Chopin: Klaviersonate No. 2 op. 35

  • Hallo!


    Ich habe heute meine drei Aufnahmen (Argerich, Horowitz, Rachmaninow) dieser Sonate verglichen.
    Zunächst die Zeitreihen:
    Argerich: 6:39-6:01-8:34-1:24
    Horowitz: 7:55-6:57-7:00-1:29
    Rachmaninow: 5:52-5:17-6:09-1:25


    Horowitz spielt sehr emotional, er scheint mir beim spielen sehr emotional erregt gewesen zu sein (wenn nicht, dann kann er es zumindest prima so transportieren). Bei ihm sind die dynamischen Kontraste wesentlich stärker als bei den anderen beiden: Als Beispiel diene das beinahe ekstatische Gedonnere in der Schlußgruppe des 1. A-Teils im 3. Satz, während Rachmaninow hier gar keine Steigerung vornimmt (Argerich nur wenig). Horowitz ist in allen vier Sätzen der langsamste. Diese relative Langsamkeit verbunden mit den emotional-gewaltigen Intensitäts- und Lautstärkensteigerungen verleihen der Sonate ein ganz anderes Gepräge als es bei Argerich und Rachmaninow der Fall ist – es wirkt alles hochemotional, der Trauermarsch rückt in Beethoven-Eroica-Nähe.
    Fazit: Keine Aufnahme für alle Tage, aber sehr intensiv und beeindruckend.


    Rachmaninow ist da viel „cooler“, es fehlt mir da etwas das Feuer. Zudem schenkt sich Rachmaninow die Wiederholung der Exposition im 1. Satz, und er kürzt auch irgendwie den B-Teil im 2. Satz ab (ohne Noten kann ich das nicht durchschauen). Auch sonst hat er angeblich einige Noten absichtlich anders gespielt, besonders im 4. Satz, den ich aber sowieso nicht höre. Das kann man tadeln, allerdings gelingt zumindest eines Rachmaninow ganz herausragend: IMO ist der Höhepunkt der Sonate, auf den es besonders ankommt, die Reprise des Trauermarschthemas im 3. Satz. Und für diese Stelle hat sich Rachmaninow viel Wucht und Ausdruckskraft aufgespart – so überzeugend wie hier klingt der Klimax dieser Sonate für mich bei Argerich und Horowitz nicht.
    Fazit: Eigenwillige Interpretation, sehr kalkuliert und mit Gespür für den „großen Bogen“, allerdings mit viel historischem Rauschen dabei.


    Argerich ist in allen Sätzen die schnellste. Große Ausbrüche wie bei Horowitz gibt es nur wenige. Die Sonate wirkt bei ihr düster und gehetzt, wobei sie bei den lyrischen Seitenthemen freilich auch sanft und einfühlsam spielt. Im 3. Satz gerät der B-Teil bei ihr wesentlich länger als bei den anderen (über 4 Minuten, bei Horowitz und Rachmaninow unter 2 Minuten) – kann man hier denn variieren, wie oft man das 2. Thema wiederholt? ?( Jedenfalls verlagert sie dadurch das Gewicht im 3. Satz eher auf den versöhnlichen Mittelteil.
    Fazit: Von den dreien am meisten eine Aufnahme für alle Tage, aber mir fehlt da noch was.


    Zur Sonate selbst: Sie ist seit jeher eine meiner liebsten Klaviersonaten. Den vierten Satz lasse ich stets aus, ich finde ihn nach den vorangegangenen Sätzen lächerlich und unpassend. Ich weiß nicht, was Chopin sich dabei gedacht hat. :no: Der Schluß des 3. Satzes ist ein gutes Ende, finde ich. :yes:
    Die Diskussion um die Heterogenität der Sonate kann ich nach Weglassen des Schlußsatzes nicht nachvollziehen. Wir haben dann drei sehr gute Sätze, deren Hauptthemen hart und bedrohlich wirken; die Seitenthemen bilden den lichten Kontrast (im 1. Satz noch wenig präsent). Ich finde, das paßt so hervorragend zusammen.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo an Alle "b-moll-Sonaten-Fans";


    Chopins b-moll Musik, zu der neben der b-moll Sonate auch dass b-moll Prelude und das b-moll Scherzo gehört, begeistert mich schon seit langem. Die dramtaische und kraftvolle Seite seiner Musik drückt sich darin aus.


    In der Tat finde ich Sokolovs Einspielung sehr gelungen. Auch bewundere ich Pollinis, Freira, Agerrich und den jungen Andsnes! Alle haben dieser Sonate mit ihrer persönlichen Note etwas abgewinnen können.


    Zwiespältige Eindruck haben bei mir Pletnevs und Gavrilov Interpretation hinterlassen. Beim einem zerfällt die Sonaten in taktweise Einzelstücke, dem anderen fehlt der Schwung völlig!


    Eine Einspielung, die ich neulich hörte hat mich erstaunt: Frau Ushida hat 1988 beide Sonaten von Chopin mit erstaunlich viel Schwung und Temperament eingespielt. Hätte ich ihr nicht zugetraut. Ihre b-moll Sonate strotzt nur so voller Kraft. Auch wenn mir persönlich der Klavierklang etwas zu trocken erscheint. Eine schöne Abwechslung :hello:


    Gruß Niko

  • Pius schrieb:

    Zitat

    Den vierten Satz lasse ich stets aus, ich finde ihn nach den vorangegangenen Sätzen lächerlich und unpassend. Ich weiß nicht, was Chopin sich dabei gedacht hat. Der Schluß des 3. Satzes ist ein gutes Ende, finde ich.


    Schon seltsam wie unterschiedlich man Musikstücke verstehen und empfinden kann. Ich selbst höre von der Sonate b-moll meistens nur den vierten Satz. Auch als Uwe und ich uns bei einem der letzten gemeinsamen Hörabende diese Sonate vorgenommen haben, haben wir die Einspielungen nur anhand des letzten Satzes verglichen (gehört haben wir: Andsnes, Ashkenazy, Horowitz, Pogorelich, Rachmaninoff und Sokolow).


    Was der vierte Satz bedeuten soll, fragt Pius. Joachim Kaiser gibt in dem Buch "Kaisers Klassik, 100 Meisterwerke der Musik", folgende Antwort (ich zitiere nur die relevanten Ausführungen zu den Sätzen drei und vier):


    "Dann folgt der "Trauermarsch", der alles ins Düstere zwingt. Er wurde zur meistgespielten, von Blaskapellen bei Begräbnissen vorgetragenen, Trauermusik der Musikgeschichte. "Nun trinkt er kei-heinen Rotwein mehr", skandierten die Trauernden insgeheim zur Melodie, wenn wieder einmal zu Chopins Tönen ein alter Kamerad zu Grabe getragen wurde. Man hört in diesem Trauermarsch Trommelwirbel und Salven, ein erhaben monotones Schreiten und eine paradiesisch tröstliche Melodie im Trio.


    Was darauf als Finale folgt, ist nicht mehr fasslich. Leise Prestotriolen. Über Kategorien wie "Trost" oder auch "Verzweiflung" scheint diese fürchterliche Musk hinaus. Fahl, gestaltlos, wahnsinnig und umtriebig reagiert das Finale auf die Todesbotschaft des Trauermarsches. Der Satz ist kaum spielbar. Ganz leise bleiben, monoton, gleichsam seelisch tot: wie sollen lebende Interpreten das schaffen?"


    Soweit Kaiser. Ob das die einzig mögliche Interpretation ist, mag dahinstehen. Mich jedenfalls überzeugt sie. Ich höre die Fahlheit, die Entsetzensmonotonie des vierten Satzes, höre gar den Wind über die Gräber pfeifen. So verstanden macht der vierte Satz Sinn.


    Nun haben wir oben einige Meinungen zum Gelingen und Nichtgelingen verschiedener Aufnahmen gelesen, nichts jedoch über das Verständnis des Werks, die Interpretationshaltung des jeweiligen Künstlers.


    Für mich, den die Interpretation Kaisers überzeugt, ist aber ein wesentlicher Beurteilungsmaßstab für das Gelingen einer Aufnahme, ob der jeweilige Künstler der genannten Interpretation gerecht wird.


    Wird er es nicht, muss das nicht schlecht sein, solange der Künstler mir etwas anderes anbietet, etwas zu sagen hat, und den Satz nicht nur als unangenehmes Anhängsel herunterspielt. Letzteres tut Pogorelich. Mag er technisch auch noch so viel leisten. Bei ihm bleibt der vierte Satz ein Fremdkörper, wirkt er unverstanden.


    Ganz anders bei Kaisers Top-Empfehlung: Horowitz Einspielung aus dem Jahre 1962 (es gibt noch eine aus 1950, mit dieser war Horowitz laut Kaiser später unzufrieden). Die von Kaiser beschriebene Stimmung des vierten Satzes findet hier nicht nur statt, sondern wird Ereignis. Eindrucksvoll! Beklemmend! Großartig!


    Ähnlich herausragend empfanden Uwe und ich übrigens die Einspielung Sokolows, die ich selbst nicht besitze und zu der ich mich deshalb nicht näher äußern möchte. Andnes und Ashkenazy wirkten im Vergleich zu Horowitz und Sokolow uninteressant und belanglos. Rachmaninoffs Aufnahme ist wegen der saumäßigen Klangqualität kaum genießbar.


    Ich selbst besitze die Horowitz-Aufnahme auf dieser CD:



    Neben dieser empfiehlt Kaiser übrigens Rubinsteins 1946-er Einspielung und die von Rachmaninoff.


    Liebe Grüße
    Thomas

  • Zitat

    Original von J. Kaiser zitiert von ThomasNorderstedt


    "[...] Man hört in diesem Trauermarsch Trommelwirbel und Salven, ein erhaben monotones Schreiten und eine paradiesisch tröstliche Melodie im Trio. [...]"


    Ich habe diese Dur-Passage (die es ja ganz ähnlich im Eroica-Trauermarsch und demjenigen von Beethovens Sonate op. 26 gibt) immer ganz anders verstanden: nämlich als positive Erinnerung an den verstorbenen Menschen, die als Kontrast zu den Moll-Passagen weniger tröstet, als vielmehr die Trauer noch verstärkt.

  • Hallo, miteinander!


    Seit ich den Trauermarsch kenne, seit ich ihn als 15jähriger geklimpert habe, assoziiere ich mit der Melodie des Mittelteils stets eher Vulgäres - Jahrmarktsgedudel, eine Kirchweihkapelle. Ich komme von diesem Beigeschmack affektiv nicht los, auch wenn ich mich längst als begeisterter Musikliebhaber davon intellektuell distanzieren kann.


    Wenn ich nur wüsste, warum das so ist!? ?(


    Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

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  • Zitat

    Original von Kontrapunkt


    Ich habe diese Dur-Passage (die es ja ganz ähnlich im Eroica-Trauermarsch und demjenigen von Beethovens Sonate op. 26 gibt) immer ganz anders verstanden: nämlich als positive Erinnerung an den verstorbenen Menschen, die als Kontrast zu den Moll-Passagen weniger tröstet, als vielmehr die Trauer noch verstärkt.


    Bei Chopin kann man sie wohl auf beide Weisen verstehen, ich neige jedoch auch eher zum Trost. In op.26 ist der Mittelteil allerdings ein recht plump-heroisches Geböller mit Trommelwirbeln, Trompetenstößen oder gar Salutschüssen. In der Eroica ist es in jedem Fall komplexer, gleich ob man der Prometheus-Deutung anhängt oder nicht.


    Etwas eigenwillig finde ich freilich, ein Stück zum Lieblingswerk zu küren, dabei aber einen Satz routinemäßig wegzulassen (zumal er keine 2 min dauert) ;)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo!


    Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Ich selbst höre von der Sonate b-moll meistens nur den vierten Satz.


    Reden wir von der selben Sonate? ?(
    Dann läßt Du ja mehr als 90% des Werks weg? ?(


    Sorry, aber ich konnte mit diesem 90-Sekunden-Satz am Schluß nie etwas anfangen...


    Zitat

    paradiesisch tröstliche Melodie im Trio


    Ja, das schließt sich ja mit der Ansicht von Kontrapunkt nicht aus.
    Aber letzlich "siegt" IMO das Trauermarsch-Thema.


    Zitat

    Im 3. Satz gerät der B-Teil bei ihr wesentlich länger als bei den anderen (über 4 Minuten, bei Horowitz und Rachmaninow unter 2 Minuten) – kann man hier denn variieren, wie oft man das 2. Thema wiederholt?


    Kann dazu jemand etwas sagen?


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Zitat

    Dann läßt Du ja mehr als 90% des Werks weg?


    Ja, ist mir bekannt. Nur mag ich den dritten Satz kaum noch hören, weil ich ihn als alzu totgenudelt empfinde. Den vierten Satz finde ich bei aller Kürze gerade wegen der oben beschriebenen gestalterischen Aufgabe so interessant. Es reizt mich zu hören, wie verschiedene Pianisten diese lösen.


    Freundlich grüßt
    Thomas

  • Es ist natürlich legitim, sich nur die ersten drei Sätze bzw. nur das Finale von Chopins b-moll-Sonate anzuhören. Seit Schumanns notorischem (schon weiter oben zitiertem) Ausspruch, Chopin habe hier "vier seiner tollsten Kinder" zusammengespannt, ist ja die Bezeichnung als Sonate immer wieder in Zweifel gezogen worden - Chopin hing es immer nach, angeblich nur ein "Meister der kleinen Form" zu sein.


    Ich habe das nie verstanden. Schon rein stimmungsmäßig liegen die vier Sätze in ihrer Düsternis doch sehr eng zusammen, viel enger als in der "klassischen" Sonate (man vergleiche nur das offensichtliche Vorbild von Beethovens op. 26!). Die meisten Probleme bereitet natürlich das Finale, ist es doch der radikalste Satz - in seiner Kürze, in seiner Verweigerung jeder fassbaren thematischen Gestalt. Vollständige Negation: ein überaus kühnes Gebilde. In die poetische Konzeption des Werks passt dieses "Finale" im Wortsinn jedoch nahtlos: Rubinstein hat es bekanntlich als "Sausen des Windes über den Gräbern" bezeichnet, also als Reaktion auf den im Trauermarsch thematisierten Tod, als das, was noch übrigbleibt. Man kann auch Trauermarsch und letzten Satz als zwei gegensätzliche, komplementäre Gestaltungen des Themas "Tod" verstehen: total ritualisierte Trauer im dritten Satz (selbst der "Trost" des Mittelteils wirkt auf mich stark ritualisiert), vollständige Auflösung, amorphe Klanglichkeit im Finale (das weist von ferne voraus auf den Zusammenhang der ersten beiden Sätze von Mahlers Fünfter). Die zwei ersten Sätze der Sonate steuern in dieser Sichtweise direkt auf den Tod zu.


    Diese im Sinne der Romantik poetische Konzeption ist jedoch nicht alles. Man kann die Einheit der Sonate auch ganz nüchtern-analytisch nachvollziehen. Ein Aufsatz, den ich vor einiger Zeit mal gelesen habe, weist nach, dass die Sätze 1, 2 und 4 thematisch aus dem Material des (früher entstandenen) Trauermarsches resultieren. Ich habe die Analyse nicht mehr zur Hand, aber nochmal den Titel rausgesucht: Hartmuth Kinzler, "Chopins B-Moll-Sonate: Vier seiner tollsten Kinder - genetisch verwandt? Spekulative Überlegungen zum inneren Zusammenhang des Werkes sowie weitere analytische Beobachtungen", in: Ad Parnassum, 2. Jg. (2004), H. 4 (Oktober), S. 73 - 129.


    Bei Liszts h-moll-Sonate ist der Kontrast zwischen der an der Oberfläche scheinbar frei schweifenden Form(losigkeit) und der bei näherem Hinsehen und -hören extrem verdichteten Struktur noch stärker ausgeprägt. Aber schon bei Chopin geht das in eine ähnliche Richtung: Fantastisches "Schweifen" und enge Verzahnung bedingen einander. Man sollte die musikalische Romantik nicht unterschätzen.



    Zitat

    Original von Pius


    Kann dazu jemand etwas sagen?



    Der Mittelteil ist ja wie der gesamte Satz ABA' aufgebaut (jeder Teil umfasst acht Takte - starre Symmetrie allerorten). Sowohl für A (Takt 31-38 ) als auch für B und A' (Takt 39-54) ist jeweils eine Wiederholung vorgeschrieben. Ohne die Aufnahmen von Rachmaninow und Horowitz zu kennen: Ich vermute, die beiden Herren lassen einfach die Wiederholungen aus - in den verflossenen Zeiten wurde das bekanntlich etwas laxer gehandhabt, da gab's noch keinen Khampan, der den Interpreten auf die Finger gehauen hat. :D



    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich habe Schumanns Rezension noch einmal nachgelesen: Es ist wie immer gefährlich, einzelne griffige Sätze herauszupicken. Ich habe nicht die Zeit, sie hier komplett einzutippen und bitte deshalb um Lektüre (mein Texterkennungsprogramm kann altdeutsche Schrift nicht lesen). Schumann findet die Stücke nicht schlecht, nur das, was man seit Beethoven mit einer Sonate bzgl. Form etc. verbindet, kann er nicht erkennen, deshalb die 4 tollen Kinder. Bei seiner Wertschätzung und Freundschaft für Chopin kann er sich es auch erlauben, eine solche Rezension zu schreiben: Wer A sagt (Sonate) muss auch B sagen (also eine Sonate schreiben, deren Sätze formell und inhaltlich über mehr als nur sie Tonart verbunden sind).
    Was Schumann nicht wusste: Chopin hatte den Marche funèbre schon eine Weile im Repertoire, als er beschloß, ihn als dritten Satz einer Sonate zu verwenden. Warum er unbedingt ein so zu bezeichnendes Werk veröffentlichen wollte ... als 4 Capricen o.ä. würden sich hier nicht die Geister um sie streiten.


    Was die o.ä. hörbare Kraftschöpfung des Pianisten angeht: Janusz Olejniczak schreibt zu Recht, Chopin müsse auf dem richtigen Klavier gespielt werden. Auf einer leichtgängigen Mechanik des 19. Jahrhunderts ist alles viel leichter, und macht z.T. klanglich Alles viel stimmiger - siehe Olejniczaks Aufnahme des Marche auf einem Pleyel von 1831, der geradezu zauberhaft klingt. (Auch Franz Liszt hat sehr Genaues über Chopins Bevorzugung der Pleyel-Klaviere geschrieben.)
    Leider hat er nicht die ganze Sonate aufgenommen, aber auch so ist seine CD "Evening around 1831" auf Opus 111 ein Muß, wie der Film "La note bleue", zu dem diese CD gehört - meiner Ansicht nach sollte man schon einiges über Chopins Leben wissen, um seine Zerissenheit ob der Ereignisse in seiner polnischen Heimat: "Im Salon spiele ich den Ruhigen, aber zu Hause donnere ich auf dem Klavier" - und weniger die eigenen romantsichen Gefühle als Hörer auf diese Musik projizieren.
    Chopins Kompositionen sind doch eher notierte (geniale) Improvisationen und als solche genial - Formgenialitäten im Beethovenschen Sinne sollte man von ihm nicht erwarten - und den Titel "Sonate" nicht so gewichtig nehmen ...


    2 Mal editiert, zuletzt von miguel54 ()

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  • Zitat

    Original von miguel54
    Ich habe Schumanns Rezension noch einmal nachgelesen: Es ist wie immer gefährlich, einzelne griffige Sätze herauszupicken. Ich habe nicht die Zeit, sie hier komplett einzutippen und bitte deshalb um Lektüre (mein Texterkennungsprogramm kann altdeutsche Schrift nicht lesen). Schumann findet die Stücke nicht schlecht, nur das, was man seit Beethoven mit einer Sonate bzgl. Form etc. verbindet, kann er nicht erkennen, deshalb die 4 tollen Kinder.


    Eine gute Frage wäre, ob aus heutiger Perspektive Schumanns Klaviersonaten wirklich näher an Beethovenschen Modellen sind als Chopins ;)


    Zitat


    Chopins Kompositionen sind doch eher notierte (geniale) Improvisationen und als solche genial - Formgenialitäten im Beethovenschen Sinne sollte man von ihm nicht erwarten - und den Titel "Sonate" nicht so gewichtig nehmen ...


    Chopins Kompositionen sind mit großer Sicherheit keine notierten Improvisationen, sondern ähnlich "durchkonstruiert" wie die Beethovens, dessen Sonaten und Sinfonien den Zeitgenossen ja ebenfalls teilweise eher als freie und wilde Fantasien erschienen.
    Leider lassen meinen musiktheoretischen Kenntnisse keine vernünftige Zusammenfassung zu, aber ich empfehle die Chopin gewidmeten Abschnitte aus Charles Rosens "The Romantic Generation" (Cambridge, MA 1995, dt. "Musik der Romantik"). Chopins Grundlage war vor allem anderen eine an Bach geschulte Satztechnik. Rosen beschreibt das Finale als "einstimmige Invention".


    "Ein Extrempunkt Chopins handwerklicher Fähigkeit ("craft") ist das monophone Finale der b-moll-Sonate, das Schumann und andere Musiker so verstörte. Das Beunruhigende an solch einem Stück (und es hat bis heute etwas von seiner Schockwirkung behalten)ist, daß gewisse Elemente der Kunstmusik beinahe auf Null reduziert werden; dies befähigt uns allerdings klarer zu sehen, wie die anderen Elemente funktionieren und wie sie eingesetzt werden können, um die Funktion derer zu übernehmen, die verschwunden sind." (285 ff. der engl. Ausgabe)


    Als eher noch extremere und Passage diskutiert er zunächst den Mittelteil der Polonaise fis-moll op.44: "...die Wirkung ist so perkussiv wie es kaum ein Komponist der Zeit gewagt hätte. Die vier 32tel in jedem Takt imitieren einen Wirbel der kleinen Trommel und die Achtel, die am Ende des Taktes folgen harte Paukenschläge...." (289) Das ganze wird ca. 20mal wiederholt.
    Die Analyse des Finales folgt S. 294 -302. Um das komplett zu verstehen oder gar zusammenzufassen fehlen mir die Kenntnisse in Harmonielehre.


    Zum Wind über den Gräbern schreibt Rosen, dass dieser Effekt zum Teil auf übermäßigen Pedaleinsatz zurückginge, aber die Anweisungen verlangen Pedal nur im Schlußtakt (was lt. Rosens Lehrer Rosenthal, der bei Chopins Schüler Mikuli studiert hatte, authentisch ist). Dennoch ist rasche chromatische Bewegung traditionell mit Wind assoziiert, wobei Chopin explizit programmatische Deutungen seiner Werke strikt abgelehnt haben soll:
    "Die große Kunst der romantischen Generation war, die Existenz eines Programms zu implizieren, ohne dessen Details in einem spezifischen außermusikalischen Sinn umzusetzen. Die emotionale Kraft dieses Finales ist deutlich genug: Der Eindruck von Schrecken und Angst nach dem Trauermarsch ist zu passend, um inhaltliche Details zur Unterstützung zu benötigen. Die Kraft rührt von der kompositorischen Dichte, von Chopins Weigerung her, Kompromisse zur Bequemlichkeit des Hörers einzugehen, eine Erlösung vom durchgehenden pianissimo, der extremen Geschwindigkeit, den schnellen Harmoniewechseln, die das Ohr durch die Bewegung einer einzelnen Linie erfassen muß, zu gewähren. Die Intensität, die außerordentlichen Anforderungen an die Konzentration des Zuhörers, sind hypnotisch." (298 )


    :hello:


    JR

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    I knew the night had gone.
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    (Bob Dylan)

  • Die zweite Sonate von Chopin ist ein Werk, das mich schon lange begleitet und ich schätze heute noch vor allem den ersten und letzten Satz.


    Höre das Werk aber kaum noch, da es kaum Interpretationen gibt, die mir zusagen. Eine allerdings gibt es, die für mich großartig ist: Halina Czerny-StefaDska mit einer Live-Aufnahme vom Chopin-Wettbewerb; ich besitze diese Aufnahme in einer seltsamen Kassetten-Box (leider zur Zeit in der Steiermark, ich in Wien) in der - soweit ich mich erinnern kann - nur Chopin-Wettbewerb-Aufnahmen von verschiedenen Pianisten zu finden sind.
    Es gibt da im ersten Satz eine unglaubliche Stelle, die ich nie wieder annähernd so gehört habe und die für mich zu den schönsten Momenten Klaviermusik überhaupt gehört. Überhaupt wird der erste Satz da richtig zelebriert, während ich bei anderen Interpretationen meist das Gefühl habe, daß der Pianist so schnell wie möglich zum dritten kommen möchte.


    Leider nicht besonders detailliert das Ganze, ich weiß, aber vielleicht kennt ja jemand diese Aufnahme und kann sich vorstellen, was ich meine.


    Liebe Grüße, BFB.

  • Die befriedigenste Erinnerung an eine Interpretation habe ich live, und zwar an ein Konzert mit Krystian Zimerman Anfang der 90er Jahre, in dem er eine überwältigende Interpretation bot, die stilistisch seiner großartigen späteren Einspielung der Klavierkonzerte nahestand.


    Mich wundert schon, bei allem Wissen um die Unberechenbarkeit des Künstlers, dass Zimerman gerade dieses Werk nie eingespielt hat. Weiß jemand zufällig mehr ? Gab es ggf. schon ein (gecanceltes) Projekt o.ä. ? Angeblich liegen ja einige Zimermanaufnahmen im DGG-Panzerschrank, die nicht freigegeben wurden.


    Gruß
    Sascha

  • Hallo,


    Panzerschrank der DGG liegt noch so einiges. In einem Interview hat Herr Zimerman angedeutet, dass er laut seines Vertrages mit der DGG aus dem Jahr 1975 noch zu 3 bis 5 Veröffentlichung verpflichtet ist. Es läßt vermuten, dass noch einige live-Einspielungen von Ihm existieren. Warten wir es ab....


    Gruß Niko

  • Liebe Forianer,


    angeregt von Holger Kalethas ausführlichster Besprechung von Maurizio Pollinis neuem Chopin Recital (siehe hier) habe ich mir in den letzten Tagen einige Aufnahmen dieser Sonate angehört. Ganz vorne agieren für mich Rubinstein (live in Moskau, kann man jetzt übrigens bei amazon downloaden, die Aufnahme war ja lange vergriffen und sehr teuer) und ABM (auch live). Leider sind die ABM-Aufnahmen (alle live, bspw. BBC Legends oder Aura/Lugano) klanglich von eher minderer Qualität. Sehr schade.


    Dabei bin ich nun aber auch auf eine wirklich kuriose Aufnahme gestoßen. Sie stammt von Dejan Lazic, der in letzter Zeit mit Aufnahmen unter anderem von Ramachaninoff #2 (!) und Schumann/Brahms auf sich aufmerksam gemacht hat. Seine Chopin-CD stammt von 2000:



    Lazic jedenfalls spielt den ersten Satz mit Wiederholung in unglaublichen 6:40! Pollini etwa braucht auf seinem jüngsten Recital 7:34. Ich kenne eigentlich keine Aufnahme mit Wiederholung unter 7 Minuten. Erstaunlicherweise vermag Lazic trotz des irrsinnigen Tempos den Anweisungen des Notentexts ziemlich genau folgen (habe das allerdings nur auf den ersten beiden Seiten verfolgt). Das Grundthema des ersten Satzes klingt durch dieses Tempo völlig entstellt, man erkennt es wirklich nicht wieder. Dem ersten fassungslosen Anhören folgt dann nicht von ungefähr die Ernüchterung: das ist einfach gewollt auf Tempo gespielt, hier scheint jemand lediglich demonstrieren zu wollen was er kann, musikalisch macht das kaum Sinn. Oder?


    Es ist mir ein Rätsel, wie ein ansonsten so famoser Pianist (vgl. seine Schubert Aufnahme von D.960!) so etwas passieren kann. Man muss das wirklich gehört haben (ist in Ausschnitten bei amazon möglich).


    Kennt denn sonst noch jemand diese Chopin-Aufnahme von Lazic? Die anderen Sätze haben nach erstem Durchhören das von ihm gewohnte Format: über alle Register kraftvolles und klangsensibles Klavierspiel mit eigenen Akzenten&Lösungen, die aber nie um ihrer selbst willen formuliert scheinen. Der erste Satz fällt völlig aus der Reihe.


    Viele Grüße,
    Christian

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  • Lieber Johannes ,


    meines Wissens genoss Mikuli am Ende von Chopins Leben dessen ganzes ( musikalisches ) Vertrauen .


    Daher dürfte der Hinweis auf den letzten Takt der Sonate zutreffend sein wie Charles Rosen ihn beschreibt .


    Ein kurzer Satz zu Robert Schumann und Frédéric Chopin :


    Chopin konnte mit den Werken für Klavier solo von Schumann nichts anfangen und ist ihm auch eher in ungewöhnlicher Form gegenüber getreten ( anders war dies gegenüber Clara Schumann ! ) . Für Robert Schumann war das meiste von Chopin fremd .


    Direkte Vergleiche zwischen den Sonaten der beiden halte ich für höchst problematisch .


    Viele Grüsse ,



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Im Thread über die 3. Chopin-Sonate h-moll hat sich die folgende Diskussion über Horowitz Interpretation der b-moll-Sonate gewissermaßen „versteckt“, zu der ich nicht zuletzt wegen der Frage der Gestaltung des Presto-Finales hier „am rechten Ort“ einen Beitrag leisten möchte – ich arbeite seit über einem Jahr an einem großen historischen Interpretationsvergleich der b-moll-Sonate. „PianoForte29“ schrieb:


    Zitat

    Original von PianoForte29 „Ich möchte mich in Bezug auf op.35 ausnahmsweise auf eine abratende Empfehlung beschränken, um zu sagen, wie man diese Sonate nach meinem Dafürhalten gerade nicht spielen soll: Es ist eine der späten Aufnahmen des m.E. weit überschätzten Wladimir Horowitz. Seine Deutung mag zwar einen Eindruck davon vermitteln, wie die Sonate möglicherweise der große Liszt um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu Gehör brachte und damit sein Publikum in helles Staunen versetzte, aber vom Standpunkt der Werktreue her betrachtet kann man Chopins 2. Sonate kaum weniger gerecht werden als Horowitz! Das artet zu großen Teilen in pure Effekthascherei aus - Vergleiche mit Zirkusnummern sind erlaubt - , unternimmt kaum jemals den Versuch, die formalen Strukturen der Sonate hörbar zu machen, und schon gar nicht den Versuch, die zahlreichen Anweisungen des Komponisten zu befolgen.“


    Diesem Urteil über Horowitz hatte ich widersprochen nicht zuletzt mit Blick darauf, dass der Meister zwei völlig gegensätzliche Aufnahmen hinterlassen hat: einmal die hochtheatralische RCA-Studioaufnahme von 1950, aber auch die hochpoetische Deutung von 1962 (CBS), die auf jede wirkungsorientierte Theatralisierung verzichtet – für mich eine der absoluten Sternstunden der Diskographie überhaupt. „PianoForte29“ bezieht sich auf das Horowitz-Konzert im Weißen Haus 1978 auf Einladung des damaligen Präsidenten Jimmy Carter, ein Fernsehmitschnitt, der leider nie auf CD oder LP veröffentlicht wurde. Dankenswerter Weise gibt „PianoForte29“ den Hinweis auf die folgende Quelle: http://www.clavio.de/Klavierso…2-b-Moll-op-3.1549.0.html Seine These, dass es Horowitz um nichts anderes als Effekthascherei geht, versucht „PianoForte29“ insbesondere durch Horowitz angeblich „sündhaft“ geschwinden Vortrag des Presto-Finales zu belegen:


    Zitat

    Original von PianoForte29
    “Und im IV.Satz schließlich "sündigt" Horowitz besonders! Davon kann sich jeder Besitzer der Henle-Ausgabe der Sonate leicht überzeugen, indem er versucht, den dort angegebenen Fingersatz (Henle-Fingersätze sind m.E. in aller Regel die besten und ausgeklügeltsten, wobei es auch hier Ausnahmen gibt) auch nur annähernd im 1962er-Tempo zu spielen. Es ist schlechterdings nicht möglich! Selbst wenn man annimmt, Horowitz habe sich einen eigenen Fingersatz auf den Leib geschrieben (er war ja bekannt für seine Eigenbearbeitungen zwecks höherer Schwierigkeit), steht für mich fest, dass sein Fingersatz, falls überhaupt, nicht so entscheidend besser als derjenige von Henle gewesen sein kann, dass ein Großteil der Töne der li. Hand, dem man angesichts des wahnwitzigen Tempos im Zusammenwirken mit dem nebulösen „Pedalteppich“ mit bloßem Ohr nicht folgen kann, nicht entweder unsauber oder nicht parallel zur re. Hand gespielt ist.
    M.a.W. verfährt Horowitz wieder einmal nach der Methode ‚Der Zweck heiligt die Mittel’. Denn sein Zweck ist im Bereich der expressiven romantischen Klaviermusik die unbedingte Grandezza „auf Teufel komm raus“, das auf Effekte lauernde Virtuosentum. Und um diesen Zweck zu erreichen, opfert er sowohl die Vollständigkeit bzw. Sauberkeit einzelner Töne wie v.a. die Werktreue, d.h. die konsequente Umsetzung der Anweisungen des Komponisten für Phrasierung, Dynamik und Tempo.“


    Die Behauptung, dass der Virtuose Horowitz hier allein schon des Tempos wegen auf „Effekte lauert“, kann nun ganz nüchtern mit Blick auf die messbare Aufführungsdauer widerlegt werden. Horowitz´ Tempogestaltung ist nicht mehr als „Durchschnitt“, der – wie die folgende einigermaßen repräsentative Aufstellung zeigt - , bei 1.30 min. liegt. Horowitz benötigt 1.25 bzw. 1.26 min – dieses Tempo entspricht exakt dem seines Antipoden Artur Rubinstein sowie solch betont moderner, „neusachlicher“ Interpreten wie Maurizio Pollini oder Murray Perahia. Nicht Horowitz fällt hier aus dem Rahmen, sondern die „Deutschen“ Wilhelm Backhaus und Wilhelm Kempff. Kempff mit einer Aufführungsdauer von nahezu 2 Minuten bildet das Schlusslicht des Feldes. Lazar Berman berichtet über seine Konservatoriumszeit, dass dort ein „sportlicher“ Wettbewerb herrschte in der Meisterklasse, dieses Presto-Finale sogar unter 1 Minute zu spielen. Daß dies alles andere als „schlechterdings nicht möglich“ ist, beweisen die pianistischen Perfektionisten Arturo Benedetti Michelangeli und Emil Gilels mit einer wahrlich atemberaubenden, „transzendentalen“ Virtuosität, die Ihresgleichen sucht:


    1. (1.09) Arturo Benedetti Michelangeli (Prag 1960)
    2. (1.13) Emil Gilels (Moskau 1949 u. 1961)
    George Cziffra (Ascona 1963)
    3. (1.17) Arturo Bendetti Michelangeli (Lugano 1968 ), lang ausgehaltener Schlußakkord!
    4. (1.19) Artur Rubinstein (RCA 1946)
    Adam Harasiewicz (Decca 1958 )
    5. (1.23) Maurizio Pollini (DGG 1985)
    Artur Rubinstein (RCA 1961)
    Vladimir Horowitz (CBS 1962)
    6. (1.25) Sergei Rachmaninow (RCA 1930)
    Arturo Benedetti Michelangeli (RAI (TV) 1962)
    Murray Perahia (CBS 1974)
    7. (1.26) Martha Argerich (DGG 1975)
    Vladimir Horowitz (RCA 1950)
    8. (1.27) Daniel Barenboim (EMI)
    9. (1.29) Leif Ove Andsnes (EMI)
    10. (1.32) Alexis Weissenberg
    11. (1.34) Alfred Cortot (1933)
    12. (1.35) Helene Grimaux (DGG 2005)
    13. (1.44) Wilhelm Backhaus (1950 od. 1953)
    14. (1.53) Wilhelm Kempff (Decca 1958 )


    Seinen Einwand gegen das Horowitz-Tempo bekräftigt „PianiForte29“ noch einmal und ergänzt ihn durch den Hinweis auf die berühmte Rezension von Robert-Schumann.


    Zitat

    Original von PianoForte29 „Seine „Sünde“ beschränkt sich auf das Tempo (1978 schafft er es gewissermaßen bis in die „Hölle“ der Werktreue, 1962 nur ins „Fegefeuer“). Klar, denn abgesehen von Tempo und Fingersatz ist dieses Ende ja nur „Gerippe“ (man könnte hinzufügen „zweier symmetrischer Brustkörbe“).
    Frank G. Bechynas Avatar-Patron meinte spöttisch, aber treffend: „Das ist keine Musik“! (Vermutlich war ihm inzwischen bewusst, dass Chopin die Verehrung seines Oeuvres nicht erwiderte, was eine der wenigen großen Schwachpunkte des Franko-Polen ist.)“


    Gerade dieser Hinweis auf Robert Schumann kann deutlich machen, dass das virtuose Tempo hier alles andere als bloßer Effekt ist, vielmehr der Absicht des Komponisten entspricht und damit die Sorge gerade auch der Virtuosen um „Werktreue“ erkennen lässt. Schumann hatte geschrieben, dieses Presto-Finale gleiche „eher einem Spott als irgendeiner Musik“. Was hier verspottet wird, ist jegliche Suche nach musikalischem Sinn. Bei Suhrkamp erschien 2001 der stw-Band „Musikalischer Sinn“. Einer der Herausgeber, Alexander Becker, bezieht sich in seinem Beitrag „Wie erfahren wir Musik?“ auf dieses Presto-Finale – sogar der komplette Notentext wird abgedruckt als exemplarisches Scheitern für die Suche nach formalen Sinnzusammenhängen: „Dem Satz fehlt also alles, was eine strukturierte und nachvollziehbare Form ausmachen könnte.“ Becker bezieht sich auf die Analyse von Charles Rosen „The Romantic Generation“ (1995). Rosen zeigt, dass dieses Finale zwar in Grundrissen eine Sonatensatzarchitektur erkennen lässt, diese aber von Chopin ganz bewusst „bis zur Unkenntlichkeit“ verwischt werde. Genau diesem Unkenntlichmachen der formalen Struktur dient letztlich das extreme virtuose Tempo an der Grenze der Ausführbarkeit, das Chopin hier offenbar sucht, um damit sein Ziel, einen verwirrenden, aporetischen Schluß zu komponieren, zu verwirklichen. Eine gelungene Interpretation zeigt sich somit, indem der Interpret sich ähnlich wie der Aquarellmaler auf der Grenze von Kontur und Konturlosigkeit bewegt. Weder eine ganz und gar „nebulöse“ Darstellung (Beispiel: Ivo Pogorelich) noch eine betont langsame, nur die Konturen nachzeichnende, wird Chopin deshalb wirklich gerecht. Hier hat Joachim Kaiser („Chopin und die Sonate“) zweifellos Recht mit seiner Warnung an die Interpreten, das Verstörende dieses Presto-Finales nicht durch das Hineininterpretieren von (dramatischem oder formalem) Sinn in die Sinnlosigkeit zu eliminieren und damit Chopins Musik gleichsam den die Konventionen sprengenden, aufrührerischen „Stachel“ zu nehmen.


    Beste Grüße
    Holger

  • Deine Liste scheint mir sehr schlüssig zu zeigen, dass Horowitz Tempo (ich kenne die Interpretation nicht) überhaupt nicht aus der Reihe schlägt. (Ich hätte, als ich die Diskussion sah, spontan gesagt, dass das Finale doch immer ca. 85-90 sec. dauert, habe aber selbst natürlich nicht so viele Aufnahmen.)


    Allerdings verstehe ich Becker (den ich flüchtig kenne, den Mitherausgeber, M. Vogel, sogar ganz gut) nicht so recht, wenn er den Rosen gelesen hat. Der Punkt bei Rosen scheint mir zu sein, dass das Finale tatsächlich sehr streng gebaut ist, nämlich als "einstimmige Invention" in einer rudimentären Sonatenform ohne eigentliche Durchführung, aber mit der Bewegung zur Dominante und zurück.
    Dass es dennoch wie "Wind über den Gräbern" wirken kann oder soll, ist ja kein Widerspruch.
    Selbst wenn es sich hier um einen extremen Fall handelt, so fand sich bei Zeitgenossen der Vorwurf der Formlosigkeit ja auch schon gegenüber Beethoven. Nicht nur bei der "chinesischen" Fuge op.133, sondern selbst ein fortschrittlicher Komponist wie C.M. v. Weber befand Beethoven für irrenhausreif, nachdem er die 7. Sinfonie gehört hatte. Nur ist in diesen Fälln die Strenge der Konstruktion bei aller Wildheit recht leicht zu sehen. Chopins Finale ist hier um einiges extremer.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Allerdings verstehe ich Becker (den ich flüchtig kenne, den Mitherausgeber, M. Vogel, sogar ganz gut) nicht so recht, wenn er den Rosen gelesen hat. Der Punkt bei Rosen scheint mir zu sein, dass das Finale tatsächlich sehr streng gebaut ist, nämlich als "einstimmige Invention" in einer rudimentären Sonatenform ohne eigentliche Durchführung, aber mit der Bewegung zur Dominante und zurück.


    Hallo Johannes,


    interessant, ich werde Becker und/oder Vogel hoffentlich bei nächster Gelegenheit auch persönlich kennenlernen. Was sie machen, ist ja nun sehr fundiert und gefällt mir sehr! Ich verstehe Becker so, daß - wie der Titel seines Aufsatzes sagt - es ihm primär um die Erfahrbarkeit von Sinn geht, nicht so sehr um das, was sich musikwissenschaftlich-analytisch rekonstruieren läßt. Das scheint ja auch Rosen sagen zu wollen: Niemand von uns hört hier wirklich eine Sonatenform heraus, durch die "Verflüssigung" der Formarchitektur fixiert sich unsere Wahrnehmung vielnehr auf die bloße Masse von Tönen und ihren Bewegungseindruck, so daß wir eine solche Formarchitketur auch nicht als sinngebend erfahren können. Das grundsätzliche Problem, inwieweit das, was Gegenstand der musikwissenschaftlichen Analyse ist, auch wirklich dem Hörerlebnis entspricht, gehört im übrigen zu den Themen des Bandes.


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha


    interessant, ich werde Becker und/oder Vogel hoffentlich bei nächster Gelegenheit auch persönlich kennenlernen. Was sie machen, ist ja nun sehr fundiert und gefällt mir sehr! Ich verstehe Becker so, daß - wie der Titel seines Aufsatzes sagt - es ihm primär um die Erfahrbarkeit von Sinn geht, nicht so sehr um das, was sich musikwissenschaftlich-analytisch rekonstruieren läßt. Das scheint ja auch Rosen sagen zu wollen: Niemand von uns hört hier wirklich eine Sonatenform heraus, durch die "Verflüssigung" der Formarchitektur fixiert sich unsere Wahrnehmung vielnehr auf die bloße Masse von Tönen und ihren Bewegungseindruck, so daß wir eine solche Formarchitketur auch nicht als sinngebend erfahren können. Das grundsätzliche Problem, inwieweit das, was Gegenstand der musikwissenschaftlichen Analyse ist, auch wirklich dem Hörerlebnis entspricht, gehört im übrigen zu den Themen des Bandes.


    Ja. Das ergibt schon Sinn, wobei mir scheint, dass Rosen eben die Dialektik von "eigentlich" sehr strenger Form (eben keine freie Fantasie) und diesem Sinneseindruck deutlicher macht bzw. seine Argumentation eben besonders die Strenge und technische Fertigkeit von Chopin heraustellen möchte.
    Das noch extremere Beispiel Rosens ist eine Überleitungs-Passage in der großen fis-moll-Polonaise, wo ein perkussiver Trommeleffekt durch eine obsessive Wiederholung erzeugt wird. Das sind mir beinahe ein paar Wiederholungen zuviel des Guten...
    Man findet ja auch einige Etudes and Preludes, die einen ähnlichen "Sturmlauf" oder ein "Brodeln" darstellen wie dieses Finale, aber meistens gibt es wenigstens halbwegs greifbare Gestalten, selbst wenn die nur kurz aufblitzen.


    Ich sollte mir diesen Band endlich mal besorgen und lesen. :O Allerdings habe ich wenigstens Teile daraus schon im Sommer 06 vor der Drucklegung in einem Seminar bei M. Vogel kennengelernt. :D



    :hello:


    JR

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  • Lieber Holger :



    Auf die Spannungen zwischen Chopin und Schumann , die ja wechselseitig waren , hatte ich schon füher mehrfach bei Tamino-Klassikforum.at hingewiesen .


    Ich denke , wenn wir ca. 20 oder mehr verschiedene Interpretationen der b - Moll - Klaviersonate Opus 35 von Chopin hören , dass die gestoppte Zeit nicht sehr viel mit der "Richtigkeit " oder "Werktreue " zu tun hat . Zumal dann nicht , wenn wir sogar eine gestoppte "mittlere Interpretationszeit zugrunde legen der gehörten Aufnahmen .


    Zu bedenken bitte ich folgendes :


    Die Anekdote , die Lazar Berman erzählt hat , wird von ihm dann etwa in dem Mitschnitt seines Abends in der "Carnegie Hall " n i c h t
    annährnd mit der theoretisch vielleicht spielbaren Zeit von 1:00 Minuten für den Presto - Schlussatz umgesetzt .


    Cziffra spielt diesen Schlussatz ( EMI , Studio , Paris ,1978 ) mit 1 . 31 nach Deiner Definition im Normbereich , aber zwingend von der Wirkung auf mich .


    Michelangeli ( Prag , Juni 1960 , PRAGA - Edition , P : 1992 & 1998 ) spielt den letzten Satz mit 1: 15 Minuten schneller als die meisten mir bekannten Aufnahmen . Die anderen Sätze interpretiert er ( auch ) eher im doch eher willkürlich festzulegenden "Normbereich " einiger von Dir genannten Aufnahmen . ( Zeitangaben im Booklet : 7:05 ; 5:35 ; 8:50 ) .


    Shura Cherkassky spielt den letzten Satz in dem mitgeschnittenen Livekonzert mit 1:14:30 Minute so schnell wie Michaelangli . Dennoch hören wir deutlich den Unterschied . Cherkasskys Spiel wirkt - ganz im Gegensatz zu seinen mehreren ! - anderen Aufnahmen eher langsam . Hier weht allenfalls ein Windchen über Gräber . In der Editoon " Great Pianist of the 20th Century" ( Philips ) haben die Herausgeber dann zu Recht nicht diese Aufnahem ausgewählt .


    Es ist auch falsch , wenn allgemein, nicht von Dir , behauptet wird , dass Horowitz "alles" , "immer" , "besonders schnell" spiele . Es gibt umfangreiche Zeitmessungen anhand der h - Moll - Sonate von Franz Liszt , dass Horowitz mit seiner späten Aufnahme ( EMI ) mit exakt 30:00 Minuten laut Harold C. Schonberg, mit dem er eng verbunden war , nach dessen Ästhetik über die "richtige Interpretationszeit" - erwartungsgemäss - genau das richtige " Gesamtzeitmass" erreicht hat .


    Zum Vergleich : Martha Argerich und Alexis Weissenberg haben im Konzertsaal diese Sonate rund 5 Minuten (!!) schneller gespielt als auf ihren LPs / CDs . Der von Dir erwähnte und von mir sehr geschätzte Lazar Berman hat im Studio wie im Konzertsaal ca. 27:30 Minuten benötigt . Als Berman diese Sonate 1994 in der Düsseldorfer Tonghalle gespielt hat war seine Wiedergabe deutlich packender als in den mir damals bekannten Aufnahmen ( es gibt leider keinen Mitschnitt ) . Kann dieser bis heute erhalten gebliebene Eindruck das Ergebnis eines Hörerlebnises wie einer subjektiven Hörverabeitung
    sein , denn die gemessene Zeit war die seiner mir nekannten Aufnahmen .


    Über den Zusammenhang von ( erhoffter ) Interpretationsgeschwindigkeit und Wirkung auch auf besonders erfahrene Hörer hat Bryce Morrison sich in den 1990er Jahren verschiedentlich schriftlich geäussert . Eine interessante Frage hat Morrison dabei gestellt : warum spielen einige Pianisten, die dies technisch sauber könnten, nicht ein Extremtempo , sondern scheinen diese sogar zu vermeiden ( es ging in diesen Fällen um die Schumann - Klaviersonate Opus 22 ) .


    Beste Grüsse



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin


  • Lieber Holger,


    zwei Spielzeiten trage ich noch nach:


    (1:23) Ivo Pogorelich (DGG 1981)
    (1:27) Samson Francois (EMI 1964)


    Um Franks Beitrag direkt aufzugreifen: als ich diese beiden Zeiten gerade einfach nur nachtragen wollte ist mir aufgefallen, dass die Pogorelich-Einspielung der Sonate auf mich deutlich schneller gespielt wirkt als die Aufnahme von Samson Francois. Tasächlich ist Francois in Satz 1-3 schneller als Pororelich: 5:22 vs. 5:56, 5:20 vs. 6:23 und 6:27 vs. 6:33. Beim Presto verkehrt sich der Höreindruck: Francois wirkt schneller. Bei den Sätzen 1-3 wären ja noch Erklärungen denkbar (Pogorelich akzentuiert meiner Erinnerung nach doch einiges mit ungewohnten Pausen; ich müsst die Aufnahme aber einmal wieder hören). Aber beim Presto?


    Beste Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Mal etwas anderes.


    Als Klavierfan und Klavierlaie möchte ich allen Teilnehmern an diesem und auch am Chopin - Klaviersonate Nr. 3 - Thread für eure Beiträge danken. Sie sind für mich unglaublich informativ, verständlich und regen mich, vor allem auch was Fragen der Form oder der Interpretationsfreiheit angehen, sehr zum Nachdenken an. Diskutiert bitte auf diesem Niveau voller Sachkenntis und Professionalität weiter.


    :hello: Gustav

  • Lieber Frank, lieber Thomas,


    ich habe nur eine Auswahl zusammengestellt, es wäre zu viel Arbeit gewesen, alle Aufnahmen zu erfassen, die ich bisher gesammelt habe. Pogorelich und Francois habe ich natürlich auch! Besonders weil es der letzte Satz ist gibt es das Problem bei den vielen Konzertmitschnitten, daß da am Schluß der Beifall mit drauf ist. Da kann man sich gewaltig vertun! Bei ABM ist in Prag 1960 die Spielzeit 1.09 und nicht 1.15. Dieses Konzert ist eines, wo ABM überhaupt sehr zügige Tempi wählt, anders als in Lugano 1968. Aber auch da ist das Finale effektiv nicht langsamer, da er den Schlußakkord mit Fermate sehr lange aushält. Bei Cziffra hatte ich mich zuerst total verhauen beim Ascona-Mitschnitt: die auf der CD angegebenen 1.35 sind mit Beifall, 1.13 ist die reine Spielzeit! Daß er das in der Studioaufnahme deutlich langsamer spielt, ist mir natürlich auch aufgefallen.


    Beim Kopfsatz muß man aufpassen, da eine ganze Reihe von Interpreten die Expositionswiederholung auslassen. Deshalb sind die Zeiten nicht immer vergleichbar! Horowitz z.B. spielt 1950 die Expositionswiederholung, 1962 spart er sie sich!


    Frank, bei Berman glaube ich, daß er diesen "Sport" aus seiner Konservatoriumszeit als Jugendsünde abgetan hat. Es ärgert mich natürlich heute im Rückblick sehr, daß ich 1994 dieses Konzert verpaßt habe. Benedetti Michelangeli habe ich dagegen in der Düsseldorfer Tonhalle mit der b-moll-Sonate gehört 1986. Unglaublich "schwarz". In Erinnerung habe ich sagenhafte Tonabstufungen im Scherzo. Leider fehlt ein Mitschnitt von ihm aus dieser Zeit. Das ist wirklich ein Jammer! Warum hat das nicht irgend jemand einfach illegal aufgenommen wie dieser Mensch, der sein letztes Konzert in Hamburg mit dem DAT-Recorder auf dem Schoß einfangen konnte? Berman habe ich gehört in der Kölner Philharmonie, da hat er ein Programm mit u.a. Liszt und Prokofieff gespielt, aber nicht Chopin. Chopin führte er sowieso sehr selten auf, nicht etwa, weil er ihn nicht mochte, sondern wegen einer traumatischen Erfahrung aus seiner Jugendzeit, wie er in seiner Autobiographie schreibt.


    Insgesamt ist es so, daß der Charakter bei der Interpretation des Presto-Finales natürlich nicht allein vom Tempo abhängt. Das zeigt EMil Gilels. Obwohl in den verfügbaren Mitschnitten die es gibt er fast traumwandlerisch immer dasselbe Tempo trifft - das ist wahrlich verblüffend, unterscheiden sie sich erheblich: Es gibt einmal einen sehr klassisch-gefaßten Vortrag aber auch einen sehr unruhig-beunruhigenden.


    Beste Grüße
    Holger

  • Hallo, liebe Chopin-Freunde,


    meine Chopin-Sammlung ist noch sehr überschaubar, obwohl ich jetzt im Chopinjahr in der Beziehung schon etwas munterer geworden bin.
    Da ich jedoch von jeher ein großer Bewunderer von Arthur Rubinstein gewesen bin, habe ich natürlich auch die 2. Sonate von ihm, und zwar ist sie in der 11-CD-Box ja gleich zweimal vertreten, einmal in einer Aufnahme aus meinem Geburtsjahr, 1946, und einmal die Aufnahme von 1961, in der er alle Sätze etwas gemächlicher nimmt, kein Wunder, ist er da ja auch schon 74 Jahre alt, aber das Finale spielt er mit 59 Jahren nur wenige Sekunden schneller, nur die anderen drei Sätze erheblich schneller. Interessant ist noch ein anderer Vergleich: ich habe nämlich auch die Gilels-Aufnahme von 1949, sie sind beide großartig, aber mir ist aufgefallen, dass Gilels die beiden ersten Sätze fast exakt so schnell (oder so langsam) spielt wie Rubinstein in seiner Aufnahme von 1961, nur das Lento nimmt Gilels erheblich langsamer als Rubinstein. Hier die Vergleichszeiten:
    1. Satz:
    Rubinstein 1946: 4:57,
    Rubinstein 1961: 5:36,
    Gilels 1949: 5:35,
    2. Satz:
    Rubinstein 1946: 5:42,
    Rubinstein 1961: 6:35,
    Gilels 1949: 6'38,
    3. Satz:
    Rubinstein 1946: 8:40,
    Rubinstein 1961: 8:56,
    Gilels 1949: 9:30,
    4. Satz:
    Rubinstein 1946: 1:17,
    Rubinstein 1961: 1:22,
    Gilels 1949: 1:11.
    Ich weiß nicht, warum Gilels hier den Schlussatz so schnell spielt, da gibt es andere, die besser darüber Bescheid wissen, aber ansonsten passt das gut in das Bild, das ich von Gilels habe, der zum Beispiel in den Beethovensonaten auch deutlich langsamer ist als etliche andere Pianisten, deren Gesamteinspielungen ich auch in meiner Sammlung habe, seien es Gulda, Backhaus, Kempff oder Brendel. Nur Arrau ist nochmals langsamer.
    Nun aber zurück zu Chopin: Pollini, dessen 85er Aufnahme der b-moll-Sonate ich auch habe. Dessen Tempogestaltung ist wiederum ganz anders als die anderen drei Beispiele.
    Er nimmt den Kopfsatz deutlich langsamer, als es in den anderen drei o.a. Beispielen der Fall ist. Das Scherzo hingegen ist zwar langsamer als beim frühen Rubinstein, aber schneller als beim späteren Rubinstein und bei Gilels.
    Im Lento dagegen ist er nicht nur schneller als der spätere Rubinstein und Gilels, sondern sogar schneller als der frühe Rubinstein.
    Erst im Presto deckt er sich fast mit beiden Rubinstein Aufnahmen, langt aber nicht an den Husarenritt Gilels' heran.
    Dennoch mag ich auch diese Aufnahme.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Man muss bei den Spielzeitvergleichen beim Kopfsatz wegen der Wdh. aufpassen (ca. 5:30 ohne, ca. 7 mit), evtl. auch beim Scherzo. Besonders aber gehen unterschiedliche Interpreten natürlich in den ersten drei Sätzen recht unterschiedlich mit Rubato und Temposchwankungen um, besonders in Abschnitten wie 2. Thema im Kopfsatz, Trio des Scherzos, Mittelteil und gesteigerte Wiederholungen im Trauermarsch. Ich kann momentan leider meine Aufnahmen nicht vergleichen, aber beim Trauermarsch reicht das Spektrum von einem Tempo, zu dem man noch marschieren könnte bis hin zu einem, bei dem einem die Beine einschlafen (was ja nicht zwangsläufig verkehrt sein muss, es soll ja niemand tatsächlich dazu marschieren).
    Interessanter scheint mir eher die Tempofrage im Kopfsatz; ich kann wie gesagt, gerade nicht vergleichen, aber den habe ich wohl in einem eher breiten Tempo (Sokolov) kennengelernt, daher kommt er mir oft ein wenig zu hektisch vor.


    Ich muss übrigens auch zugeben, das Finale noch immer einigermaßen verstörend zu finden. Die ersten drei Sätze mochte ich sofort, als ich das Stück kennenlernte, der Trauermarsch hat allerdings mehr Abnutzungspotential als der Rest. (Ich mag den langsamen Satz der h-moll-Sonate etwas lieber, dafür bevorzuge ich das Scherzo der b-moll bei weitem gegenüber dem quirligen Es-Dur-Satz in der 3., den ich ein wenig als Fremdkörper empfinde.)


    Charles Rosens Kommentar zum Finale der b-moll habe ich übrigens weiter oben im Thread recht ausführlich referiert/zitiert.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Liebe Chopin - Freunde :



    SOKOLOV ( Paris , 10. XI. 1992 , Studio , Salle Gaveau ; "naive" )


    7:50
    7:15
    9:53
    1:32


    BERMAN ( New York , Livemitschnitt , 03 / 1979 , SONY: 1980)


    7:39
    7:32
    8:43
    1:46 (!)



    CORTOT ( Rec.: 8. VII. 1933 , London ; "The Piano Library" , Italien )


    4:54 *
    4:27 **
    6:35 ***
    1:25 ****


    * o. W. ; am Ende des 1. Satzes viele falsche Töne .
    ** das Spiel klingt völlig undifferenzierend im Klang ; sehr viele falsche Noten .
    *** es fehlen mehrere Takte . Begin stechschrittartig wie beklannt aus den Jubiläimstagen der Oktoberrevolution mit den "Aufmäschen" . Der Schluss extrem düster .
    **** Im Vergleich technisch deutlich schlechter gespielt .


    Insgesamt fällt bei Cortots Chopin deutlich auf , auch bei dem f-Moll-Klavierkonzert mit John Barbirolli - Studio , London , 8. VII. 1935 - , dass Cortot zumindest in den Studioaufnahmen dazu neigte, alles möglichst schnell zu spielen, wodruch sehr vieles an Tonfarben und Klangdiiferenzierungen verloren geht . Dazu kommt ein nicht nur aufnahetechnisch begründbares Lautspielen als habe er gerade die "Eroica " von Beethoven durch Pierre Monteux / Wiener Philharmoniker gehört .


    Diese Interpretation widersprechen dem, was über Cortots Unterricht am Pariser konservatorium berichtet wird .


    Dass es , auch mit John Barbirolli , weit innigere Mittelsätze gibt und ein deutlich technisches wie interpretatorischen Klavierspiel, das können wir unter anderem den Aufnahmen durch Josef Hofmann entnehmen .


    Der erste Satz des 2. Klavierkonzertes hat die Satzbezecihnung "Maestoso" und nicht "Allgero affettuoso " .


    Es war für mich nach rund sechs Jahren Hörabstinzen von mehreren Werken hintereinander durch Cortot schon eher überraschend , wie dramtisch er Chopins Notentext bei diesen Aufnahmen genommen hat .


    Aber ich stoppe hier , weil es nicht primär um Alfred Cortot geht . Gleichwohl dieser in Sachen Chopininterpretationen doch stest in erser reihe erwähnt wird .


    Beste Grüsse


    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Zitat

    Original von Frank Georg Bechyna
    ...
    Insgesamt fällt bei Cortots Chopin deutlich auf , auch bei dem f-Moll-Klavierkonzert mit John Barbirolli - Studio , London , 8. VII. 1935 - , dass Cortot zumindest in den Studioaufnahmen dazu neigte, alles möglichst schnell zu spielen, wodruch sehr vieles an Tonfarben und Klangdiiferenzierungen verloren geht .
    ...


    Vermutlich neigte er nicht dazu sondern war einfach durch die Umstände gezwungen. Acht oder neun Minuten für einen Satz war auf einer Matrize nicht unterzubringen, also musste alles entsprechend schneller genommen werden.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!



  • Lieber Frank,


    bei Berman triffst Du bei mir einen wunden Punkt! Laut Diskographie gibt es drei Aufnahmen: 11.3.1979 Melodya LP, dann eine LP von CBS- ich nehmen an, sie ist identisch mit Deiner Aufnahme auf CD! Dann gibt es noch einen Mitschnitt von 1995 aus Birmingham, Pebble Mills Studios Birmingham, BBC. Keine davon ist zu bekommen! Für meine historisch-systematische Untersuchung ist das eine schmerzliche Lücke. Ich hoffe doch, daß ich sie noch irgendwie auf wundersamen Wegen füllen kann!


    Sind die 1.46 Min. beim Finale bei Berman wirklich ohne Applaus?


    Bei Cortot - ich habe diese Aufnahme auch rezensiert - muß man natürlich berücksichtigen, daß 1933 ein Direktschnittverfahren bei der Aufnahme verwendet wurde. (Auf solche aufnahmetechnischen Probleme hat Theophilus zu Recht hingewiesen!) Die heute geläufige Schneidetechnik gab es nicht - Fehler waren prinzipiell nicht zu korrigieren. Der Interpret konnte nur alles von vorne noch einmal aufnehmen. Artur Schnabels Aufnahmen aus dieser Zeit enthalten deshalb auch solche Fehler. Zudem ist ein Wandel im Bewußtsein zu beobachten, was die Aufführungspraxis angeht. Die Generation von Pianisten, zu der Cortot gehört, spielten im Aufnahmestudio wie im Konzertsaal. Heute ist das umgekehrt: Im Konzert trägt man perfekt vor - möglichst ohne Fehler, die sind verpönt, schon auf Wettbewerben wird zu fehlerfreiem Spiel erzogen - wie im Tonstudio! Auf Perfektion legte man damals einfach nicht so großen Wert - was zählte, war der Ausdruck. Was nicht heißt, daß die Pianisten damals technisch impotent gewesen wären. Bei Walter Gieseking (der ja unbestreitbar ein Ausnahmetechniker war) gibt es auch solche "falschen" Stellen, wo er schneller spielt als es eigentlich geht. Das war ihm schlicht völlig egal - ähnliches gilt für Artur Schnabel. Auf Cortot geht die Tradition zurück, den Trauermarsch zu oktavieren - das betont er selbst. Eine hochpoetische, immer noch absolut diskussionswürdige Aufnahme, finde ich! Hast Du auch die spätere Aufnahme von ihm? - die habe ich bisher nicht erfaßt!


    Beisteuern möchte ich hier noch die Diskographie der b-moll-Sonate von Arturo Benedetti Michelangeli. Das ist natürlich die Zinne des olympischen Gipfels und eine eigene Interpretationsgeschichte, über die man allein ein ganzes Buch schreiben könnte. Leider enden die Dokumente mit der Vatikan-Aufnahme von 1977 - aus den 80igern ist kein weiteres überliefert, was jammerschade ist! In Düsseldorf 1986 hat er die Sonate wirklich abgründig todesverfallen gespielt - ein "Sein zum Tode" im Sine Heideggers. Unbeschreiblich!


    Hier die Aufnahmen:


    Arezzo 12.2.1952
    London 30.6.1959 (BBC)
    Prag 3.6.1960
    RAI Turin 1962 (Fernsehaufnahme)
    Lugano 4.6.1968
    Tokyo 29.10.1973
    Vatikan 29.4.1977


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich kann momentan leider meine Aufnahmen nicht vergleichen, aber beim Trauermarsch reicht das Spektrum von einem Tempo, zu dem man noch marschieren könnte bis hin zu einem, bei dem einem die Beine einschlafen (was ja nicht zwangsläufig verkehrt sein muss, es soll ja niemand tatsächlich dazu marschieren).


    Stimmt absolut, Johannes - das kann ich nur bestätigen! :pfeif:


    Beste Grüße
    Holger

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