Notenwerten als Echo spielt, den dritten Teil mit den Oktavwechseln spielt er ebenfalls kraftvoll, aber nicht überbordend und die abschließende Schlussgruppe spielt er durchaus dynamisch sehr kontrastreich. Das gelangt dann schon bis ans Fortissimo. natürlich wiederholt er die Exposition. Es ist sicherlich noch zu erwähnen, dass er im letzten Teil des Seitenthemas und in der Schlussgruppe die Forte-Halben im Bass und die Oktavwechsel im Bass sehr prägnant nimmt.
    In der Durchführung behält er gleich zu Beginn die dynamischen Kontraste bei und in der Konfrontierung hält er auch die sechs ff-Akkorde sehr glockig im Klang und behält auch im Austrag das relativ hohe dynamische Niveau bei, setzt tatsächlich erst im Takt 104, wie n der Partitur vorgesehen, das Decrescendo an, desgleichen betont er das Crescendo ab Takt 120 mehr, als es z. B. Wilhelm Kempff tut. Auch hier ist wieder festzustellen, dass beide Lesarten ihren Berechtigung haben. Lewis' Sache ist der klare, diesseitige Klang und die sorgfältige Beachtung der dynamischen Verläufe. Dennoch hat auch seine Interpretation ihren ganz eigenen Zauber uns spielt er am Schluss der Durchführung einen berückenden Auslauf in die pp-Fermate.
    Auch in der formal etwas differierenden Reprise bleibt er diesem Klangkonzept treu, weiterhin auch seinen fließenden Rhythmus beibehaltend, und die lyrische Sequenz der Überleitung wiederum sehr anrührend spielend. Auch hier spielt er Seitenthema un d Schlussgruppe wieder mit gehörigem dynamischem Schwung- ein großartig gespielter Kopfsatz!


    Leider gehört auch er im Adagio zu den raschen, war etwas langsamer als Wilhelm Kempff und Mari Kodama, aber doch zweieinhalb Minuten schneller als Michael Korstick, der m. E. zu den herausragenden Gestaltern des Adagios gehört, wie eben auch Gilels.
    Nun muss man ihm zugestehen, dass er einen ruhigen Fluss anstrebt und auch agogisch einige geschickte Verzögerungen einbaut, z. B. über den Trillern und in der kurzen Sforzandokette am Ende des Hauptsatzes. So vermeidet er den Eindruck von Hast und Eile, und er Eintönigkeit entgeht er auch dadurch, dass er die dynamischen Wellenbewegungen durchaus deutlich ausführt, und die Überleitung nach dem Doppelstrich ist in diesem Tempo geradezu auf zaubrische Art tief beeindruckend, was sich in dem betörenden Seitenthema noch verstärkt. Aber in der Zweiunddreißigstelsequenz ab Takt 24 kann er auch beim besten Willen einen latenten Eindruck von Eile nicht mehr vermeiden, doch dafür entschädigt wieder die folgende Achtelsequenz mit ihrer, wie ich finde, doch wieder tiefen musikalischen Wirkung.
    Auch die Durchführung finde ich ganz außerordentlich, auch durch seinen zupackenden dynamischen Zugriff mit den genau richtigen Sforzando-Glockenschlägen (Takt 34 bis 38) und der wiederum sorgfältigen Nahzeichnung der dynamischen Verlaufskurven. Auch die Überleitung zur Reprise spielt er ganz famos, nur schade, dass dann in der Reprise Takt 51 und 53 wieder so ein "Temposprung" durch die Partitur geht.
    Doch grandios geht es weiter mit der Überleitung in den Achteln, in denen er es versteht, eine tiefen Frieden in die Musik zu bringen, ein wunderbares Singen. Solche Passagen wie diese (ab Takt 54) gehören meines Erachtens zu den stärksten musikalischen Eingebungen Beethovens überhaupt und werden hier von Lewis kongenial wiedergegeben. Er hat schon sehr viel gelernt von Alfred Brendel, und was das Erstaunliche ist, er spielt diesen Satz m. E. besser als sein Lehrmeister in dessen sämtlich drei Aufnahmen. Wenn ich jetzt ob dieser Äußerung den Unwillen verschiedener Brendeljünger auf mich ziehe (bin ja selber einer), so sei's drum. Das halte ich auch noch aus. Paul Lewis ist m. E. einer der führenden Beethoven-Pianisten seiner Generation, und er hat mir schon in mehreren Live-Konzerten viel Freude bereitet.
    Auch im neuerlichen Seitenthema, das in der Reprise, wie ja öfter bei Beethoven, in der Oktave nach oben wandert, ist beseligende musikalische Tiefe, die dann allerdings in der Schlussgruppe sich wieder ein wenig den hurtigen Zweiunddreißigsteln beugen muss, die aber ihrerseits wieder Platz machen für die letzte tröstliche Achtelsequenz.
    Ich finde, Paul Lewis hat das Allerbeste aus diesem Tempo gemacht, das er, da bin ich mir sicher, auch in gewisser Weise von Brendel geerbt hat.


    Das Minuetto spielt er grandios, wie ich finde, auch im richtigen, weil moderaten Tempo, rhythmisch wunderbar und dynamisch, wie es sich der Komponist (höchstwahrscheinlich) gedacht hat.
    Das Minore bleibt in diesem rhythmischen Fluss und geht auch dynamisch nicht über die Partitur hinaus. Lewis schließt dann das Minuetto Da Capo an.


    Interessanterweise ist Paul Lewis auch im Finale etwas langsamer unterwegs als sein Lehrmeister, übrigens auch langsamer als Kempff, Korstick und Kodama. Übrigens war er auch in allen anderen bisherigen Sonaten, die ich besprochen habe, nie einer der Schnellsten, gleichwohl immer ausdrucksstark und pianistisch sowieso über jeden Zweifel erhaben.
    Auch hier beginnt er sein finales Spiel mit einer Ruhe und Entspannung sondergleichen, lässt es perlen und zeichnet wie gewohnt sehr aufmerksam die dynamischen Kurven nach, ein akribischer Pianist, der aber durch seine Akribie nicht eventuell fehlende pianistische Qualität ersetzen müsste, denn die ist m. E. mehr als ausreichend vorhanden. Er ist eben ein stiller bescheidener Typ halt "very british", kein rasender Tastenlöwe. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass er eine Gesamtaufnahme der Beethovensonaten vorgelegt hat, die sich mehr und mehr zu einer veritablen Spitzenaufnahme mausert.
    Selbstredend, dass auch das Seitenthema unter seinen Händen mi wunderbaren Arpeggien glänzt, die Schlussgruppe und die Überleitung in diesem stillen Licht weiterleuchten, in dem das Spiel wichtig ist, nicht das Drama. So schnell wie die Zweiunddreißigstel im Adagio waren, so "richtig" sind sie hier im Allegretto.
    Auch in der Durchführung ist seine Dunkelfärbung nur vordergründig, ist sein Spiel nicht wirklich dramatisch, sind die Zweiunddreißigstel auch hier eher spielfreudig und vorwärtsdrängend, auch im "bachischen" Durchführungskern geht die Welt nicht unter, und die Zweiunddreißigstelüberleitung Takt 110/111 habe ich, so glaube ich, noch nicht so beseligend gehört wie hier von Paul Lewis. Das ist schon ganz große Pianistik.
    Desgleichen die Reprise- mein Gott! Welchen wunderbaren Oktavwechsel! Und dann nochmals die wundervollen Arpeggien und die Schlussgruppe, an deren Ende das Thema nochmal in der ganz hohen Oktave erscheint, nein: überirdisch gesungen wird: dieses zögernde Hinabsteigen in den Sechzehnteln des Thementeils (Takt 158ff.)- unglaublich! Dann die Sechzehnteltriolen und im weiteren Verlauf (ab Takt 173 die Sechzehntelduolen)- Das ist sicherlich einer der am besten interpretierten Finalsätze dieser Sonate, die ich bisher gehört habe, auch wenn diesem Finalsatz von einigen Experten nicht so große Bedeutung beigemessen wird. In der wundersamen Coda hat Paul Lewis noch ein "Zückerchen" für uns, auf den drei Fortissimo-Akkorden Takt 193 spielt er moderates Ritartando- unglaublich.
    Hätte diese Aufnahme zwei Minuten länger gedauert, wäre sie sicherlich meine neue Referenz geworden.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    John Lill, Klavier
    AD: ?
    Spielzeiten: 6:49-10:02-3:04-6:10 --- 26:05 min.;


    John Lill wählt im Kopfsatz etwa das gleiche Tempo wie Michael Korstick, ist also schneller als Wilhelm Kempff und Paul Lewis. Dynamisch steigert er kleinschrittig, ist also erst am Ende des Hauptsatzes, in den Trillern von Takt 10 und 11 auf der Eins, auf einem satten Forte.
    In der Überleitung betont er auch die Begleitung gleichberechtigt zur Melodielinie. Der zweite Teil der Überleitung, die lyrische Sequenz, hat auch bei ihm diese gewisse Leichtigkeit.
    Das Seitenthema spielt er glockig, auch im zweiten Abschnitt spielt er kaum Echo. Im dritten Teil sind die Oktavwechsel sehr kraftvoll und die Schlussgruppe birgt große dynamische Kontraste von pp/ppp bis zum ff. Selbstverständlich spielt er auch die Exposition noch einmal. Seine Lesart der Exposition hat einen ungeheuren Zug.
    Seine Durcvhführung bleibt auf einem sehr hohen dynamischen Niveau, wobei in der Konfrontierung die ff-Akkorde wieder schön glockig klingen, und auch im Austrag beginnt er wie Lewis erst mit dem Decrescendo ab Takt 104. Den britischen Pianisten scheint Partiturtreue doch besonders eigen zu sein. Im Umkehrschluss geht er auch in dem decrescendo sehr weit in den Pianissimokeller und steigert, wieder eine Parallele, auch das Crescendo ab Takt 120 mehr als Kempff.
    Auch in der Reprise zeichnet er die dynamischen Bewegungen auf das Feinste nach behält seine rhythmisch behände Spielweise unbeirrt bei, und mit dem gleichen unwiderstehlichen Brio wie in der Exposition geht es dem Satzende zu.


    Im Adagio ist John Lill noch etwas langsamer als Michael Korstick, dabei ist er auch dynamische zurückhaltend, baut dadurch eine faszinierende Spannung auf, geht selten über das mp hinaus und verdämmert fast in der kurzen Sforzandokette Takt 11. In der Überleitung nach dem Doppelstrich scheint mir die Wirkung ungeheuerlich, sind die Seufzerfiguren trotz der niedrigen Dynamikstufe sehr angreifend, und im Seitenthema erreicht er, wie ich finde, auch die überirdischen spären eines Emil Gilels, da geht einem ebenso der Schauer über den Rücken wie bei dem Russen. Lill und Gilels scheinen mir, die Idee kam mir schon in früheren Aufnahmen, in den langsamen Sätzen "Brüder im Geiste" zu sein. Und das Wunder geht in der Schlussgruppe weiter. Ganz selten hört man die Zweiunddreißigstelbögen, so entspannt sich in aller Zeit der Welt entfalten. Von Sokolov liegt diese Sonate noch nicht vor, aber ich bin fest davon überzeugt, wenn sie kommt, wird auch solch ein Adagio dabei herauskommen.
    Nur in diesem Tempo kann in der Durchführung den "Charakter des Hallenden und Mystisch-Tönenden, Nach-Tönenden" hergestellt werden, wie Joachim Kaiser es in seinem Buch über die 32 Klaviersonaten (S. 210) so trefflich ausdrückt.
    Wenn man es spielt wie Gilels, Korstick, Lill oder Arrau, dann empfinde ich es so, in dem Guldaschen Tempo nicht.
    Und in diesem langsamen Tempo ist es auch nicht unwichtig, die dynamischen Akzente so sorgfältig zu setzen, wie Lill es tut, damit die Spannung erhalten bleibt, so wird auch der kurze Übergang in den beiden Takten 45 und 46 vom Moll zum Dur, von der Durchführung zur Reprise, zum Ereignis- grandios!!
    Hier haben wir in der Reprise noch einmal die Gelegenheit, die "gran espressione" in aller Zeit der Welt zu genießen. Welch eine tiefe Wirkung haben die Seufzer Takt 61ff, Wie überirdisch kommt das Seitenthema in der hohen Oktave daher mit den neuerlichen Seufzerfiguren und anschließend die unglaubliche Schlussgruppe.


    Im Minuetto ist Lill dann schneller als seine Mitstreiter, aber genauso spielfreudig und gelassen, mit einem deutlichen Zielpunkt in dynamischer Hinsicht, dem Takt 10, in dem er eindeutig ein Fortissimo erreicht. Und trotz des Mollüberzuges verliert dieser Vortrag auch im Minore nicht an Spielfluss und ja, auch nicht an Spielfreude. Selbstverständlich folgt das Minore Da Capo.


    Im Allegretto ist Lill im Tempo wieder bei Korstick und Kempff, als schneller als Gilels, Lewis und Arrau. Auch hier spürt man wieder seine Gelassenheit und seinen Spielwitz, aber auch seine große Sorgfalt und sein partiturgetreues Spiel. Wie verklärend kommt doch das Seitenthema mit den unendlich schönen Arpeggien herüber, wie wunderbar perlt doch die Schlussgruppe mit ihren Zweiunddreißigstel-Figuren an uns vorüber. Wie bündig schließt sich die Sechzehntel-Überleitung mit den sich wiederholenden Themaanfängen an, die dann zur Themenwiederholung führt. Alles ist ein einziger erfüllender Gesang.
    Selbst das Moll der Durchführung klingt zwar vordergründig schwer, aber nicht tiefgründig dramatisch, wie die vorwitzige Zweiunddreißigstel-Sequenz anschließend unter Beweis stellt.
    Selbst das "bachisch-strenge" Fugato des Durchführungskerns lässt den Eindruck des "Spiels" nicht verschwinden, und nach dem Ende der Zweiunddreißigstel-Wiederholung, als jene geheimnisvolle Überleitung wie aus dem Nichts auftaucht, herrscht nach der Dur-Auflösung wieder die alte Melodienseligkeit. Auch Lill spielt die veränderten Figuren der Reprise im Hauptsatz herausragend, auch die herrlichen Oktavwechsel und dann wiederum die Arpeggien und die Zweiunddreißigstel der Schlussgruppe, die auch bei John Lill in einer faszinierenden hohen Themenoktave mündet, wunderbar auch hier in der Themenwiederholung die Sechzehntel-Triolen und etwas später die Sechzehntel-Duolen, und in der wundersamen Coda schlüpft Lill gar für kurze Momente in die Rolle Beethovens selbst, als er aus dem Nichts zwei veritable Fortissimo-Stellen kreiiert (Takt 193 und 189/199)- unglaublich!!


    Eine ebenfalls ganz herausragende Interpretation!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 11 B-dur op. 22
    Tatjana Nikolajewa, Klavier,
    AD: 1983
    Spielzeiten: 8:08-7:23-3:28-5:59 -- 24:58 min.;


    Tatjana Nikolajewa ist im Kopfsatz zusammen mit Emil Gilels am langsamsten, ist aber wie dieser sehr prägnant in den dynamischen Verläufen, wohl aber anders als er in einer höheren Gesamtlage.
    Am Ende des lyrischen zweiten Teils der Überleitung steigert sie stetig zu einem doch etwa ff-artigen Endpunkt.
    Im Seitenthema hat sie demzufolge eine sehr hohe dynamische Obergrenze, die sie auf nahezu alle Akkorde verteilt, und auch in der zweiten Sequenz mit den verkürzten Notenwerten bleibt sie dynamisch hochstehend, keine Echobildung also. Auch der dritte Abschnitt mit den Oktavwechseln ist sehr dynamisch angelegt, wo also durchaus auch das angestrebte Fortissimo erreicht wird. Auch in der Schlussgruppe bleibt sie dynamisch im höheren Grundtenor, im Ganzen ist ihr Klangbild als sehr diesseitig zu bezeichnen.
    Natürlich wiederholt auch sie die Exposition.
    In der Durchführung behält sie das im ganzen höher stehende dynamische Klanggefüge bei, wobei in der Konfrontierung die ff-Akkorde natürlich sehr kräftig ausfallen und sie das Forte-Niveau auch bis zum Takt 104 durchhält. Dann jedoch dehnt sie das Decrescendo sehr schön nach unten aus.
    In der Reprise führt Tatjana Nikolajewa die Oktavwechsel des Themenanfangs (Takt 138 bis 14 besonders kraftvoll aus, bleibt also weiterhin in dem direkten, diesseitigen Klangbild. Ansonsten spielt sie die Reprise sehr eng in Anlehnung an die Exposition, und sie endet in einer kraftvollen Schlussgruppe.


    Tatjana Nikolajewa gehört allerdings auch zu den Wenigen, bei denen das Adagio doch signifikant kürzer ist als der Kopfsatz, während er z. B. bei Gilels und Korstick drei Minuten länger ist.
    Da sie jedoch wie beschrieben, das Allegro con brio relativ langsam gespielt hat, kommt zwangsläufig nun im Adagio der Eindruck von einem hohen Tempo auf.
    Dynamisch gehört sie auch in diesem Satz jedoch durchaus zu denjenigen mit der höchsten Obergrenze. Auch die den Hauptsatz abshclie0enden drei Sforzandi haben es durchaus in sich.
    In der Überleitung spielt sie doch wohl ein etwas gemäßigteres Tempo, was sich sofort auf die musikalische Tiefe auswirkt.
    Auch im Seitenthema bleibt dieser Eindruck erhalten, leider jedoch nicht in der Schlussgruppe, in der die Zweiunddreißigstel gnadenlos voraneilen.
    Ein mystisches Verhallen und Nachhallen, wie schon beschrieben, kann natürlich hier in der Durchführung auch nicht stattfinden, dazu ist einfach keine Zeit vorhanden, und m. E. ist hier auch der dynamische Pegel zu hoch, um irgendetwas Mystisches auszudrücken.
    Auch zu Beginn der Reprise scheint mir der dynamische Einstieg zu hoch zu sein. Am Ende der Überleitung, in der Seufzersequenz, sinkt der dynamische Pegel wieder und wir die Wirkung wieder ergreifender, desgleichen in der hohen Oktave des Seitenthemas. Das Ende der Schlussgruppe ist dann auch wieder sehr schön.


    Das Minuetto spielt sie im Vergleich zum Adagio durchaus im richtigen Tempo, auch wieder sehr diesseitig im Klang und unter starker Betonung der Staccati. Jedenfalls ist hier die Spielfreude doch deutlich zu erkennen. Das Minore spielt sie im gleichen dynamischen Gesamtkonzept, doch auch fließend.
    Dann schließt sie das Minuetto Da Capo an. Sehr gut gefällt mir, wie im zweiten Teil des Minuetto dynamisch zurückgeht und rhythmisch weicher spielt.


    Im Rondo bleibt sie bei der etwas erhöhten Grundlautstärke, und ist hier im Tempo bei Korstick und Lill, also schneller als Lewis und Gilels. Die Arpeggien des Seitenthemas spielt sie rhythmisch sehr prägnant und auch dynamisch durchaus zupackend, desgleichen in der Schlussgruppe. In der Überleitung glättet sich der Rhythmus zusehend und kommt ins Gleiten. Da klingt das Ganze auch sehr sanglich.
    Der Durchführungsbeginn fällt bei ihr naturgemäß rustikaler aus als bei den meisten ihrer Kollegen, desgleichen haben bei ihr die Zweiunddreißigstel weniger Leichtigkeit, stampfen eher, und auch der Durchführungskern ist gewichtiger, auch bedachtsamer und führt nochmals in die schwereren Zweiunddreißigstel. Der Übergang klingt dann versöhnlicher und weicher, und der Reprisenbeginn ist dann für ihre Verhältnis schon sehr lyrisch, und auch die kurzen Oktavenwechsel sind erstaunlich flexibel gestaltet, sehr schön das Seitenthema und die Schlussgruppe mit dem Thema in der hohen Oktave sowie die Themenwiederholung mit den Sechzehnteltriolen und -duolen, und sie schließt mit einer sehr schön musizierten Coda ab kann aber nicht mit den abschließenden dynamischen Überraschungen eines John Lill aufwarten.


    Eine bis auf Fragen zum Tempo und der Dynamik im Adagio doch weitgehend überzeugende, teilweise rustikale Interpretation!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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