Carl Orff - "Nänie und Dithyrambe" und "Die Sänger der Vorwelt"

  • Warum, um alles in der Welt, machte Carl Orff es seinen Werken aufgrund der Instrumentalbesetzungen nahezu unmöglich, ins Repertoire einzugehen?


    Beide Chorwerke basieren auf Texten Friedrich Schillers, die dieser im Stil antiker Chorlieder gedichtet hat. Die Texte sind von außerordentlicher Schönheit, "Nänie" ("Auch das Schöne muß sterben") halte ich persönlich für eines der vollkommensten Gedichte in deutscher Sprache. Beide Werke verlangen einen gemischten Chor und ein Instrumentalensemble. Im Fall der "Sänger" setzt es sich zusammen aus 2 Klavieren, 2 Harfen, Kontrabässen, Pauken und Schlagzeug; im Fall von "Nänie und Dithyrambe" aus 6 Flöten, 4 Klavieren vierhändig, 2 Harfen und Schlagzeug.


    Die "Sänger" beginnen mit federnder, synkopenreicher Deklamation in parallelen Quartsextakkorden, vom Instrumentarium mitgespielt, verdoppelt und oktaviert. Darauf folgt über einem Instrumental-Ostinato eine Einton-Deklamation auf dem Zentralton e, aus der sich dann Formulierungen mit großer Untersekunde und kleiner Oberterz lösen, die wie ein antiker Klagegesang anmuten. Darauf rekapituliert Orff den Anfang. Sodann beginnt er eine ekstatische Chor-Deklamation, abermals auf dem Zentralton e, weit ausgreifend auf dem Wort "Genius". Die Klaviere beginnen zu hämmern, und der Chor, nun in Terzenparallelen und immer weiter ausgreifend, singt sich zu einem weiteren Höhepunkt empor, auf den eine wunderbare Intensivierung in abnehmender Lautstärke erfolgt. Auf dem Wort "kaum" verharrt der Chor in einem leisen Dreiklang in C-Dur, das selten zuvor so herb und zart und süß und bitter geklungen hat, während die Instrumente das Werk mit einem Tanzrhythmus, der aus längst vergangenen Zeiten herüberzuwehen scheint, zu Ende führen.


    Die "Nänie" entfaltet sich über dem Zentralton c. Sie beginnt mit chorischer Einton-Deklamation über gleichmäßigem ostinaten Puls. Der Sopran bringt den Zentralton g ins Spiel und zunehmende Chromatik, wie wir sie aus Orffs Spätwerken kennen. Im gleichen Duktus führen Sopran und Alt die Deklamation in Terzen fort, nun auf dem Zentralton b, der über eine Finalwendung zu g führt, einer Art Dominante für die folgende Deklamation der Bässe auf c. Nun bringt Orff Unruhe ins Spiel, Signale der steigenden Erregung: e bleibt zwar cum grano salis Zentralton, doch kreist Orff den Ton chromatisch ein, wechselt zu c, führt die Deklamation zum Spitzenton fes und über weitere chromatische Wendungen über ges zu g. Ein ausgreifendes Chormelisma wie eine Girlande bezeichnet den Höhepunkt, ekstatisch vom Instrumentarium grundiert. Auf "daß das Vollkommene stirbt" stürzen die hohen Stimmen über eineinhalb Oktaven von g auf c, das Instrumentarium skandiert über Trillern und Tremoli "eccitato" eine Eintondeklamation, die in Ermattung zurücksinkt. Der Rest ist Klage, objektiviert und erschütternd, im Kleinen ein Abbild der griechischen Tragödie, wie Orff sie verstand.


    Die "Dithyrambe" rauscht hymnisch auf im 6/8-Takt, tänzerisch: Zwei Strophen enden auf der c-g-Quint (mit Dur/Moll-Mischklängen) und wirbelnder Figur, als würden sich Tänzer in aberwitzigem Tempo um sich selbst drehen. Die dritte Strophe bringt bei gleichem Material eine Übersteigerung mit in höchster Ekstase wirbelnden Tongirlanden am Schluß.


    Was diese Chöre, die gewiß nicht zu Orffs Hauptwerken zählen, interessant macht, ist ihre Mittlerposition: 1955 ("Sänger") und 1956 ("Nänie und Dithyrambe") entstanden, verdichten sie das in "Antigonae" entwickelte Vokabular, führen es in der weiteren Reduktion und der Betonung des Gestischen in der Musik hin zur "Oedipus"-Vertonung. Somit führen diese beiden Werke weg vom rauschenden Fest des "Trionfo di Afrodite", der zum letzten Mal ein volles und extrem großes Orchester verwendet und in seiner bunten Fülle wie der Gegenentwurf zu "Antigonae" anmutet, und binden den "Oedipus" an die erste Sophokles/Hölderlin-Oper Orffs an.


    Dass beide Chorwerke darüber hinaus dankbare, höchst wirkungsvolle Musik bieten, versteht sich bei Orff von selbst.

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  • Hallo Edwin Baumgartner,


    gibt es die beiden Werke auf CD? Ich bin nicht fündig geworden - danke für einen Tipp.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Im Moment offenbar nicht. Bei allmusic kann man die Werke in der Zobeley-Aufnahme hören, die nicht nur sehr gut ist, sondern meines Wissens nach auch die einzige Einspielung, die je gemacht wurde.

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  • Nicht, dass ich das Werk hier kennen würde, aber die Besetzung ist wohl das geringste Problem der Orff-Werke nach Carmina burana, Mond und der Klugen. Das ist alles derart reduziert, dass ich es schwer aushalte ... kommt nicht oft vor, dass ich so ratlos bin als Hörer.

  • Im Idealfall sieht man die Werke auch szenisch. Auf youtube gab es zB eine fulminante Aufführung des "Prometheus" aus Rußland (!), dirigiert von Vladimir Jurowski - leider verschwunden. In Verbindung mit der (ohnedies ebenfalls reduzierten) Szene machte das Werk auf mich ungeheuren Eindruck. Ich denke tatsächlich, man muß beim späten Orff jeden Begriff von Oper und vielleicht sogar Musik in unserem Sinn hintansetzen. Es sind durch Notierungen fixierte Werkinterpretationen, Klanginszenierungen möglicherweise, die mit nichts etwas zu tun haben, was herkömmliches Musiktheater ist.
    Problematisch sind die Besetzungen durchaus: "Antigonae" und "Oedipus" sprengen allein schon durch die Platzforderung der sechs Klaviere und des Schlagzeugarsenals die Möglichkeiten mittlerer Häuser, wenn man nicht auf Stutzflügel oder Pianinos zurückgreifen will (was Orff eigentlich ablehnte). Für den "Prometheus" und die "Temporum finde comedia" braucht man über 30 Schlagzeuger - die man natürlich, kein Opernorchester hat sie, ebenso gesondert engagieren müßte, wie die zusätzlichen Bläser (da Orff sich ja zwar beispielsweise auf Flöten, Oboen, Trompeten und Posaunen beschränkt, diese aber sechsfach vorschreibt).

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