Ludwig van Beethoven. Liedmusik im Geist der Klassik

  • "An die ferne Geliebte", Lied 4


    Diese Wolken in den Höhen,
    Dieser Vöglein munt´rer Zug,
    Werden dich, o Huldin, sehen.
    Nehmt mich mit im leichten Flug!


    Diese Weste werden spielen
    Scherzend dir um Wang' und Brust,
    In den seid´nen Locken wühlen.
    Teilt ich mit euch diese Lust!


    Hin zu dir von jenen Hügeln
    Emsig dieses Bächlein eilt.
    Wird ihr Bild sich in dir spiegeln,
    Fließ zurück dann unverweilt!


    Dass die Harmonik zu dem As-Dur zurückkehrt, in dem das vorangehende Lied als Grundtonart steht, ist insofern wohl begründet, als das lyrische Ich bei diesen Versen in seiner imaginativen Grundsituation verbleibt, die ferne Geliebte über die Ansprache an naturhafte Wesen und Elemente, Wolken, Vöglein, das Bächlein und den Westwind, erreichen zu können. Und auch das Klavier behält die Begleitung mit triolischen Achtel-Figuren im Diskant fast durchgehend bei. Es sind allerdings dieses Mal vorwiegend solche, die als Auf und Ab angelegt sind, also weniger dynamisch vorwärtsdrängend, sondern eher statisch wirken. Und darin reflektiert der Klaviersatz den lyrischen Sachverhalt, dass das Ich sich nun nicht den mit den Naturbildern in die Ferne schweifenden Gedanken und Gefühlen hingibt, sondern sich in seine Situation gleichsam zurücknimmt und diese reflektiert. Und so liegt der Liedmusik nun auch kein Vierviertel-, sondern ein Sechsachteltakt zugrunde und die Vortragsanweisung lautet: „Nicht zu geschwind, angenehm und mit viel Empfindung“.


    Der Klaviersatz bleibt freilich nicht konstant, sondern wandelt sich von Strophe zu Strophe. Damit nutzt Beethoven wieder die Möglichkeit, bei strukturell in allen Strophen identischer Melodik die lyrische Aussage und die sie konstituierenden Bilder in der Liedmusik angemessenen Niederschlag finden zu lassen. So begleitet das Klavier die Worte „Diese Wolken in den Höhen, / Dieser Vöglein munt´rer Zug“ statt mit den ansonsten eingesetzten triolischen Figuren nun mit Trillern, das Bild von den „Wolken“ und den „Vöglein“ in den Höhen klanglich imaginierend. Der Bitte „Nehmt mich mit im leichten Flug“, verleiht das Klavier, da es sich hierbei ja um eine wesentliche, den Willen zum Ausbruch aus seiner Situation bekundende Aussage des lyrischen Ichs handelt, Nachdruck dadurch, dass es die Bewegung der melodischen Linie in Gestalt von Akkorden mitvollzieht.


    Die luftige Leichtigkeit des im Zentrum der zweiten Strophe stehenden Bildes („Diese Weste werden spielen…“) reflektiert der Klaviersatz mit einem Zusammenspiel von triolischen Achtelfiguren in Diskant und Bass, und das Wieder-Aufgreifen des Bildes vom Bächlein in der dritten Strophe führt dazu, dass das Klavier im Diskant (im Bass aber zunächst nicht) nun von seinen Triolen ablässt und die melodische Linie mit fließend fallenden und sich zu bitonalen Akkorden erweiternden Achteln begleitet, die diese fließende Bewegung dann in unterer Lage des Diskants mit einem Auf und Ab in Terzen und Sekunden fortsetzen. Und am Schluss, wenn es wieder um Nachdruck geht, weil das lyrische Ich mit den – sogar wiederholten - Worten „fließ zurück dann unverweilt“ erneut eine ihm wichtige Bitte zum Ausdruck bringt, bringt das Klavier wieder akkordisch geprägte Figuren zum Einsatz, die der melodischen Linie teilweise folgen.


    Die Melodik ist, wie Beethoven im Rahmen des Strophenlied-Konzeptes dieses Zyklus ja grundsätzlich verfährt, in ihrer Struktur darauf ausgerichtet, die seelische Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs zu reflektieren, aus der heraus es die lyrischen Aussagen in den einzelnen Strophen tätigt. Hier wäre es die Haltung eines gedanklichen und emotionalen Sich-Einfindens in die Situation des Sich-Sehnens nach der Geliebten und des imaginativen Spielens mit den Möglichkeiten, sie in ihrer Ferne wenn nicht wirklich zu erreichen, so doch ansprechen zu können. Und tatsächlich meint man, das in der Melodik dieses Liedes vernehmen zu können. Wieder ist ihr ein schweifender Gestus inne. Bei den ersten beiden Versen entfaltet sie sich durchgehend in Gestalt von syllabisch exakt aufeinanderfolgenden Fallbewegungen über jeweils eine Terz. Auf der Grundlage des Sechsachteltaktes stellt sich dabei geradezu unwiderstehlich der Eindruck eines leicht beschwingten Schwebens ein. Und die Harmonik bestärkt das, indem sie den Raum von Tonika und Ober- und Unterdominante nicht verlässt, vielmehr ebenfalls darin herumschweift.


    Aber es ist eine leicht fallende melodische Linie, die sich in diesem deklamatorischen Gestus auf den Worten des ersten Verspaares herausbildet. Der Spitzenton des Terzfalls senkt sich wellenartig seinerseits um eine Terz ab, um am Ende, bei dem Wort „Zug“, einen Sekundsprung zu beschreiben, der die Basis dafür liefert, dass die melodische Linie nun beim dritten Vers in einen direkten, nämlich über Sekundschritte erfolgenden Fall übergeht, der bei den Worten „o Huldin“ zwar noch einmal eine melismatische Unterbrechung in Gestalt einer Kombination aus Quartsprung und Terzfall erfährt, was die melodische Linie aber nicht wirklich daran hindert, ihre abwärts gerichtete Bewegung mit einem über einen Sekundsprung erfolgenden und in As-Dur harmonisierten Quartfall fortzusetzen, den das Klavier mit einer aus Quartsprung und Terzfall gebildeten triolischen Figur kommentiert. Sie mündet in einen siebenstimmigen As-Dur-Akkord, der wie ein Portal für das wirkt, was die Melodik mit den Worten des letzten Verses zu sagen hat, - bei der ersten Strophe beinhalten sie die appellative Bitte: „Nehmt mich mit im leichten Flug“.


    Man kann die der Melodik auf den ersten drei Versen innewohnende Tendenz des Fallen-Wollens durchaus als Ausdruck der Grundhaltung des lyrischen Ichs auffassen und verstehen, - dieses Sich-Versenkens in die um die ferne Geliebte kreisenden Gedanken, Emotionen und Bilder. Aber in dieser Grundhaltung gibt es ja auch noch eine gleichsam gegenläufige Komponente: Die des Ausbrechen-Wollens aus der gegenwärtigen existenziellen Situation. Und alle drei letzten Verse bringen sie mehr oder weniger explizit zum Ausdruck. Nicht ohne Grund hat Jeitteles alle mit einem Ausrufezeichen versehen.
    Beethoven hat diesen lyrischen Sachverhalt dergestalt liedmusikalisch aufgriffen, dass er die melodische Linie nun zwar erneut eine Fallbewegung beschreiben lässt, dies aber, in Abkehr von ihrem vorangehenden Gestus, in Gestalt einer wellenartigen, also aus dem Fall in einen neuerlichen Aufstieg übergehenden Bewegung, die am Ende dann über einen Quartfall auf dem Grundton „As“ enden darf. Und der Klaviersatz wird dem in allen drei Fällen in der Weise gerecht, dass er nach den jeweils vorangehenden, mehr oder weniger stark filigranen Figuren nun die melodische Linie mit stärker akkordisch geprägten begleitet.


    Bei der Wiederholung des letzten Verses in Gestalt der Worte „Fließ zurück dann unverweilt, ja unverweilt!“ setzt die melodische Linie nicht mehr mit einer kleinen Dehnung auf „fließ“ ein, sondern geht unmittelbar in einen Terzfall über und setzt ihre Bewegung in identischer Weise bis zum Wort „unverweilt fort. Allerdings tritt hier schon ein „Sempre più allegro“ in sie, und so wird denn die Tonrepetition auf der Wiederholung von „unverweilt“ in leicht erhöhtem Tempo deklamiert. Die Harmonik hat hier eine geradezu kühne Rückung vom vorangehenden As-Dur nach D-Dur vollzogen, und beim Sekundfall auf der letzten Silbe von „unverweilt“ rückt sie nach G-Dur. Die Überleitung zum fünften Lied ist damit harmonisch vollzogen.

  • Weil dieses vierte Lied in seiner Melodik ja unmittelbar an das dritte anschließt, soll es hier im Vortrag durch die gleichen Interpreten zu hören sein: Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll.


  • "An die ferne Geliebte", Lied 5


    Es kehret der Maien, es blühet die Au,
    Die Lüfte, sie wehen so milde, so lau,
    Geschwätzig die Bäche nun rinnen.


    Die Schwalbe, die kehret zum wirtlichen Dach,
    Sie baut sich so emsig ihr bräutlich Gemach,
    Die Liebe soll wohnen da drinnen.


    Sie bringt sich geschäftig von kreuz und von quer
    Manch weicheres Stück zu dem Brautbett hieher,
    Manch wärmendes Stück für die Kleinen.


    Nun wohnen die Gatten beisammen so treu,
    Was Winter geschieden, verband nun der Mai,
    Was liebet, das weiß er zu einen.


    Es kehret der Maien, es blühet die Au.
    Die Lüfte, sie wehen so milde, so lau.
    Nur ich kann nicht ziehen von hinnen.


    Wenn alles, was liebet, der Frühling vereint,
    Nur unserer Liebe kein Frühling erscheint,
    Und Tränen sind all ihr Gewinnen.


    Frühling evozierende lyrische Bilder lagern sich wie ein Rahmen um das zentrale Bild der Schwalbe herum, die sich emsig „ihr bräutlich Gemach“ baut. Das lyrische Ich erfährt darin auf schmerzliche Weise, dass ihm dieser Aufbruch in ein neues, auf liebeerfüllte Gemeinsamkeit sich gründendes Leben verwehrt bleibt. Die letzte Strophe wirkt von daher wie ein bitterer lyrischer Kontrapunkt, und dieser Effekt verdichtet sich im letzten Vers. Dieser ist von Jeitteles auf metrisch durchaus gekonnte Weise in seiner auf drei Hebungen verkürzten daktylischen Rhythmik, wie sie dem ganzen Gedicht zugrunde liegt, als Strophen-Abschluss angelegt. In dieser Funktion kommt ihm besonderes Gewicht zu. Und das verleiht dem letzten Vers der sechsten Strophe seine ganz besondere lyrische Ausdruckskraft. Die ersten vier Strophen münden allesamt in frühlingsbezogen idyllische Aussagen. Der letzte Vers der fünften Strophe stellt in seiner kontrafaktischen lyrischen Sprachlichkeit erstmals den Bezug zum lyrischen Ich her, und in dem der sechsten erfährt dieser dann seine die lyrischen Frühlingsbilder kontrastierende Konkretion.


    Beethoven wendet kompositorisch auch hier sein Konzept des variierten Strophenliedes an, was ihm zwangsläufig Beschränkungen auferlegt, diesen in der fünften Strophe sich andeutenden und in der sechsten vollzogenen Wechsel der lyrischen Perspektive in liedmusikalisch voll adäquater Weise aufzugreifen und umzusetzen. Und er verfährt hier diesbezüglich so, wie er das durchweg in diesem Zyklus tut: Er legt die in ihrer Struktur strophenliedförmig wiederkehrende Melodik so an, dass sie die situative seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen vermag und setzt die kompositorischen Faktoren Klaviersatz, Tempo und Dynamik dazu ein, dem perspektivischen Wandel in der lyrischen Aussage liedmusikalisch gerecht zu werden. Das wird in der letzten lyrischen Strophe in besonderer Weise relevant, und so finden sich denn dort in den besagten Bereichen die entsprechenden liedkompositorischen Variationen.


    Die Melodik kehrt freilich drei Mal in unveränderter Weise wieder. Nur drei Mal deshalb, weil Beethoven aus den sechs lyrischen Strophen drei liedmusikalische gemacht hat. Das hat einen durchaus guten, in der Anlage des Jeitteles-Gedichts gründenden Sinn, und es zeigt, in wie enger Anlehnung an den lyrischen Text Beethoven, bei all seiner Orientierung am Strophenlied-Konzept, liedkompositorisch vorgeht. Die sechs Strophen in drei musikalische umzusetzen, ist von ihrem sprachlichen Gehalt her naheliegend, wobei als formaler Aspekt noch hinzukommt, dass die fünfte Strophe mit der Wiederholung des ersten Verspaares der ersten unmittelbar an diese anknüpft. Der zweiten und der vierten Strophe eine eigene Melodik zuzuweisen, wird überdies dem für die lyrische Aussage dieses Gedichts konstitutiven Sachverhalt gerecht, dass den um die „Schwalbe“ kreisenden Bildern eine tatsächlich zentrale Rolle zukommt. Und weil sich die Aussagen der letzten Strophe aus der Begegnung des lyrischen Ichs mit eben diesen Bildern generieren, ist es liedkompositorisch nur konsequent, dieser die Melodik der zweiten und der vierten lyrischen Strophe zugrunde zu legen.


    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde. Sie steht in C-Dur als Grundtonart und soll „Poco adagio“ vorgetragen werden. Ein für diesen Zyklus ungewöhnlich langes Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Vierzehn Takte nimmt es in Anspruch, und seine klangliche Substanz legt nahe, dass es Frühlingsatmosphäre imaginieren will. Nach einer im Wechsel von Diskant und Bass erfolgenden Repetition eines einzelnen „G“s und einer „G“-Oktave setzt über einem taktlang gehaltenen G-Dur Akkord ein langer Triller im Diskant ein, und nach einer Überleitung in Gestalt von fallenden bitonalen Akkorden folgt diesem ein C-Dur-Triller nach. Drei Takte lang setzt sich das so fort. Ein Triller geht in fallende Achtel-Terzen und einmal -Sexten über, bis dann das das Klavier, die Bilder von den wehenden Lüften und den rinnenden Bächen aufgreifend, zur Artikulation von auf und ab sich bewegenden Achtelketten übergeht, die am Ende in eine aus Terzen und Sexten gebildete Figur münden, die die melodische Linie auf den Worten „Es kehret der Maien“ vorausnimmt. Und dieser Übergang des Vorspiels in die Melodik des Liedes lässt endgültig zur Gewissheit werden, dass es den klanglichen Raum für die Frühlingsbilder schaffen will, die die Singstimme nun nachfolgend präsentiert.


    In ihrer Grundstruktur und in ihrem deklamatorischen Gestus weist die Melodik auf den Versen der ersten (und damit auch der dritten und fünften) Strophe die Anmutung eines von großer Innigkeit geprägten und deshalb nicht extrovertierten, sondern sich nach innen kehrenden Jubels auf. Sie beschreibt eine in hoher Lage ansetzende, in Bögen sich entfaltende und dabei in mittlere Lage absinkende Bewegung. Den daktylischen Rhythmus der lyrischen Sprache reflektiert sie deklamatorisch dadurch, dass sie, wie gleich bei den Anfangsworten „Es kehret der Maien, es blühet die Au“ zu vernehmen ist, jeweils auf ein deklamatorisches Viertel zwei Achtel folgen lässt, wobei sogar der lyrisch-sprachliche Auftakt am Versanfang durch eine einleitenden Tonrepetition Berücksichtigung findet. Dadurch kommt ein Anflug von Beschwingtheit in sie, und die Tatsache, dass der letzte Bogen, den sie bei den Worten „geschwätzig die Bäche nun rinnen“ am Ende in einen nicht mehr daktylisch geprägten, sondern nun gedehnten Sekundfall mündet, lässt die ganze Melodik dieser ersten Strophe zu einer in sich geschlossenen musikalischen Einheit werden.


    Das Klavier folgt allen ihren Bewegungen mit Terzen und Sexten im Diskant und ebenfalls rhythmisierten Viertel und Achteln im Bass, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von C-Dur zur Subdominante F-Dur. Am Ende aber verleiht sie dem Bild von den geschwätzig rinnenden „Bächen“ eine Anmutung von Lieblichkeit dadurch, dass sie eine Rückung nach a-Moll mit kurzem Ausweichen nach E-Dur vollzieht. Und im kurzen (eintaktigen) Nachspiel fügt das Klavier ihm eine seinen Gehalt klanglich imaginierende Folge von lebhaften, erst aufsteigenden und dann in einem Auf und Ab sich Achteln und Sechzehnteln hinzu.


    Die Melodik auf den Versen der zweiten, vierten und sechsten Strophe bildet in ihrer strukturellen Anlage ebenfalls eine in sich geschlossene musikalische Einheit, wobei diese so stark ausgeprägt ist, dass selbst die deklamatorische Wiederholung des letzten Verses bruchlos, das heißt ohne Unterbrechung durch eine Pause, in sie integriert ist. Man kann diesen Sachverhalt wohl als ein typisches Merkmal von Beethovens liedkompositorischem Denken sehen: Es ist ein eminent musikalisch ausgerichtetes und darin vom Geist der Klassik inspiriertes, bei dem die Melodik als einheitliches klangliches Gebilde zum integralen Bestandteil eines musikalischen Gesamtwerks wird.


    Sie behält auch hier anfänglich den Gestus der bogenförmigen Entfaltung bei, nur dass sie nun dabei in mittlerer tonaler Lage verbleibt. Aber darin, wie auch in der Fortsetzung der den Daktylus reflektierenden Deklamation, schließt sie an die Melodik der ersten Strophe an, will sich also nicht in irgendeiner Weise von ihr abheben und absetzen. Das gilt auch für den Klaviersatz: Weiterhin besteht er – jedenfalls im Falle der zweiten Gedichtstrophe – im Diskant aus der Bewegung der melodischen Linie folgenden Terzen, die aber dort, wo diese von ihrem Gestus der bogenförmigen Entfaltung ablässt und zu mehrfachen, in höherer Lage ansetzenden Fallbewegungen übergeht, zu bitonalen und sogar dreistimmigen werden.


    Es ist das herzrührende Bild vom der Liebe Wohnraum gebenden „bräutlichen Gemach“ der Schwalbe, das die melodische Linie dazu bewegt, sich zu einer Folge von sogar über vorgelagerte Sprünge erfolgenden Fallbewegungen überzugehen. Sie setzen – bezeichnenderweise – mit den Worten „ihr bräutlich Gemach“ ein. Hier beschreibt die melodische Linie, noch immer wie von Anfang an in F-Dur harmonisiert, anfänglich einen Sextsprung, geht bei „bräutlich“ in einen auf einem hohen „F“ ansetzenden und legato auszuführenden doppelten Sekundfall über, der sich bei „Gemach“ hin zu mittlerer Lage fortsetzt. Die ihm ohnehin schon eigene Expressivität erfährt eine Steigerung dadurch, dass die Harmonik hier eine Rückung von der Subdominante F-Dur hin zur Dominante G-Dur vollzieht.


    Auf dem – wiederholten – letzten Vers liegt dann eine zweifache Fallbewegung, die einen Steigerungseffekt dadurch aufweist, dass der zweite Fall bei dem Wort „wohnen“ zunächst auf einer um eine Sekund angehobenen tonalen Lage ansetzt und am Ende nicht über eine Terz, sondern über eine Quarte erfolgt. Auf den Worten „da drinnen“ liegt danach eine melodisch ausdrucksstarke Kombination aus Sextsprung und nachfolgend gedehntem Sekundfall, wobei die Harmonik eine Rückung von der Tonika C-Dur zur Dominante G-Dur beschreibt.
    Das Klavier akzentuiert die Expressivität dieser melodischen Bewegung auf dem lyrisch so bedeutsamen Wort „da drinnen“ dadurch, dass es den gedehnten Sekundfall im Diskant akkordisch mitvollzieht, derweilen aber im Bass eine aus tiefer in hohe Lage aufsteigende Folge von Achteln erklingen lässt. Das alles wiederholt sich in strukturell ähnlicher Gestalt bei der neuerlichen Deklamation der Worte des letzten Verses noch einmal. Nur dass nun die Worte „die Liebe“ eine Steigerung ihrer musikalischen Expressivität dadurch erfahren, dass die melodische Linie nun einen, in Gestalt eines zweifachen Sekundsprungs erfolgenden Anlauf zu einem hohen „F“ nimmt, so dass der nachfolgende Fall nun in höherer Lage ansetzt.


    Aber die melodische Linie will ja – wichtig für Beethoven – am Ende zur Ruhe auf dem Grundton finden. Und so liegt nun bei der Wiederholung auf den Worten „da drinnen“ nicht mehr, wie beim ersten Mal, ein in die harmonische Dominante führender Sextsprung, sondern nur noch einer über das Intervall einer Quinte, der die melodische Linie im nachfolgenden Sekundfall zum in C-Dur harmonierten Grundton führt. Und dieses Mal vollzieht das Klavier diesen nur noch in Gestalt von Sexten mit, lässt aber erneut seine Achtel aus der Tiefe in die Höhe des Basses aufsteigen.


    Auf den perspektivischen Wandel der lyrischen Aussage hin zur spezifischen Seelenlage des lyrischen Ichs, wie er sich in der letzten Gedichtstrophe ereignet und schon mit dem letzten Vers der fünften eingeleitet wird, reagiert die Liedmusik mit einer Variation im Klaviersatz. Schon das Zwischenspiel vor der letzten Liedstrophe erfährt eine Abwandlung. Auf die nachfolgende Wiederholung des ersten Verspaares der ersten Strophe reagiert das Klavier dergestalt, dass es nun kurz auf die Triller des Vorspiels zurückgreift und diesen dann fallende Achteltriolen nachfolgen lässt. Bei den Worten „Wenn alles, was liebet, der Frühling vereint“ folgt es der melodischen Linie im Diskant nun mit dreistimmigen Akkorden, und das ist auch bei den beiden letzten Versen der Fall. Bei den Worten „Und Tränen sind all ihr Gewinnen“, die ritardando deklamiert werden sollen, akzentuiert das Klavier die Aussage der melodischen Linie mit zwei sechs-, bzw. siebenstimmigen G-Dur-Akkorden, denen Viertelpausen nachfolgen. Beethoven lässt diesen letzten Vers wiederholen.


    Und nicht nur das:
    Dem letzten Vers misst Beethoven für die Gesamtaussage seiner Liedkomposition solche Bedeutung zu, dass er sie mit den Worten „ja, all ihr Gewinnen“ beschließen lässt. Sie werden auf der strukturell gleichen melodischen Linie deklamiert, wie das bei der ersten Wiederholung der Fall ist. Allerdings erfährt sie, abgesehen davon, dass sie nun als „Adagio“ vorzutragen ist, eine kleine, aber bedeutsam Variation: Der Quartsprung, der sich zu dem Wort „all“ hin ereignet, ist dieses Mal ein verminderter, was zur Folge hat, dass die Harmonik eine Rückung nach c-Moll beschreibt.


    Es kommt ein schmerzlich wehmütiger Ton in diese dritte Wiederholung der letzten Worte des lyrischen Textes. Und der wird auch vom Klavier unterstrichen. Im Diskant setzt in der kleinen Pause für die Singstimme ein kleiner Sekundanstieg ein, und dem folgt ein zweifacher Fall von Vierteln und Achteln über das Intervall einer Terz und einer Quarte, der in c-Moll harmonisiert ist. Und auch das kleine Nachspiel, das die harmonische Bewegung auf diesen Worten nachvollzieht, steht in g-Moll, das am Ende in c-Moll als Schlussharmonik übergeht.


    Es ist eine schmerzliche Erfahrung, die das lyrische Ich in der Begegnung mit diesen an sich so beglückenden Frühlingsbildern macht. Das ist für Beethoven die zentrale Aussage dieser Jeitteles-Verse, und er hat ihr angemessenen musikalischen Nachdruck verliehen.

  • Matthias Goerne interpretiert diesen Zyklus auf überzeugende und beeindruckende Weise, wie ich selbst schon im Konzertsaal erleben durfte. Hier sein Vortrag von Lied 5. Alfred Brendel begleitet.


  • "An die ferne Geliebte", Lied 6


    Nimm sie hin denn, diese Lieder,
    Die ich dir, Geliebte, sang,
    Singe sie dann abends wieder
    Zu der Laute süßem Klang.


    Wenn das Dämm´rungsrot dann ziehet
    Nach dem stillen blauen See,
    Und sein letzter Strahl verglühet
    Hinter jener Bergeshöh´;


    Und du singst, was ich gesungen,
    Was mir aus der vollen Brust
    ohne Kunstgepräng erklungen,
    Nur der Sehnsucht sich bewußt:


    Dann vor diesen Liedern weichet
    Was geschieden uns so weit,
    Und ein liebend Herz erreichet
    Was ein liebend Herz geweiht.


    In diesen Versen konstituiert sich definitiv der zyklische Charakter des lyrischen und damit auch des musikalischen Werkes. Das lyrische Ich war, wie es das erste Gedicht bekundet, angetreten, mit seinen „Liedern“ aus der Einsamkeit seines in die ferne spähenden, die Geliebte suchenden „Sitzens auf dem Hügel“ auszubrechen, indem es sich der Hoffnung hingibt, mit eben diesen Liedern die „ferne Geliebte“ erreichen zu können. So erhält denn der einleitende Vers seinen Sinn als Abschluss dieses Unterfangens, und in den nachfolgenden Versen gibt sich das lyrische Ich der Imagination des Bildes hin, auf das es von Anfang an ausgerichtet war: Die Ankunft der Lieder bei der fernen Geliebten und die Wirkung, die sie zu entfalten vermögen, wenn diese sie sich zu eigen macht, sie im Geiste, oder vielleicht sogar tatsächlich singt. Es steigert sich im Bewusstsein, dass dies ja das sein würde, was es selbst aus voller Brust gesungen hat, in das affektiv hochgradig aufgeladene Bild von der „laute süßem Klang“, die im letzten Strahl eines „Dämmerungsrots“ den Gesang der Geliebten begleitet und redet sich am Ende dabei sogar ein, dass die Trennung von ihr überwunden werden müsse, weil „ein liebend Herz erreichet, was ein liebend Herz geweiht.“


    Diese beiden letzten Verse stellen die Kulmination dieses kleinen zyklisch-lyrischen Werkes von Alois Jeitteles dar. Und Beethoven hat dies auch so aufgefasst, was nicht nur in der Kulmination seiner Liedmusik in Gestalt einer schier endlos anmutenden Wiederholung dieser Verse und dem damit einhergehenden Ausbruch der Liedmusik in hochgradige Expressivität vernehmlich wird, sondern sich auch darin zeigt, dass er, wie die Skizzen zu diesem Zyklus nahelegen, den dem ersten Lied zugrundeliegenden vier Strophen des Jeitteles-Gedicht unter Rückgriff auf die letzte dieses sechsten Gedichts eine fünfte Strophe hinzugefügt hat.
    Man kann darin – so erscheint es mir jedenfalls naheliegend – einen geradezu exemplarischen Vorgang sehen, – exemplarisch und darin repräsentativ und typisch für den intentional-grundlegenden Ansatz von Beethovens Liedkomposition. Es geht ihm nicht – wie es Grundanliegen der Liedkomponisten der romantischen Schule ist – um das liedmusikalisch möglichst detaillierte Ausloten der einzelnen lyrischen Aussage und der mit ihr einhergehenden Metaphorik. Vielmehr geht es ihm um die im lyrischen Werk sich artikulierende Grundaussage und die emotionale Grundhaltung des jeweiligen lyrischen Ichs. Diese beiden Aspekte in adäquater Weise in eine in klassischer Weise organisierte Liedmusik umzusetzen, das ist sein eigentliches kompositorisches Anliegen.


    Dieses letzte, den Zyklus auf so beeindruckende Weise beschließende Lied ist als einziges durchkomponiert. Ein Zweivierteltakt liegt im zugrunde, und mit dem Es-Dur als Grundtonart kehrt die Liedmusik harmonisch zu ihrem Anfang zurück. Die Vortragsanweisung lautet „Andante con moto, cantabile“, wobei dieses „con moto“ nicht als Beschleunigung des „Andante“ zu verstehen ist, sondern vielmehr als Anweisung an die Interpreten, die tiefen seelischen Regungen, die die Liedmusik beinhaltet, in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen. Und auf anrührende Weise beseelt wirkt die Melodik in der Tat. Sie entfaltet sich in geradezu vollkommener kantabler Gebundenheit der deklamatorischen Schritte. Diese ist so tiefgreifend, dass selbst die immer wieder sich ereignenden Tonrepetitionen sie nicht unterbrechen können. Und gleich die erste auf den Worten „singe sie dann abends wieder“ lässt erkennen, warum das so ist. Es ist keine mechanisch starre Repetition des Tones „F“, die sich hier ereignet, vielmehr ist es eine gleichsam atmende, ihren deklamatorischen Gestus aus der Bindung an das lyrische Wort beziehende. Auf „sie“ und dem Anfangsvokal von „abends“ liegt jeweils eine leichte Dehnung in Gestalt eines punktierten Achtels, während das Wort „dann“ und die zweite Silbe von „abends“ nur mit einem deklamatorischen Sechzehntel belegt sind. Dieses Prinzip wendet Beethoven bei allen nachfolgenden Tonrepetitionen in ähnlicher Weise an.


    Im sechstaktigen Vorspiel erklingt die melodische Linie auf den ersten drei Versen der ersten Strophe im Diskant und geht dann in den letzten beiden Takten in eine melismatische, von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln durchsetzte Figur über, die zunächst eine fallende, dann aber wieder steigende und nun aus bitonalen Akkorden (Terz, Quarte, Quinte) bestehende Bewegung beschreibt, die zum Einsatz der melodischen Linie der Singstimme überleitet. Begleitet wird das von überaus zart wirkenden gebrochenen Akkorden in Gestalt von Sechzehntel-Figuren im Bass. Und damit lässt das Klavier schon vorab den Geist dieser Liedmusik und ihrer Melodik klanglich sinnfällig werden: Es ist der einer innig-schwärmerischen, von der imaginativen Vergegenwärtigung der Geliebten beseligten Ansprache an dieselbe. Und er findet gerade in der Melodik der ersten Strophe seinen unmittelbaren und direkten Ausdruck, so dass Beethoven, darin auch hier, bei dieser an sich dem Prinzip der Durchkomposition verpflichteten Liedmusik, Strophenlied-Elemente einfließen lässt und bei der dritten Strophe nicht nur die Melodik, sondern auch den Klaviersatz mit nur geringfügigen Abwandlungen wiederholt.


    Die Anmutung von schwärmerischer Innigkeit, die dieser Melodik der ersten Strophe eigen ist, der in diesem Lied eine zentrale und in ihrer Hinführung zur Wiederkehr der Liedmusik des Zyklus-Anfangs funktional höchst bedeutsame Rolle zukommt, gründet darin, dass der Ansprache-Gestus, der mit den einleitenden Worten „nimm sie hin“ in den lyrischen Text tritt, sich nur kurz, nämlich in dem anfänglichen, aus einer Tonrepetition hervorgehenden Sechzehntel-Sekundanstieg mit nachfolgendem Quartfall Ausdruck verschafft und die melodischen Linie danach in einen ruhigen, nur über Sekundschritte erfolgenden Fall übergeht. Die mittlere tonale Lage, die sie damit erreicht, verlässt sie zwar noch einmal kurz, beim Anstieg in Gestalt von Sekundschritten auf den Worten „die ich dir Geliebte sang“ nämlich. Der aber führt sie nur in obere Mittellage, und daraus kehrt sie in vierfachem Sekundfall sofort wieder in untere zurück, um dort in Tonrepetitionen zu verharren. Nur einmal ereignet sich ein Sprung über ein größeres Intervall in ihr, eine Quarte bei den Worten „der Laute“. Der aber enthüllt sich unmittelbar danach als eine Art Auftakt für eine klanglich liebliche, in partiell gedehnten Sekundschritten erfolgende und harmonisch mit einer Rückung von der Subdominante über die Dominante zur Tonika einhergehenden melodischen Fallbewegung, in der sich der semantische Gehalt der Worte „zu der Laute süßem Klang“ niederschlägt.


    Das Klavier begleitet die melodische Line in der ersten (und damit auch der dritten) Strophe durchweg mit den gebrochene Akkorde klanglichen simulierenden Sechzehntelfiguren im Diskant, wobei diese bei den melodischen Tonrepetitionen auf den Worten „singe sie dann abends wieder“ eine ausdrucksstarke und die Aussage der melodischen Linie akzentuierende Verdichtung in Gestakt von bitonalen Sekunden erfahren. Die Harmonik beschreibt durchweg ausschließlich Rückungen im Bereich der Tonika Es-Dur und ihrer beiden Dominanten. Das ändert sich in der Liedmusik auf der zweiten Gedichtstrophe. Man empfindet sie – und so will das der lyrische Text ja auch verstanden wissen - in ihrer Melodik, deren Harmonisierung und dem zugehörigen Klaviersatz als eine Art Konkretion dessen, was das lyrische Ich in der ersten Strophe als Situation imaginativ entwirft. Ein zauberhaft schönes lyrisches Bild wird daraus, und Beethovens Liedmusik fängt es auf wahrlich faszinierende Weise ein. Sie ist, und das ist wohl typisch für das liedkompositorische Konzept, das dem ganzen Zyklus zugrunde liegt, nicht primär ausgerichtet auf eine musikalische, unter Einsatz von klangmalerischen Mitteln erfolgende Evokation des lyrischen Bildes, vielmehr geht es Beethoven darum, die seelische Gestimmtheit zu erfassen, die sich beim lyrischen Ich bei der Imagination dieses Bildes einstellt.


    Alles, die Entfaltung der melodischen Linie, wie auch ihre Begleitung durch das Klavier, ereignet sich im Pianissimo und in einem langsam anwachsende Ritardando. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie eine Bogenbewegung, die anschließend in eine Tonrepetition mündet. Dabei ereignet sich eine Steigerung der Expressivität dadurch, dass beim zweiten Mal Anstieg und Fall nicht in Sekundschritten erfolgen, sondern über das Intervall einer Terz, so dass auf dem Gipfel eine höhere tonale Lage erreicht wird. Und nicht nur das: Aus der einfachen Tonrepetition, die sich dort beim ersten Mal ereignet, wird beim zweiten Mal eine zweifache, und der nachfolgende Fall erfolgt nun nicht in repetierenden Sekundschritten, sondern - zu dem Wort „verglühet“ - direkt und unmittelbar über das große Intervall einer Sexte. Hinzu kommt der klangliche Effekt, der von der Harmonik ausgeht. Beschrieb sie beim ersten Mal noch die Rückungen, wie sie in der Liedmusik der ersten Strophe erfolgten, also im Raum von Tonika und Dominanten, so geht sie nun bei den melodischen Tonrepetitionen auf den Worten „nach dem stillen blauen See“ in ein warmes G-Dur über, und dabei verbleibt sie auch bei dem nachfolgenden Vers „Und sein letzter Strahl verglühet“, beschreibt allerdings, wie schon am Ende des vorangehenden, eine Rückung nach c-Moll.


    Die Bewegung, die die melodische Linie auf den Worten „Hinter jener Bergeshöh´“ macht, der aus einer dreifachen Tonrepetition in hoher Lage hervorgehende Sekundsprung mit nachfolgend zweifachem, anfänglich gedehntem Sekundfall, wirkt, auch weil sich hier harmonisch ein Übergang vom G-Dur über ein dominantisches F-Dur nach B-Dur ereignet, wie ein Nach- und Ausklingen dieses zarten lieblichen Zaubers, den die Liedmusik in dieser zweiten Strophe entfaltet. Dazu trägt das Klavier auf klanglich gewichtige Weise bei. Nachdem es anfangs noch dabei bleibt, die melodische Linie in ihrer ersten Bogenbewegung im Diskant mit den gebrochene Akkorde darstellenden Sechzehntelfiguren zu begleiten, wie es das die ganze erste Strophe über tat, geht es nun am Ende der ersten kleinen Melodiezeile, also bei dem Wort „See“ unvermittelt im Diskant zu repetierenden Sechzehntel-Akkorden in G-Dur über, die im Bass synchron von Sechzehntel-Oktaven begleitet werden. Und dabei bleibt es bis zum Ausklingen der Dehnung auf der letzten Silbe des Wortes „Bergeshöh´“ am Ende der zweiten Strophe.


    Auf der dritten Strophe liegt die Liedmusik der ersten, aber Beethoven lässt die melodische Linie nun gleichsam auftaktig einsetzen, indem er die Worte „und du singst“ „molto adagio“ auf einer erst einmal mit einer kleinen und danach einer großen Sekunde ansteigenden melodischen Linie deklamieren lässt, bevor dies danach in unmittelbarem Anschluss in der Weise geschieht wie es in der ersten Strophe der Fall ist. Das Klavier vollzieht diese Auftaktbewegung der Melodik in Gestalt von Oktaven im Diskant mit. Dabei handelt es sich nicht um einen vordergründig dramatischen Effekt, es ist wohl eher so zu verstehen, dass das lyrische Ich bei der Deklamation der Worte „und du singst, was ich gesungen“ ins Zögern gerät, weil es sich dabei ja um einen Wunsch handelt, dessen In-Erfüllung-Gehen alles andere als gewiss ist. Man kann diese melodische Geste also durchaus als kompositorischen Niederschlag eines tiefen Sich-Einfühlens in die Seelenlage des lyrischen Ichs auffassen und verstehen.
    Mit der vierten Strophe kehrt die Musik des Eingangsliedes wieder, und es ereignet sich damit auch unter formalen Aspekten die Konstitution des ganzen Werkes als Liedzyklus. Auf den vier Versen liegt die Melodik der letzten Strophe des Liedes, mit dem der Zyklus sich eröffnet, und dies sogar einschließlich des dortigen Klaviersatzes, der zwar kleinere Variationen aufweist, aber in seiner Grundstruktur identisch ist. Die Vortragsanweisung lautet zunächst „Ziemlich langsam und mit Ausdruck“, sie wird aber bei den Worten „Und ein liebend Herz erreichet“ abgelöst von „Nach und nach geschwinder, stringendo“, und auch das stellt eine Wiederkehr anfänglichen liedmusikalischen Geschehens dar. Nicht aber das, was sich nun, nach der auch das erste Lied beschließenden und auf dem Grundton „Es“ endenden Fallbewegung auf den Worten „ein liebend Herz geweiht“ ereignet.


    Es folgt ein kurzes Zwischenspiel, über dem die für alles Nachfolgende geltende Anweisung „Allegro molto e con brio“ steht und in dem das Klavier die melodische Figur auf den Worten „und ein liebend Herz erreichet“ wiederholt. Und das erweist sich im Folgenden wie ein Verweis auf das, was sich nun ereignet. Es ist eine emphatische, von hymnischem Geist getragene und beflügelte Steigerung der Liedmusik zum Höhepunkt ihrer Expressivität, und sie bezieht ihre geradezu überwältigende Eindringlichkeit daraus, dass sie dabei ihre Nahrung ganz und gar aus eben dieser melodischen Figur bezieht, in deren Zentrum die lyrischen Worte „ein liebend Herz“ steht. Es gibt in dieser permanenten, nicht nur die beiden letzten Verse, sondern darin auch einzelne Wortgruppen beinhaltenden Wiederholung auch kurze Passagen, in der die melodische Linie eine von neuen Elementen bereicherte Bewegung beschreibt. Das ist bei den Worten „Dann vor diesen Liedern weichet / Was geschieden uns so weit“ der Fall, an deren Ende sie in Gestalt einer Fermate kurz innehält. Das ereignet sich dann noch einmal bei den Worten „ein liebend Herz geweiht“, und beide Male bekundet sich darin, dass diese liedmusikalische Emphase eine nachdenkliche ist, keine die sich im Ergötzen über sich selbst entfaltet, sondern vom Glauben an die Macht des „liebenden Herzens“ gespeist wird.


    Und so will auch ihr die Melodik des Liedes beschließender Höhepunkt auf den Worten „Was ein liebend, liebend Herz geweiht“ verstanden werden. Er ereignet sich auf der höchsten tonalen Ebene, der eines hohen „G“, und das in liedmusikalisch-dynamischem Fortissimo. Bemerkenswert und von großer liedkompositorischer Nachdenklichkeit zeugend ist dabei, dass die melodische Linie noch einmal mit dem deklamatorischen Gestus einsetzt, mit dem sie den Zyklus auf den Worten „Auf dem Hügel“ eröffnete: Einer Tonrepetition von zwei deklamatorischen Viertel-Schritten, denen ein punktierter nachfolgt. Nur dass sich das dieses Mal auf einer um eine veritable Sexte angehobenen tonalen Ebene ereignet, und dort ja auch bleiben will. Denn die Fallbewegung, die sich auf dem Wort „liebend“ ereignet, wird sofort in geradezu massiver Weise korrigiert, indem nämlich das ganze Wort wiederholt wird und die melodische Linie dabei in einen dreischrittigen Aufschwung zurück zu dem hohen „G“ übergeht, um sich dort einem lang gedehnten Sekundfall zu überlassen. Aber selbst dieser wird am Ende noch einmal widerrufen. Der die Melodik abschließende Terzfall auf dem Wort „geweiht“ setzt noch einmal auf eben diesem hohen „G“ an, um auf dem Grundton „Es“ enden zu können.


    Ein Nachspiel folgt, in dem sich die Musik aus diesem Außer- sich-Sein, in die es sich gerade gesteigert hatte, wieder zu ihrem eigentlichen Wesen, der stillen, schwärmerischen Imagination liebeerfüllter Gemeinsamkeit zurücknimmt. Nach einem, noch sforzato erfolgenden Staccato-Anstieg dreistimmiger Akkorde im Diskant geht das Klavier unvermittelt und piano zur Artikulation der melodischen Figur auf den Worten „und ein liebend Herz erreichet“ über und wiederholt dabei deren Fallbewegung.
    Mit einem forte ausgeführten Es-Dur-Schlussakkord, der mit einem Achtelanstieg eingeleitet wird, schließt die Liedmusik.
    Es ist eine große, - so groß, dass Schumann die melodische Linie auf den Worten „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ in seine 1839 erschienene C-Dur-Klavierfantasie op.17 aufgenommen hat.

  • "Zärtliche Liebe", WoO 123


    Ich liebe dich, so wie du mich,
    Am Abend und am Morgen,
    Noch war kein Tag, wo du und ich
    Nicht teilten unsre Sorgen.


    Auch waren sie für dich und mich
    Geteilt leicht zu ertragen;
    Du tröstetest im Kummer mich,
    Ich weint´ in deine Klagen.


    Drum Gottes Segen über dir,
    Du, meines Lebens Freude.
    Gott schütze dich, erhalt dich mir,
    Schütz´ und erhalt uns beide.


    (Carl Friedrich Wilhelm Herrosee)


    Eine lyrische Liebeserklärung in einfacher, den direkten, unvermittelten und jegliche metaphorische Verbrämung meidenden Ansprache-Ton suchender Sprachlichkeit, die am Ende in einen Segen mündet und darin den Beruf ihres Autors verrät: Es ist Carl Friedrich Wilhelm Herrosee (1754-1821), der als Hof- und Schlossprediger in Züllichau an der Oder tätig war und im Zusammenhang damit auch geistliche Lieder verfasste.
    Beethovens Komposition darauf wurde zu einem seiner bekanntesten Lieder, und sie nahm auch einen bemerkenswerten Lauf. Das Manuskript kam erst in Schuberts Hände, der auf einer freien Seite davon eine eigene Komposition auf diesen lyrischen Text notierte, und danach erwarb es Brahms und reihte es in seine Autographen-Sammlung ein.


    Beethoven komponierte dieses Lied 1797. Ursprünglich war es als fünfstrophige Komposition angelegt, wurde von ihm aber umgearbeitet und in die vorliegende Fassung gebracht. Als solche stellt sie eine Art Zwitter aus Durchkomposition und Strophenlied dar. Auf den ersten beiden lyrischen Strophen liegt jeweils eine eigene Liedmusik. Auf der dritten kehrt die der ersten in – bis auf den melodischen Auftakt – unveränderter Gestalt wieder. Daran aber schließt sich, darin eine Ausweitung der dritten Liedstrophe mit sich bringend, eine Art Variation auf den beiden letzten Versen an, dies in Gestalt einer Wiederholung derselben im Originalwortlaut und einer Ergänzung durch eine mehrfache zu einer emphatischen Steigerung der liedmusikalischen Expressivität führenden Wiederkehr der Worte „erhalt uns beide“. Die Liedmusik steht in G-Dur als Grundtonart, weist einen Zweivierteltakt auf, und die Tempo-Vorgabe lautet „Andante“.


    Was ist es, dieser Frage sieht man sich als analytisch-reflexiv ausgerichteter Rezipient geradezu zwangsläufig gegenübergestellt, was dieser Liedmusik zu einem solch hohen Bekanntheitsgrad, ja regelrechter Beliebtheit verholfen hat?
    Die Antwort darauf erfordert natürlich ein Sich-Einlassen auf die Struktur derselben, und dieses soll auch im folgenden in Beschränkung auf die wesentlichen Elemente erfolgen. Aber um das Ergebnis gleich vorweg, und auf seinen Kern gebracht darzustellen:
    Es ist die Fähigkeit des Komponisten, eine Melodik zu konzipieren, die sich, in enger Anlehnung an die Gestalt und den Gehalt der lyrischen Sprache, deren Gestus der liebevoll-einfachen, direkten und unverblümten Ansprache an das Du in vollkommener Weise musikalisch aufzugreifen vermag. Sie ist in der ausgeprägt kantablen Gebundenheit der deklamatorischen Schritte, vom Geist italienischer Melodik inspiriert, und Beethoven zeigt sich darin als Schüler Salieris. Nicht ohne Grund weist die in zeitlicher Nähe erfolgte Vertonung der Metastasio-Verse „La partenza“ (WoO 124) in ihrer Melodik eine auffällige Nähe zu diesem Lied auf.


    Die melodische Linie setzt auftaktig mit einem Sextsprung ein, und dies nicht nur ohne Vorspiel, sondern sogar ohne Begleitung durch das Klavier. Diese beginnt erst im zweiten Takt, in Gestalt von legato ausgeführten, steigend und wieder fallend angelegten Sechzehntel-Figuren im Diskant über lang gehaltenen Oktaven im Bass. Das bleibt, was den Diskant anbelangt, mit nur einer Ausnahme die Struktur der Begleitung in der ersten Strophe. Die Ausnahme ereignet sich bei den Worten „noch war kein Tag, wo du und ich“ dergestalt, dass die Sehzehntel-Figuren nun aus repetierenden bitonalen Akkorden im Wechsel mit tiefer liegenden Einzeltönen bestehen. Der Klaviersatz ist darauf angelegt, die melodische Linie zu tragen, ihr ein durch die zwei Sechzehntel-Figuren gleichsam breit angelegtes klangliches Bett zu bereiten, in dem sie sich entfalten kann. Und das gilt für das ganze Lied. Nur einmal weicht das Klavier von dieser Rolle und Funktion ab, und das geschieht bezeichnenderweise dort, wo sich die Liedmusik auf den Höherpunkt ihrer Expressivität steigert, in der Phase der Wiederholungen am Ende also. Dort beschreibt das Klavier in einer Achtelpause für die Singstimme im Diskant zwei Mal einen Bogen aus Sechzehntel-Oktaven, der den Gestus der melodischen Linie auf den – für Beethoven bedeutsamen – Worten „und er erhalt´ uns beide“ akzentuiert.


    Offenkundig – und unüberhörbar – kommt der melodischen Linie der Singstimme die dominante Rolle in dieser Liedkomposition zu. Und die füllt sie auf beeindruckende Weise aus. Nicht dass sie sich dabei in den Vordergrund drängte, - in Gestalt sprunghafter Entfaltung in großen tonalen Räumen oder ausgreifender Dynamik etwa. Was den letzteren Aspekt anbelangt, so verbleibt sie weitgehend im Bereich des Pianos. Nur zwei Mal ereignen sich Ausbrüche in den des Forte, eingeleitet mit vorgelagerten Crescendi: Bei der Wiederholung der Worte „in deine Klagen“ und – wie zu erwarten, weil es hier um die zentrale Aussage des Liedes geht – bei dem intensiven Ausdeuten und Akzentuieren des semantischen Gehalts der beiden letzten Verse.


    Nein, die Melodik dieses Liedes entfaltet sich – und darin volksliedhaften Geist atmend – in ruhiger, jegliche schroffe Sprunghaftigkeit meidender und auf die innere Gebundenheit der Schritte achtender Deklamation. Sprungbewegungen gibt es durchaus, sie fungieren aber zumeist als melodischer Auftakt und sollen in dieser Funktion durchweg legato ausgeführt werden. Daneben finden sich nur noch Sprünge über Sekundintervalle in Gestalt von Sechzehntel-Figuren, die dazu dienen, die jeweilige melodische Aussage zu akzentuieren, und auch hier gilt zumeist die Legato-Vorschrift. Und in dieser ihrer Struktur und dem Gestus ihrer Entfaltung empfindet man sie als ganz und gar adäquaten musikalischen Ausdruck der von tiefer Liebe zum Du erfüllten und den Erhalt der liebeerfüllten Gemeinsamkeit beschwörenden Haltung des lyrischen Ichs.


    In geradezu exemplarischer Weise ist dies bei der das Lied so stark prägenden, weil überaus eingängigen Melodik der ersten (und damit auch der dritten) Strophe zu erleben. Die Emphase, die einleitend mit der in ihrer Sprachlichkeit geradezu klassischen Liebeserklärung in den lyrischen Text tritt, greift die melodische Linie dergestalt auf, dass sie bei den drei, die ersten drei Verse einleitenden Sprungbewegung ein sich steigerndes Intervall beschreibt. Bei „ich liebe“ ist es ein auf einem tiefen „D“ ansetzender Sextsprung, bei „am Abend“ wird daraus einer über eine Septe und bei „noch war kein Tag“ steigt die melodische Linie mit einem vorangehenden Sechzehntel-Sprung zu einem hohen „D“ auf, um sich danach bei den Worten „wo du“ über zwei kleine Sekundschritte sogar noch bis zu einem hohen „E“ hinaufzubewegen. Was melodisch nachfolgt, eingeleitet mit den Worten „und ich“ und den ganzen letzten Vers umfassend, mutet melodisch wie ein Ausatmen an. Die melodische Linie verbleibt mit zwei Tonrepetitionen in mittlerer Lage und beschreibt bei dem Wort „uns´re“ zunächst eine dieses akzentuierende Kombination aus Sechzehntel-Sekund- und Terzfall und geht dann bei dem Wort „Sorgen“ in einen ruhigen, weil leicht gedehnten und auf dem Grundton endenden Sekundfall über.


    Was dabei durchweg ihren spezifischen, und eben diesen Eindruck ruhiger Entfaltung bewirkenden deklamatorischen Gestus prägt, ist die Tatsache, dass sie jeweils am Taktanfang in eine leichte Dehnung in Gestalt eines punktierten Achtels verfällt, dem ein deklamatorischer Sechzehntel-Schritt nachfolgt, bevor sie dann zu zwei weiteren Schritten im Wert von Achteln übergeht. Bei dem Wort „Morgen“ wird aus dieser Dehnung am Taktanfang sogar ein legato auszuführender, mit einem punktierten Achtel eingeleiteter Sekundsprung. Auch in ihrer Harmonisierung ereignen sich keine Modulationen und Rückungen, die die volksliedhafte Einfachheit der Liedmusik stören könnten. Die Harmonik verbleibt im Bereich der Tonika G-Dur und ihrer beiden Dominanten. Nur einmal ereignet sich eine diese harmonische Schlichtheit und Ruhe durchbrechende, aber nicht wirklich irritierende Rückung. Bei den Worten „wo du und ich“ (bzw. „erhalt´ dich mir“) geht die Harmonik von einem vorangehenden G-Dur erst nach C-Dur über und rückt danach auf geradezu kühn anmutende Weise nach der Doppeldominante A-Dur, bevor sie dann über die Dominante D-Dur zur Tonika zurückkehren kann. Es ist die Innigkeit der Hinwendung zum Du, die Beethoven an dieser Stelle aus dem lyrischen Text herausliest und der er mittels eines Aufstiegs der melodischen Linie in hohe Lage und eben dieser starken harmonischen Rückung den angemessenen liedmusikalischen Ausdruck verschafft.


    Das Prinzip der Wiederholung der auf den Versen liegenden melodischen Grundfigur, wie Beethoven es ja schon in der ersten Strophe angewendet und auf diese Weise den hohen Grad an Eindringlichkeit der Melodik bewirkt hat, setzt er in der zweiten Strophe fort. Auf den ersten beiden Versen beschreibt die melodische Linie die strukturell gleiche Bewegung, und das ist auch beim zweiten Verspaar der Fall. Der lyrische Gehalt dieser Strophe, der sich durchweg aus der Retrospektive auf vergangenes gemeinsames Leben speist, bringt einen neuen Gestus in die Melodik und ihre Harmonisierung, ohne dass dieser freilich mit einem Bruch in deren Grundcharakter einherginge. Die Ruhe in ihrer deklamatorischen Entfaltung behält sie bei, ja diese wirkt sogar noch gesteigert.


    Beim ersten Vers setzt die melodische Linie mit einem auftaktigen Sechzehntel-Sekundsprung ein, geht danach in eine Tonrepetition über, der ein sprunghafter Aufstieg in hohe Lage nachfolgt, wobei erneut die aus der Melodik der ersten Strophe schon bekannte Dehnung am Taktanfang auftritt. Beim zweiten setzt sie in der gleichen Weise ein, bringt aber eine Steigerung in ihre Expressivität dadurch, dass sie am Ende, bei den Worten „zu ertragen“, und dies als Reflex auf deren Semantik, statt einfacher Sprung- und Fallbewegungen nun solche in Gestalt eines dreifachen Sechzehntel-Sekundanstiegs und eines gedehnten Terzsprungs beschreibt. Ihre Grundstruktur und ihre Harmonisierung behält sie dabei freilich bei, und sie erweist sich darin, auch weil letztere sich im Bereich der Dominante D-Dur und ihrer Oberdominante bewegt, wie eine Vorstufe und Einleitung zu dem, was die Melodik auf dem zweiten Verspaar zu sagen hat.


    Und das ist nun wieder in der Tonika G-Dur und ihren beiden Dominanten harmonisiert und erweist sich, bedingt durch die um Trost und das Weinen um den Anderen kreisende lyrische Aussage, als liedmusikalisch gewichtiger. Deklamatorische Tonrepetitionen herrschen nun vor, und dies auf ausdrucksstarke Weise. Denn sie senken sich in der tonalen Ebene erst einmal in Sekundschritten ab, um danach beim letzten Vers dieser Strophe das Ganze, eingeleitet nun mit einem auftaktigen Sechzehntelsprung und deklamatorischen Vorschlägen bei den Tonrepetitionen auf den Worten „weint´“ und „Klagen“, noch einmal zu vollziehen. Aber damit nicht genug. Die Worte „in deine Klagen“ werden „crescendo“ noch einmal deklamiert, nun auf einer in Sekunden ansteigenden melodischen Linie, die in eine forte vorzutragende und mit einer Fermate versehenen Dehnung in oberer Mittellage mündet, die auf dem Wort „Klagen“ in einen doppelten Terzfall übergeht, dessen Ende noch einmal eine Dehnung durch eine Fermate erfährt. Verbunden ist dieses liedmusikalisch herausragende Ereignis mit einer Rückung von G-Dur hin die Dominante D-Dur, und es lässt erkennen, dass für Beethoven dieses Bekenntnis des tiefen Sich-Einfühlens in das geliebte Du ein bedeutsames Element der Grundhaltung des lyrischen Ichs ist.


    Eine solche liedmusikalische Akzentuierung einer Aussage des lyrischen Textes erfolgt am Ende des Liedes noch einmal, - in Gestalt einer Wiederholung des letzten Verspaares und ergänzend dazu einer Deklamation der Worte „erhalt´, erhalt´ uns beide´, erhalt´ uns beide“. Die Liedmusik steigert sich dabei ins Forte und geht zu einem beschwörenden Ton über, -dergestalt, dass die melodische Linie bei „Gott schütze dich“ eine Tonrepetition in hoher Lage beschreibt und sich in dieser Expressivität noch steigert, indem sie auf „erhalt´ dich mir“ einen gewichtigen, weil in Gestalt von deklamatorischen Viertel erfolgenden Sekundsprung von einem hohen „E zu einem „F“ und wieder zurück vollzieht, bei dem die Harmonik eine Rückung von C-Dur in ein nun als Dominante auftretendes G-Dur beschreibt und das Klavier mit Figuren aus repetierenden Sechzehntel-Akkorden und einem nachschlagenden Einzelton begleitet.


    Auf dem drei Mal deklamierten „erhalt uns beide“ liegt zunächst eine sich wiederholende, im Ton innig anmutende und den Charakter der Bitte zum Ausdruck Tonrepetition mit nachfolgend doppeltem und in der tonalen Ebene ansteigendem Terzfall, eine melodische Figur, die das Klavier beide Male in Gestalt einer Folge von Oktaven im Diskant noch einmal erklingen lässt. Die melodische Linie auf dem letzten „erhalt uns beide“ mutet danach wie ein die Liedmusik beschließendes „Amen“ an, war diese doch zuletzt mehr und mehr in den Gestus des Gebets übergegangen. Sie steigt – wieder in ruhigen Schritten – erst über eine Terz, dann über eine Quarte in hohe Lage auf und geht dann nach einem Sextfall auf dem Wort „beide in eine lange, mit einem eingelagerten Sechzehntel-Sekundfall verzierte Dehnung auf dem Grundton über.
    Das Klavier hat im dreitaktigen Nachspiel dazu, wie eine Art Verstärkung des nach oben sich richtenden Gebets anmutend, nur noch eine Folge von in hohe Diskantlage aufsteigenden Sechzehnteln beizutragen, denen zwei eine Rückung von der Dominante zur Tonika vollziehende und damit den Schlusspunkt setzende Akkorde nachfolgen.

  • "Andenken", WoO 136


    Ich denke dein,
    Wenn durch den Hain
    Der Nachtigallen
    Akkorde schallen!
    Wenn denkst du mein?


    Ich denke dein
    Im Dämmerschein
    Der Abendhelle
    Am Schattenquelle!
    Wo denkst du mein?


    Ich denke dein
    Mit süßer Pein,
    Mit bangem Sehnen
    Und heißen Tränen!
    Wie denkst du mein?


    O denke mein,
    Bis zum Verein
    Auf besserm Sterne!
    In jeder Ferne
    Denk' ich nur dein!


    (Friedrich von Matthisson)


    Matthissons Verse variieren das Thema Sehnsucht in Gestalt einer aus vier Situationen der existenziellen und emotionalen Befindlichkeit hervorgehenden Ansprache an das ferne geliebte Du, die drei Mal in eine Frage, zuletzt aber in die Versicherung des „in jeder Ferne“ gewährleisteten Gedenkens mündet. Affektiv hochgradig aufgeladene lyrische Bilder, von den „Nachtigallen“ über „Dämmerschein“, „Schattenquell“, „heißen Tränen“ bis hin zu den kosmischen Gefilden des „bessern Sternes“ verleihen dieser lyrischen Ansprache den gebotenen Nachdruck.


    Beethoven hat wohl nach diesem lyrischen Text gegriffen, weil „Sehnsucht“ eines seiner, ja intentional in grundsätzlicher Weise auf das musikalische Erfassen elementarer menschlicher Haltungen ausgerichteten liedkompositorischen Schaffens ist. Und das Thema „Sehnsucht“ scheint ihn diesbezüglich besonders angesprochen zu haben, gibt es doch neben dieser noch weitere Liedkompositionen, die sich damit befassen: Neben dem Schwergewicht „An die ferne Geliebte“ wären da noch zu nennen: Das bereits vorgestellte „Sehnsucht“ (Goethe, op.83, Nr.2), ferner „Sehnsucht“ (Goethe, „Lied der Mignon“, WoO 134), „Lied aus der Ferne“ (Reissig, WoO 137) und „Der Jüngling in der Fremde“ (Reissig, WoO 138). Die beiden Reissig-Vertonungen entstanden in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu „Andenken“, nämlich im Jahre 1809.


    Das Lied steht in D-Dur als Grundtonart, und die Tempovorgabe lautet „Andante con moto“. Es handelt sich um ein Strophenlied nach dem Schema „A-A-A-B“. Bei den ersten drei lyrischen Strophen sind melodische Linie und Klaviersatz identisch, die vierte Strophe weist eine eigene Liedmusik auf, allerdings greift die Melodik Elemente aus den vorangehenden Strophen auf, bindet also gleichsam an deren Liedmusik an. Es folgt – wie das ja bei Beethoven zu einer Art liedkompositorischem Grundprinzip geworden ist – ein langer Wiederholungsteil nach, der mit 21 Takten die nur 14 Takte umfassenden A-Teile an Umfang deutlich übertrifft und eigentlich eine eigene Strophe darstellt. Seine Funktion besteht darin- was dabei immer das kompositorische Anliegen Beethovens ist - , die aus seiner Sicht zentrale Aussage des lyrischen Textes und die dahinterstehende Haltung des lyrischen Ichs in allen ihren Dimensionen mit den Mittel der Musik auszuloten und zu akzentuieren. Und das ist bei den Worten der letzten Strophe der Fall, geht hier das lyrische Ich doch von der Haltung des Gestehens und Bekennens zu der des an das Du gerichteten Appells auf der Grundlage eines visionären Vereint-Seins „auf besserm Sterne“ über.


    Im siebentaktigen Vorspiel lässt das Klavier im Diskant „dolce“ die melodische Linie der Singstimme auf den ersten vier Versen der ersten (zweiten und dritten) Strophe erklingen, und dies mit einem Triller und zweimaligen Vorschlägen versehen, was die Anmutung von klanglicher Lieblichkeit, die dieser Melodik ohnehin eigen ist, noch verstärkt. Im Bass wird sie bereits mit den Figuren begleitet, wie sie auch danach bei ihrer Deklamation durch die Singstimme zum Einsatz kommen und ihrerseits ebenfalls klangliche Leichtigkeit, Beschwingtheit und Lieblichkeit suggerieren. Es sind Dreiergruppen von über gehaltenem Einzelton aufsteigenden Achteln, die später in ein Auf und Ab von Terzen und Einzeltönen übergehen. Das Bekenntnishaft-Seelenvolle der die Strophen einleitenden Worte „ich denke dein“ bringt die melodische Linie durch einen mit einem Quartsprung eingeleiteten, leicht gedehnten, weil in Gestalt von punktierten Vierteln erfolgenden Sekundfall zum Ausdruck, der über einen Sekundsprung in eine lange Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „dein“ mündet. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von der Tonika D-Dur in die Dominante und wieder zurück.


    Nach diesem bedeutungsschwanger-gewichtigen Auftritt wirkt die Bewegung der melodischen Linie auf den drei nachfolgenden Versen wie ein ruhiges kontinuierliches Ausklingen, in dem sich das lyrische Ich den Empfindungen und Gefühlen überlässt, die es mit diesem anfänglichen, seine Beziehung zur Geliebten vergegenwärtigenden Geständnis in sich geweckt hat. Dieser Eindruck stellt sich deshalb ein, weil diese Bewegung sich als ein im Intervall sich verkleinerndes und in der tonalen Ebene absinkendes Auf und Ab im immer gleichen deklamatorischen Gestus von unbetontem und betontem Schritt ereignet und schließlich über einen in Gestalt eines kleinen bogenförmigen und in Sekundschritten sich vollziehenden Falls in tiefer Lage endet. Wobei bemerkenswert ist, dass das Klavier hierbei von seinem vorangehenden Gestus der Begleitung mit triolischen Achtelfiguren ablässt und nun die Bewegungen der melodischen Linie über die Terzen in seinen neuen Figuren mitvollzieht. Am Ende, bei dem mehrfachen Sekundfall auf den Worten „Akkorde schallen“ (bzw. „am Schattenquelle“ und „und heißen Tränen) geht es dabei sogar so weit, dass dieser Mitvollzug ausschließlich in Gestalt von Terzen erfolgt, und dies in dynamisch expressiver, nämlich über ein Crescendo zu einem Sforzato führender und dann bei dem Wort „schallen“ sich in ein Piano zurückziehender Weise.


    Es sind bedeutsame, gewichtige und das lyrische Ich tief bewegende Gedanken und Gefühle, um die es in den ersten drei Strophen geht und die sich lyrisch in entsprechender Metaphorik Ausdruck verschaffen. Und eben deshalb verleiht Beethoven der diese Metaphorik reflektierenden und sich dabei dem Auskling-Gestus überlassenden Melodik im Klaviersatz eine Akzentuierung in eben dieser Weise. Und er geht darin sogar noch weiter. Er verbindet den durch zwei vierstimmige Akkorde akzentuierten gedehnten Sekundfall auf dem Wort „schallen“ mit einer harmonischen Rückung von der Tonika in die Dominante und lässt das Klavier im zweitaktigen Nach- und Zwischenspiel die bogenförmige End-Fallbewegung der melodischen Line in Gestalt von Terzen im Diskant noch einmal vollziehen, mitsamt der harmonischen Rückung in die Dominante A-Dur also.


    Und darin manifestiert sich sein eigentliches kompositorisches Anliegen: Er will die Grundhaltung des lyrischen Ichs liedmusikalisch erfassen. Sie kulminiert am Ende der ersten drei Strophen jeweils in einer an das Du gerichteten Frage. Dieser will er den angemessenen Nachdruck verleihen, und deshalb lässt er die melodische Linie auf den ersten vier Versen in eben dieser Gestalt, dieser Harmonisierung und mit dieser Akzentuierung durch den Klaviersatz enden.
    Dieses Ende ist, besonders durch seine dominantische Harmonisierung, so etwas wie ein musikalisches Portal für das, was die melodische Linie auf den Worten des letzten Verses zu sagen hat. Für Beethoven haben sie großes Gewicht, und deshalb lässt er sie nicht nur wiederholen, er legt auf sie auch eine in der Wiederholung ihres deklamatorischen Gestus sich steigernde Melodik und lässt diese im Klaviersatz, abweichend von der bislang klanglich eher filigranen triolischen Struktur, nun mit gewichtigen, statisch auftretenden und lang gehaltenen Akkorden begleiten. Die melodische Linie beschreibt bei den Worten „wenn denkst du mein“ zunächst eine mit einem Sekundsprung einsetzende Dehnung auf „denkst“ und geht nach einem weiteren Sekundsprung in einen Terzfall über. Bei der Wiederholung setzt sie aber mit eine Dehnung auf „wenn“ ein, schwingt sich danach mit einem Sechzehntel-Quartsprung in hohe Lage auf, verharrt dort in einer Dehnung und geht nach einer fermatierten Pause bei „du mein“ zu einem Sekundsprung in der tiefen Lage eines „Gis“ über, der in eine mit einem Vorschlag versehene Dehnung mündet.


    Mit dem Übergang zur unmittelbar an das Du gerichteten Ansprache, wie er sich mit den Worten „O denke mein“ in der vierten Strophe ereignet, geht die melodische Linie zu einem neuen Gestus über, bei dem sie allerdings ein deklamatorisches Element aus der Melodik der A-Strophen aufgreift: Es ist das Auf und Ab, in dem sie sich nach der Emphase des Eingangsverses langsam absenkt. Nur wird dieses Mal bei den Worten „O denke mein, / Bis zum Verein / Auf besserm Sterne!“ daraus eine Aufstiegsbewegung, und dies jeweils in einem Auf und Ab über das Intervall einer Terz. Und sie mündet bei dem Wort „Sterne“ in einen Sekundfall in hoher Lage, der hohe Expressivität entfaltet, weil in ihn eine triolische Achtelfigur eingelagert ist und er durch gleich zwei Fermaten eine extreme Dehnung erfährt. Das Klavier vollzieht diese Bewegung im Diskant in Gestalt von Einzeltönen, die am Ende in Akkorde übergehen, mit und steigert auf diese Weise den Nachdruck, den sie dem sehnlichen Wunsch des lyrischen Ichs verleiht. Das hat ohnehin schon eine Vorbereitung erfahren, denn Beethoven stellt dieser Melodiezeile eine mit den Worten „O denke, o denke mein“ voraus, bei der die melodische Linie zwei Mal einen doppelten Sekundfall in mittlerer Lage beschreibt, der bei zweiten Mal aber um eine Sekunde höher ansetzt und am Ende in ein Auf und Ab von Achteln in Sekundintervallen auf mittlerer Lage übergeht.


    Die Worte „In jeder Ferne / Denk ich nur dein“ werden auf einer ebenfalls expressiven, weil auf einem hohen „G“ ansetzenden und rasch, nämlich in Gestalt von Achtel-Sekundschritten über das Intervall einer Oktave in die Tiefe fallenden melodischen Linie deklamiert. Sie setzt in verminderter G-Harmonisierung ein und mündet über ein h-Moll schließlich in e-Moll-Harmonik. Und auch dynamisch nimmt sie eine herausragende Stellung ein: Der mit einer Dehnung einsetzende Fall in hoher Lage auf dem Wort „jeder“ wird forte vorgetragen und vom Klavier mit einem Fortissimo-Akkord begleitet. Danach aber gehen Singstimme und Klavier unvermittelt in den Bereich des Pianos über. Um diesem auf so eindringliche Weise in Liedmusik umgesetzten Bekenntnis des lyrischen Ichs noch weiteren Nachdruck zu verleihen, lässt Beethoven die Worte „denk ich nur dein“ wiederholen, dieses Mal aber in Gestalt einer bogenförmig angelegten und deklamatorisch gewichtig auszuführenden melodischen Linie: Auf jedem Wort liegt ein deklamatorischer Schritt im Wert eines Viertels, dem eine Achtelpause nachfolgt.


    Aber damit ist es nicht zu Ende mit diesem liedmusikalischen Nachdruck. Nach einer fast zweitaktigen Pause für die Singstimme wird die Liedmusik auf der vierten Strophe in unveränderter Gestalt wiederholt, und dies einschließlich der vorgelagerten kleinen Melodiezeile auf den Worten „O denke, o denke mein!“. Die einzige Variante ereignet sich dabei am Ende der gewichtigen Melodik auf den Worten „denk´ ich nur dein“, dies in Gestalt eines zum Grundton „D“ führenden Quintfalls statt des Quartfalls beim ersten Mal. Aber diese Worte haben es Beethoven derart angetan, dass er ihnen nun noch vier weitere kleine, durch Dreiviertelpausen voneinander abgesetzte Melodiezeilen widmet. Die erste ist im Originalwortlaut als in deklamatorischen Sekundschritten ansteigende Linie angelegt, die zweite hingegen, nun auf den Worten „nur dein, nur dein“, als zweifacher Terzfall in hoher Lage.


    Die dritte schließlich wirkt wie eine Kombination aus beiden und bringt, als emphatischer Beschluss der Melodik dieses Liedes auftretend, noch einmal auf expressiv gesteigerte Weise zum Ausdruck, was Beethoven aus diesen Matthisson-Versen und insbesondere ihrem letzten darunter herausgelesen hat. In den drei vorangehenden Pausen für die Singstimme hat das Klavier immerzu eine nach einem Sprung fallend angelegte Achtelfigur erklingen lassen. Sie bringt das Wesen dieser Aussage „nur dein“ zum Ausdruck: Liebeerfüllt-innige Zuneigung. Und das ereignet sich in emphatischer Steigerung auch bei der zweitletzten Melodiezeile, der Beethoven die Worte „Nur dein, nur dein! Ja nur dein“ zugrunde gelegt hat. Die melodische Linie steigt in drei Sekundschritten an, beschreibt nach einer Achtelpause einen Quartsprung zu einem hohen „G“ und überlässt sich dort auf dem Wort „ja“ einer extrem langen, eineinhalb Takte einnehmenden und überdies auch noch mit einer Fermate versehenen und vom Klavier mit einem lang gehaltenen A-Dur-Akkord begleiteten Dehnung, bevor sie bei den Worten „nur dein“ in einen Fall über eine Quarte übergeht, in den – den emotionalen Gehalt verstärkend – ein melismatischer Sechzehntel-Sekundsprung eingelagert ist.


    Aber Beethoven will es damit nicht gut sein lassen. Nach einer fast viertaktigen Pause für die Singstimme, in der das Klavier die den Worten „nur dein“ zugehörige melodische Figur in Gestalt von Akkorden erklingen lässt, lässt er sie noch einmal deklamieren. Wie im Nachtrag zwar, nun aber auf einem in hoher Lage erfolgenden melodischen Terzfall, in dem, die Zärtlichkeit des lyrischen Bekenntnisses ein letztes Mal zum Ausdruck bringend, ein kleiner Sekundfall-Achtelvorschlag erfolgt.
    Das Klavier, das zuvor fast einen Takt lang geschwiegen hat, gibt der langen melodischen Dehnung auf dem Wort „dein“ nun noch einen ebenso langen D-Dur-Akkord bei.

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  • "Der Kuß", op. 126


    Ich war bei Chloen ganz allein,
    Und küssen wollt' ich sie.
    Jedoch sie sprach, sie würde schrei´n,
    Es sei vergebne Müh´!


    Ich wagt' es doch und küßte sie,
    Trotz ihrer Gegenwehr.
    Und schrie sie nicht? Jawohl, sie schrie --
    Doch lange hinterher.


    (Christian Felix Weiße)


    Diese Verse des 1726 in Annaberg geborenen und 1804 in Stötteritz gestorbenen Dichters und vielseitigen, der Aufklärung nahestehenden Schriftstellers Christian Felix Weiße entwerfen eine heitere Rokoko-Szene, die eine witzige Pointe aufweist. Es wird ein Spiel mit dem Wort „schreien“ getrieben, das in ein überraschendes Ende mündet. Es bleibt offen, warum Chloe erst „lange hinterher“ schreit, und vermutlich war es eben diese auf einen geistvollen Effekt ausgerichtete Anlage des Gedichts, das Beethoven dazu bewog, es in Liedmusik zu setzen.
    Deren Anlage, das schier endlos anmutende musikalische Auskosten der letzten lyrischen Worte und die Beifügung eigener, spricht jedenfalls deutlich für diese Annahme. Dieses kleine – und poetisch völlig bedeutungslose – kleine lyrische Werkchen von Weiße muss eine regelrechte Faszination auf Beethoven ausgeübt haben. Anders lässt sich nicht erklären, dass er lange Jahre, nachdem er zunächst eine kompositorische Skizze dazu angefertigt hatte – das war vermutlich 1794 oder 1798 der Fall - , darauf wieder zurückgriff. Das geschah im Dezember 1822 (Vermerk auf dem Titelblatt: „Componirt im December 1822“), und er veröffentlichte das, was dabei herauskam, sogar unter einer eigenen Opus-Ziffer mit dem Titel „Der Kuss, von C.F.Weisse. Ariette in Musik gesetzt von L. van Beethoven. Op. 128“. Es handelt sich dabei um die letzte von ihm publizierte Liedkomposition.


    Das Lied ist durchkomponiert. Ein Dreivierteltakt liegt zugrunde, die Grundtonart ist A-Dur und die Vortragsanweisung lautet: „Mit Lebhaftigkeit, jedoch nicht in geschwindem Zeitmasse, und scherzend vorgetragen“. Und in der Tat: Es ist ein reizvoller liedmusikalischer Scherz, als was sich diese Komposition ihren Hörern darbietet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, - denn es ist ein musikalisch witziger, bei dem ein Spiel mit den Wesensmerkmalen der Gattung „Arie“ getrieben wird. Nicht ohne Grund trägt diese Liedkomposition den Untertitel „Ariette“. In ihrem letzten Teil schwelgt Beethoven mit hörbarem Vergnügen im melodisch-deklamatorischen Gestus der Arie.


    Das neuntaktige Vorspiel lässt den Geist vernehmen, der dieser Liedmusik zugrundliegt und in dem sie sich entfaltet: Es ist der einer spielerischen, ja verspielten Heiterkeit. Im Diskant erklingt in terzenbetonter Manier die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe liegt. Nach zwei aus Sprüngen bestehenden Figuren, zwischen denen sich eine Dehnung entspannt, wird aus dieser melodischen Linie eine mit einem Crescendo vorgetragene melismatische Wellenbewegung aus Sechzehnteln, die am Ende in eine Kombination aus Sprung und Fall übergeht. Fast möchte man darin eine Vorwegnahme dessen vernehmen, was sich danach in der Melodik des Liedes ereignet. Es ist ein Übergang von zunächst deklamatorisch gebundener Entfaltung der melodischen Linie zu immer stärker rhetorisch geprägter und vom Geist der Steigerung der Expressivität angetriebener Wiederholung von Textelementen. Dass sich die Liedmusik am Ende ganz und gar darin ergeht, wirkt von daher wie in der Logik ihrer Anlage liegend.


    Bei den Worten „Ich war bei Chloen ganz allein, / Und küssen wollt' ich sie“ beschreibt die melodische Linie einen relativ raschen Anstieg über das Intervall einer ganzen Oktave, geht dort, auf der zweiten Silbe von „allein“, erst einmal in eine Dehnung über, um sich danach in einer zierlich anmutenden, weil mit einem Achtelvorschlag versehenen Auf und Ab- Bewegung in oberer Mittellage zu entfalten. Das Klavier begleitet sie dabei zunächst relativ sparsam mit kurz angeschlagenen Achtel-Akkorden, lässt aber dann, bevor es melodisch um das Küssen geht, im Bass eine aufsteigend angelegte Kette von Achteln erklingen und folgt danach der melodischen Linie in ihren Bewegungen mit Terzen. Das ist, wenn man so will, noch eine liedmusikalisch konventionelle Umsetzung von lyrischem Text in Melodik. Nun aber beginnt eine Art Sich-Hineinsteigern in melodische Rhetorik. Beethoven will die lyrisch ohnehin schon zentrale Stellung des Wortes „küssen“ noch steigern und setzt dazu das Prinzip der Wiederholung ein, das im weiteren Verlauf der Liedmusik in sich steigernder Weise zum Einsatz kommt. Dahinter steht die Absicht, den narrativen Aspekt, dem Bericht des lyrischen Ichs von seinen Absichten und deren Folgen, eine weit über den lyrischen Text hinausgehende Dramatik zu verleihen.


    Aus dem zweiten Vers wird nun: „und küssen, küssen, küssen wollt´ ich sie“. Die melodische Linie beschreibt dabei drei relativ gewichtige, weil nun in deklamatorischen Viertel-Schritten erfolgende Anstiegsbewegungen, die durch Viertelpausen voneinander abgehoben werden und einen Steigerungseffekt dadurch aufweisen, dass die Sprünge in immer höhere Lage führen. Die Harmonik beschreibt dabei Rückungen von A-Dur über h-Moll und E-Dur zurück zur Tonika A-Dur. Auch der Vers „Jedoch sie sprach, sie würde schrei´n“ erfährt eine liedmusikalische Ausweitung durch Steigerung seiner lyrischen Aussage, indem die melodische Linie auf der Grundlage der Worte „sie würde schrei´n, sie würde schrei´n, sie würde schrei´n“ fortgesetzt wird. Wieder liegt auf diesen Worten eine melodische Anstiegsbewegung, und wieder bringt Beethoven einen Steigerungseffekt in sie, indem er sie beim ersten Paar, nun durch Sechzehntelpausen getrennt, um eine Terz angehoben ansetzen lässt und bei der Dreiergruppe, wiederum nach dem Prinzip verfahrend, die melodische Linie bis zu einem hohen „E“ ansteigen lässt, wo sie bei dem Wort „schrei´n“ in eine extrem lange, nämlich den Takt übergreifende Dehnung verfällt. Das Klavier vollzieht alle diese Bewegungen erst mit Terzen, dann mit Einzeltönen im Diskant mit, und die Harmonik beschreibt permanente Rückungen von der Tonika in die Dominante E-Dur, was die Expressivität der Dehnung am Schluss noch weiter steigert, zumal das Klavier hier auch zu repetierenden rhythmisierten Fallfiguren in Diskant und Bass übergeht.


    Wie nicht anders zu erwarten, wird auch der letzte Vers der ersten Strophe in Gestalt der Wortfolge „es sei vergebne Müh´, vergebne Müh´, es sei vergebne, vergebne Müh´“ wiederholt Das geschieht nun in einer dreimaligen melodischen Fallbewegung, wobei Beethoven wieder die Absicht verfolgt, der lyrischen Aussage – der angeblichen Vergeblichkeit der Absichten des lyrischen Ichs – mit den Mittel der Liedmusik den, wie er meint, ihr gebührenden Nachdruck zu verleihen. Diesen erreicht er dieses Mal in der Weise, dass die melodische Dehnung, die sich beim ersten Mal auf den Worten „vergebne Müh´“ in Gestalt einer Kombination aus Quartsprung und Terzfall ereignet, bei der ersten Wiederholung in eine „poco ritardando“ auszuführende gradlinige Fallbewegung übergeht, bei der die Harmonik nun eine Rückung nach fis-Moll beschreibt, bevor sie zum Übergang nach E-Dur über die Dominante zurückkehrt. Und bei der zweiten Wiederholung wird daraus wiederum ein auf der gleichen tonalen Ebene ansetzender gradliniger melodischer Fall, nun aber einer, der „a tempo“, ohne eingelagerte Dehnung und in kurzen deklamatorischen Schritten erfolgt und auf den Worten „vergebne Müh´“ am Ende in eine markante Kombination aus Quartsprung und Quintfall mündet, die das Klavier mit einer flotten, weil in rhythmisierter Weise ausgeführten Folge von Achteln und Sechzehnteln kommentiert, die wie eine spöttische Nachahmung der letzten Bewegungen der melodischen Linie wirkt.


    Damit dürfte das kompositorische Konzept, das Beethoven bei diesem Lied verfolgt, in hinreichend detaillierter Weise aufgezeigt sein, so dass sich die weitere Betrachtung der Liedmusik auf dieses Konzept ergänzende strukturelle Elemente beschränken kann, wobei auch die zunehmend in den Vordergrund tretende arienhafte Ausschweifung der Melodik Berücksichtigung finden muss. Das Prinzip der Wiederholung von lyrischem Text zum Zwecke der liedmusikalischen Ausweitung und Steigerung der lyrischen Aussage behält Beethoven bei der zweiten Gedichtstrophe nicht nur bei, er steigert es sogar noch, indem er die melodische Linie in ihrer Struktur auf größere Expressivität hin anlegt und auch den Klaviersatz mit dieser Intention um expressiv relevante strukturelle Elemente bereichert, wobei er dazu auch die zunehmend zum Einsatz kommende Pause nutzt, die er in die melodische Linie der Singstimme einbringt. Das geschieht in der zweiten Strophe vier Mal, und diese Pausen nehmen in allen Fällen mindestens zwei Takte in Anspruch. Dass dem ein arienhaft-theatralischer Gestus zugrundliegt, manifestiert sich auf aussagekräftige Weise dort, wo dem Wort „doch“ ein liedmusikalisch singulärer, weil von zwei Viertelpausen gerahmter Ort zugewiesen wird.


    Das geschieht im Kontext des liedmusikalischen Ausschlachtens der narrativ-dramatischen Elemente des lyrischen Textes, wie sich das schon in der ersten Strophe ereignete, nur dass es hier nun auf noch exzessivere Weise erfolgt. Schließlich tritt ja nun das Wort „schreien“ als Kontrapunkt neben das Wort „küssen“. Aber schon bei den ersten beiden Versen entfaltet die Liedmusik gesteigerte Expressivität, ausgelöst durch das anfänglich trotzig auftretende lyrische „doch“ und das dieses dann später konkretisierende Wort „Gegenwehr“. Die melodische Linie entfaltet sich nun, darin abweichend von ihrem Gestus in der ersten Strophe, in geradezu energischem und drei Mal sich wiederholendem Aufstieg in hohe Lage, um sich danach erst in insistierender Weise deklamatorischen Tonrepetitionen hinzugeben, wie das bei der Wiederholung der Worte „und küsste sie“ der Fall ist. Aber weil sie mit Rücksicht auf die Semantik des Wortes „Gegenwehr“ bei diesem Gestus des Insistierens nicht bleiben kann, geht sie zweimal - denn natürlich muss Beethoven dieses Wort wiederholen - nach dem Anstieg in einen expressiven, weil über ein großes Intervall erfolgenden Fall über. Beim ersten Mal ist es einer über eine Sexte, der sich bei der Silbe „-wehr“ über eine Sekunde fortsetzt, beim zweiten aber ein veritabler Oktavfall, der nun in eine Tonrepetition in tiefer Lage mündet.


    Die lyrische Pointe der letzten beiden Verse animierte Beethoven zur Entfaltung einer in ihrem Reichtum an expressiven melodischen Figuren arienhaft anmutenden Liedmusik, wobei er mit der ungewöhnlich umfangreichen, vor allem die Worte „lange hinterher“ betreffenden Wiederholung von lyrischem Text wohl darauf abzielte, eben dieses „erst lange hinterher“ erfolgende Schreien von Chloe sinnfällig werden, es gleichsam liedmusikalisch erfahrbar werden zu lassen.
    Es ist eine in ihrem Gestus dominant rhetorische Melodik, die man dabei vernimmt. So liegt auf den Worten „Und schrie sie nicht“ noch eine „poco adagio“ vorzutragende, in ihrem sprunghaften Aufstieg den Fragecharakter zum Ausdruck bringende melodische Linie, der prompt dann auch, um die Antwort spannend werden zu lassen, eine zweitaktige Pause nachfolgt. Und diese erfolgt dann in einer die Worte „jawohl“ und „schreien“ in seinem semantischen Gehalt reflektierende Antwort in Gestalt einer melodischen Linie, die sich mit einem Sextsprung in hohe Lage aufschwingt, dort in einer Tonrepetition verharrt, aber nur, um sich bei der Wiederholung der Worte „sie schrie“ in einen sforzato auszuführenden und in eine Dehnung in noch höhere Lage mündenden Sekundsprung zu steigern.


    Aber dabei soll es nicht bleiben. Nach einer weiteren Pause in der Länge von zwei Vierteln, in der das Klavier im Diskant permanent seine repetierend auf und ab angeschlagenen Sechzehntel erklingen lässt, mit denen es die melodische Linie hier begleitet, deklamiert die Singstimme ein trotzig einsames, weil von einer weiteren Pause gefolgtes „doch“, dem dann, nun vom Klavier mit ansteigenden Sechzehnteln begleitet, ein neuerliches, gleich zweimaliges „doch“ nachfolgt. Durchaus witzig, und den rhetorischen Gestus zum Ausdruck bringend, ist dabei, dass zwischen dieses beiden „doch“s eine fermatierte Achtelpause liegt, und Beethoven den um eine Sekunde abgesenkten neuerlichen Einsatz der melodischen Linie mit der Anweisung „lächelnd“ versieht.


    Damit ist der Ausklang der Melodik auf den Worten „noch lange hinterher“ in Gestalt von zwei sich absenkenden und in einen Sekundanstieg übergehenden Sprüngen eingeleitet. Aber es ist ja kein wirklicher Ausklang. Nach einer Dreiviertelpause für die Singstimme setzt das Spiel mit dem einsamen „doch“ erneut ein, und es folgt ein über elf Takte sich erstreckendes melodisches Ausschlachten der Worte „noch lange hinterher“ ein, in das einmal noch die Worte „sie schrie“ einbezogen werden. Und dies bezeichnenderweise einsetzend mit einem melodischen Quintsprung und einer „crescendo“ in hoher Lage vorzutragenden Dehnung in Gestalt einer Kombination aus Sekundsprung und Sechzehntel-Sekundfall, die sich in ihrer bogenförmigen Anlage in dem Sekundfall auf dem Wort „doch“ fortsetzt.


    Beeindruckend und effektvoll ist das schon, was man da vernimmt. Aber es erschöpft sich auch darin.
    Selbst wenn sich dieses Lied zu großer Beliebtheit aufzuschwingen vermochte, es ist - wie ich finde - kein liedkompositorisch wirklich bedeutsames.
    Vielleicht, so denke ich, liegt das daran, dass Beethoven sich mit einer vom Geist der Klassik getragenen und geprägten Liedmusik auf eine eminent rokokohafte lyrische Szenerie eingelassen hat.

  • "Der Wachtelschlag", WoO 129


    Horch wie schallt's dorten so lieblich hervor!
    Fürchte Gott! Fürchte Gott!
    Ruft mir die Wachtel in's Ohr!
    Sitzend im Grünen, von Halmen umhüllt,
    Mahnt sie den Horcher am Saatengefild:
    Liebe Gott! Liebe Gott!
    Er ist so gütig und mild.


    Wieder bedeutet ihr hüpfender Schlag:
    Lobe Gott! Lobe Gott!
    Der dich zu lohnen vermag.
    Siehst du die herrlichen Früchte im Feld?
    Nimm es zu Herzen, Bewohner der Welt!
    Danke Gott! Danke Gott!
    Der dich ernährt und erhält.


    Schreckt dich im Wetter der Herr der Natur,
    Bitte Gott! Bitte Gott!
    Ruft sie, er schonet die Flur.
    Machen Gefahren der Krieger dir bang´,
    Traue Gott! Traue Gott!
    Sieh, er verziehet nicht lang´!


    (Samuel Friedrich Sauter)


    Es mag wohl der diesem Bild vom Ruf der Wachtel inhärente akustische Aspekt, dieses jede Strophe geradezu beherrschende appellative „fürchte Gott“, „liebe Gott“, „lobe Gott“, „danke „Gott“, bitte Gott“ und „traue Gott“ gewesen sein, das Beethoven dazu bewogen haben mag, nach diesem Gedicht des 1766 geborenen,1846 verstorbenen und sich als Verfasser volkstümlicher Lyrik betätigenden Volksschullehrers Samuel Friedrich Sauter zu greifen. Diese Rufe verlocken regelrecht dazu, sie mit einer tonmalerischen melodischen Figur zu versehen und diese dann in ihrem zugehörigen liedmusikalischen Umfeld Variationen zu unterziehen, die ihren jeweiligen semantischen Gehalt reflektieren. Und genau das hat Beethoven auch getan, und es wurde eines seiner Lieder daraus, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Man darf aber wohl auch annehmen, dass er sich von der Lebenshaltung angesprochen fühlte, der Sauter hier lyrischen Ausdruck verleiht. Er dürfte sich darin wiedergefunden haben.


    Das Lied entstand 1803. Es ist durchkomponiert, ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, als Grundtonart fungiert F-Dur, und die anfängliche Tempovorgabe lautet „Larghetto“. Weder Tempo noch Takt bleiben allerdings stabil. Die Fülle der aus dem lyrischen Text sich herleitenden liedmusikalischen Aussagen lässt das Tempo gegen Ende in ein Allegro, ein Adagio und ein Allegretto übergehen, und das Metrum wandelt sich in dem wieder ungewöhnlich langen, nämlich sich auf 35 Takte erstreckenden Wiederholungsteil zu einem Sechsachteltakt.


    Im fünftaktigen Vorspiel erklingt, im Diskant auf der tonalen Lage eines hohen „C“ angeschlagen und beim ersten Mal ohne akkordische Begleitung im Bass, das Motiv, das in der nachfolgenden Melodik und im Klaviersatz eine zentrale Rolle spielen wird: Es ist der Wachtelschlag, bestehend aus einer Dreiergruppe von punktiertem Sechzehntel, Zweiunddreißigstel und Achtel. In dieser Rhythmisierung werden melodisch alle nachfolgenden Wachtelschlag-Rufe deklamiert, keineswegs aber durchweg in dieser hier im Vorspiel vorgegebenen strukturellen Gestalt. Der besondere Reiz dieser Komposition und zugleich ein ihre liedkompositorische Größe wesentlich mit bedingender Sachverhalt sind die Variationen, die Beethoven an dieser Grundstruktur vornimmt. Bei gleichbleibender Grundrhythmik wandelt sich nicht nur die tonale Ebene mitsamt der Harmonisierung, auf der der Ruf erklingt, es wandeln sich auch der Längenwert der deklamatorischen Schritte, insbesondere was die Dehnung am Ende anbelangt, und sogar das Prinzip der Repetition auf gleichbleibender tonaler Ebene wird aufgegeben. Und was dabei den Aspekt „kompositorische Relevanz“ anbelangt: Alle diese Variationen sind keine vordergründigen Effekte, vielmehr erweisen sie sich im Kontext der Liedmusik als in ganz und gar überzeugender Weise lyrisch-semantisch begründet.


    Der melodischen Linie der Singstimme wohnt von Anfang an der Gestus beschwingt-heiterer Entfaltung inne, den man als Ausdruck des zutiefst optimistischen, und aus Sauters gottgläubiger Naturerfahrung sich speisenden Geistes empfindet, der in der Liedmusik Ausdruck sucht und diesen auch findet, - in Gestalt vielfältiger Steigerungen ihrer Expressivität, bis hin zu der wahrlich exzessiven Ausschlachtung des semantischen Gehalts der letzten Strophe durch schier endlos anmutende Textwiederholungen.
    Die Bewegung, die die melodische Linie auf den Worten „Horch wie schallt's dorten so lieblich hervor! Fürchte Gott! Fürchte Gott!“ beschreibt, ist auf durchaus typische Weise repräsentativ für eben diesen Geist der Liedmusik. Sie steigt in gradliniger Weise in hohe Lage empor, geht danach in einen Fall über ein großes Intervall (eine ganze Oktave) über, dies aber nur, um danach in einen neuen, wiederum gradlinigen Anstieg überzugehen und diesen sogar am Ende, damit eben ihre tiefe Heiterkeit bekundend, mit einem Achtelvorschlag auf der zweiten Silbe von „hervor“ zu verzieren. Die Harmonik unterstützt das, indem sie, von der Tonika F-Dur kommend, bei dem Wort „lieblich“ ein kurzes g-Moll einfließen lässt, bevor sie am Ende dieser kleinen Melodiezeile eine Rückung zur Subdominante B-Dur vollzieht.


    Beim nachfolgend ersten Ruf, dem zweifachen „fürchte Gott“, verharrt die melodische Linie auf der Ebene eines „B“ in mittlerer Lage, die Harmonik beschreibt dabei aber, um dieser Mahnung Nachdruck zu verleihen, jeweils eine Rückung von b-Moll zur Dominante, und das Klavier schickt, außer dass es diese Figur in Gestalt von Terzen mitvollzieht, außerdem noch in gleicher Weise rhythmisierte Oktaven voraus und hinterher. Die melodische Linie auf den Worten „ruft mir die Wachtel ins Ohr“ wirkt mit ihren zweimaligen, sich dabei aber in der tonalen Ebene absenkenden und auf dem Grundton „F“ endenden Sprungbewegungen wie ein erläuternder Kommentar zu diesem appellativen „fürchte Gott“, und so versteht sich ja auch der zugrundeliegende lyrische Text. Aber das Klavier ruft in der anschließenden eintaktigen Pause für die Singstimme sofort in Erinnerung, dass es hier um mehr geht als schlichte Erzählung: Es lässt, wieder in Gestalt von Oktaven, zwei Mal den Ruf erklingen, dieses Mal nachdrücklich mit Figuren aus aufsteigenden Sechzehnteln im Bass begleitet.


    Geradezu idyllisch mutet nun aber die Melodik an, die auf den nachfolgenden Versen der ersten Strophe liegt. Und darin zeigt sich, dass sie, was in der zweiten und der dritten Strophe immer wieder zu erfahren ist, sehr wohl die einzelnen lyrischen Aussagen und die Bilder, die sie transportieren, zu reflektieren vermag. Hier, bei dem Bild von der im Grünen und von Halmen umhüllt sitzenden Wachtel, bewegt sie sich in geradezu tänzerisch wirkenden, weil in der Aufeinanderfolge von deklamatorischen Achtel- und Sechzehntelschritten rhythmisierten Weise in hoher Lage im Intervall einer Sekunde auf und ab, beschreibt bei dem Wort „Halmen“ eine melismatische Bogenfigur aus Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln und bei dem Wort „Saatengefild“, bevor sie sich, in G-Dur harmonisiert, auf den Grundton absenkt, sogar noch einen Doppelschlag. Und zur liedmusikalischen Anmutung von idyllischer Lieblichkeit trägt nicht nur die Harmonik bei, die sich hier, weitab von der Grundtonart F-Dur, in Gestalt von Rückungen im Bereich von A-Dur, d-Moll und G-Dur am Ende bewegt, sondern auch der Klaviersatz, der sich im Diskant in aufwärts ausgerichteten Sechzehntel-Triolen entfaltet.


    Das nachfolgende, wie immer zweifache, „liebe Gott“ ist, wie es sein semantischer Gehalt will, von ganz anderem liedmusikalischem Charakter. Nun soll nicht „gefürchtet“, sondern „geliebt“ werden, und so lässt denn das Klavier der melodischen Linie dieses Mal die Ruf-Figur nicht in Gestalt von Oktaven, sondern in Terzen vorausgehen, und dies in warmer G-Dur-Harmonisierung. Und der melodische Appell erklingt auf der tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage, dies vom Klavier auf klanglich liebliche Weise mit Sexten im Diskant und Terzen im Bass mitvollzogen und in Gestalt von Rückungen aus der Subdominante in die Tonika G-Dur harmonisiert. Und weil Beethoven diesem Bild vom die Liebe verdienenden, weil wesenhaft „milden“ und „gütigen“ Gott den gebotenen liedmusikalischen Nachdruck verschaffen will, legt er auf die Worte des letzten Verses nicht nur eine melodische Linie, die sich aus dem kurzschrittigen Fall bei „und mild“ in gewichtigeren Schritten wieder erhebt, er wiederholt diese Worte sogar noch einmal und verleiht dabei dieser melodischen Figur gesteigerten Ausdruck dadurch, dass er den Aufstieg in der tonalen Ebene anhebt, bei der Aufgipfelung auf das Wort „gütig“ nun eine Dehnung legt und den nachfolgenden Fall, den Wiederanstieg und den die Melodiezeile beschließenden Sekundanstieg in Legato-Sechzehntelschritten deklamieren lässt.
    Und das Klavier leistet seinen Beitrag zur liedmusikalischen Nachdrücklichkeit dieser Wiederholung des letzten Verses dergestalt, dass es die melodische Dehnung auf dem Wort „gütig“ mit einer Sechzehntel-Figur im Diskant begleitet und den nachfolgenden Fall der melodischen Linie in Gestalt von Sexten im Diskant und gegenläufigen Terzen im Bass mitvollzieht.


    In der zweiten Strophe vernimmt das lyrische Ich in dem Ruf der Wachtel die Aufforderung, Gott zu loben und zu danken. Den moralisierenden Ton, der damit in die Lyrik kommt, greift Beethoven mit einer entsprechend gewichtig angelegten Liedmusik auf, die aber - und das ist wieder ein den besonderen Reiz dieser Komposition ausmachendes strukturelles Merkmal – durch die beschwingte Leichtfüßigkeit kompensiert wird, die sie bei den beiden Bildern annimmt, die auf die Wachtel und auf Früchte im Feld Bezug nehmen. Bei dem Bild vom „hüpfenden Schlag“ der Wachtel geht die melodische Linie, um dem Wort „bedeutet“ ein besonderes Gewicht zu verleihen, zunächst aus einer Tonrepetition mit einem Sekundsprung in eine lange Dehnung über. Dass hier etwas Bedeutsames nachfolgen wird, hat schon das Klavier im Zwischenspiel dadurch angedeutet, dass es nach dem Rufmotiv eine aus dem hohen Diskant in die Tiefe des Basses fallende Folge von staccato angeschlagenen Sechzehnteln erklingen ließ. Und auch die Harmonik macht das vernehmlich: Sie rückt von dem vorangehenden C-Dur in den Bereich von As-Dur, und dies geltend für die ganze Strophe. Aber bei aller Bedeutungsschwere, die sich da andeutet: Nach der langen Dehnung geht die melodische Linie bei den Worten „hüpfender Schlag“ in eine tatsächlich hüpfend anmutende, weil in Gestalt von zwei Triolen erfolgende Fallbewegung über.


    Zwar behält die melodische Linie beim Rufmotiv „lobe Gott“ zunächst noch ihren Gestus der Tonrepetition auf konstanter tonaler Ebene bei, aber allein schon die Tatsache, dass diese Ebene nun nicht mehr ein „B“ oder gar in „G“ in hoher Lage, sondern ein „As“ ist und sich bei der Deklamation eine Rückung nach Des-Dur ereignet, verleiht ihm ein stärkeres Gewicht. Hinzu kommt aber, dass Beethoven den zweiten Ruf unmittelbar in die melodische Figur einbindet, die auf den Worten „Der dich zu lohnen vermag“ liegt. Und das ist in dem sprunghaften Aufschwung, den sie anfänglich beschreibt, und der nachfolgend gedehnten und mit einem Doppelschlag versehenen Bewegung in hoher Lage eine von große Eindringlichkeit, die das Klavier zusätzlich noch steigert, indem es den Aufschwung in Gestalt von nach oben gerichteten Sechzehntel-Figuren mitvollzieht.


    Bei dem zweifachen „danke Gott“ löst sich die melodische Linie aber von diesem Prinzip. Schon die Tatsache, dass sie, zunächst wieder als Repetition deklamiert, an die zweimalige triolische Aufstiegs- und Fallbewegung auf den Worten „nimm es zu Herzen, Bewohner der Welt“ in direkter Weise anschließt, und das Klavier nun im Bass mit einem Crescendo zu vierstimmigen repetierenden Achtelakkord-Figuren übergeht, deutet darauf hin, dass sie dieses Mal höhere Expressivität entfalten wird, um dem Aufruf zum Dank stärkeren Nachdruck zu verleihen. Und das geschieht auch. Beim zweiten „Danke Gott“ entfaltetet sie sich auf einer um eine kleine Terz angehobenen tonalen Ebene (einem „Es“) und überlässt sich dort einer langen Dehnung bei dem Wort „Gott“, derweilen das Klavier im Bass immerzu, und dieses Mal forte, mit seinen Sechzehntel-Akkordrepetitionen begleitet, zu denen synchron noch solche im Diskant hinzutreten. Das Klavier begleitet nun die Singstimme mit einem regelrecht orchestral ausgerichteten klanglichen Fundament, und dies bis zum Ende der lyrischen Strophe. Erst bei der Wiederholung der Worte „Der dich ernährt und erhält“ lösen sich diese Diskant und Bass übergreifenden Akkordrepetitionen auf und gehen erst in eine Folge von Einzelakkorden, dann aber sogar in fallend angelegte Achtelfiguren über, - darin eine Überleitung zur Liedmusik der letzten Strophe bildend.


    Die setzt regelrecht rasant ein: In Gestalt eines zweitaktigen vorangehenden Vor-Zwischenspiels eines Wirbels von sich langsam im Bass absenkenden Vierergruppen von Sechzehntel-Oktaven, die ganz offensichtlich den Schrecken klanglich imaginieren sollen, den die Natur-Erfahrung von Wetter auszulösen vermag. „Allegro molto“ lautet hier die Tempo-Vorgabe, und die gilt auch für den Vortrag der melodischen Linie auf dem ersten Vers, die, nun in C-Dur-Harmonisierung, in sprunghaft ansteigenden deklamatorischen Tonrepetitionen in obere Lage aufsteigt und dort in ein Auf und Ab übergeht. Aber mit dem nachfolgenden „bitte Gott“ geht die Liedmusik schon wieder in ein „Adagio“ über, und der gerade noch vorherrschende Viervierteltakt wird wieder vom die Liedmusik bislang prägenden Zweivierteltakt abgelöst.


    Nun, wo es ums Bitten geht, nimmt die Ruf-Figur eine andere, gleichsam Demut zum Ausdruck bringende melodische Gestalt an: Es ist der kleine, mit einer anfänglichen Moll-Harmonisierung einhergehende Sekundfall, der sie prägt, und diese leichte klangliche Eintrübung ist auch noch mit einer Steigerung dergestalt verbunden, dass sich die Wiederholung auf einer um eine Sekunde angehobenen und mit einer Rückung in dieTonart „D“ verbundenen Ebene ereignet. Und Beethoven verleiht dieses Mal diesem Aufruf zur Haltung des Bittens einen ganz besonders subtilen Nachdruck dadurch, dass er auf die nachfolgenden Worte „ruft sie“ einen melodischen Quintfall legt, der in c-Moll harmonisiert ist und bei dem beide deklamatorischen Schritte eine Fermate tragen.


    Und wieder folgt ein hochexpressives, nun sogar fünft Takte in Anspruch nehmendes Zwischenspiel, das eigentlich ein Vorspiel ist, weil es mit seinen hüpfend angelegten, den ersten und zweiten Taktschlag betonenden Achtel-Sechzehntel-Figuren auf den semantischen Gehalt der Worte „Machen Gefahren der Krieger dir bang´“ verweist. Sie werden in einem Auf und Ab von Tonrepetitionen deklamiert, die am Ende in einen mit einem Vorschlag versehenen Sekundsprung münden, dem, nun mit der Tempoanweisung „Allegretto“ versehen, ein neuerliches Zwischenspiel nachfolgt, das aus nun im Sechsachtelakt ausgeführten und langsam ansteigenden Terz-Repetitionen im Bass besteht, die im Einklang mit Einzeltönen im Diskant mit dem Einsatz der melodischen Linie in dreistimmige Akkorde übergehen.


    Die beinhaltet nun die Worte „traue Gott“, und da es bei dieser Aufforderung, die das lyrische Ich im Ruf der Wachtel zu vernehmen meint, um eine eminent elementare menschliche Grundhaltung geht, steigt die melodische Linie, nun in F-Dur harmonisiert und vom Klavier mir repetierenden F-Dur-Akkorden in Bass und Diskant begleitet und akzentuiert, bei dem Wort „Gott“ mit einem Sekundschritt in die Lage eines hohen „F“ empor und verharrt dort bei der Wiederholung des Rufs, um danach bei den Worten „Sieh, er verziehet nicht lang´!“ in eine wie ein melodisches Ausatmen wirkende, bei „Sieh“ eine kurze Dehnung beschreibende, sich über eine ganze Oktave erstreckende und am Ende in einen Quintsprung mündende Fallbewegung überzugehen.


    Damit wäre, aus der Perspektive des zugrundliegenden Gedichts betrachtet, das Lied eigentlich abgeschlossen. Aber da es Beethoven in seiner Liedkomposition ja gerade nicht um die schlichte Vertonung von lyrischem Text, vielmehr um das Erfassen der darin sich poetisch artikulierenden menschlichen Grundhaltung und ihrer allgemein existenziellen und speziell ethischen Dimensionen geht, muss er geradezu eine, einschließlich Nachspiels sage und schreibe vierunddreißig Takte umfassende vierte Liedstrophe hinzufügen, in der sich die Liedmusik der Auslotung des semantischen Potentials der letzten Gedichtstrophe widmet, wobei bemerkenswert ist, dass sie sich dabei auf den religiös-appellativen Aspekt fokussiert. Der Vers „Ruft sie, er schonet die Flur“ wird ausgelassen, stattdessen treten die Worte „bitte Gott“, und „traue Gott“ auf sich mehrfach wiederholende Weise in den Vordergrund, am Ende auf sozusagen argumentative Weise gekrönt und abgeschlossen mit der sich in zwei langen Dehnungen aus hoher langsam in tiefe Lage absenkenden melodischen Linie auf den Worten „traue Gott! sieh, er verziehet, verziehet nicht lang!“

  • "Lied aus der Ferne", WoO 137


    Als mir noch die Träne der Sehnsucht nicht floß,
    Und neidisch die Ferne nicht Liebchen verschloß,
    Wie glich da mein Leben dem blühenden Kranz,
    Dem Nachtigallwäldchen, voll Spiel und voll Tanz!


    Nun treibt mich oft Sehnsucht hinaus auf die Höhn,
    Den Wunsch meines Herzens wo lächeln zu seh'n!
    Hier sucht in der Gegend mein schmachtender Blick,
    Doch kehret es nimmer befriedigt zurück.


    Wie klopft es im Busen, als wärst du mir nah,
    O komm, meine Holde, dein Jüngling ist da!
    Ich opfre dir alles, was Gott mir verlieh,
    Denn wie ich dich liebe, so liebt' ich noch nie!


    O Teure, komm eilig zum bräutlichen Tanz!
    Ich pflege schon Rosen und Myrten zum Kranz.
    Komm, zaub´re mein Hüttchen zum Tempel der Ruh´,
    Zum Tempel der Wonne, die Göttin sei du!


    (Christian Ludwig Reissig)


    Vom zentralen Thema dieser Verse, Sehnsucht also, fühlte sich Beethoven unmittelbar angesprochen. Viele seiner Lieder haben es zum Gegenstand. Der Verfasser dieses Gedichts, Christian Ludwig Reissig, er lebte von 1784 bis 1847, stand der literarischen Romantik nahe, und Beethoven hat von ihm noch vier weitere lyrische Texte vertont: „Der Jüngling in der Fremde“ (WoO 138), „Der Liebende“ (WoO 139), „Des Kriegers Abschied“ (WoO 143) und Sehnsucht (WoO 146). Die Komposition auf dieses Gedicht entstand 1809. Es handelt sich um ein durchkomponiertes und in seinem Aufbau komplexes Lied. Der der ersten Strophe zugrundliegende Sechsachteltakt wird mitsamt der zugehörigen Tempovorgabe „Andante vivace“ bei der zweiten und der dritten Strophe von einem Zweivierteltakt in Einheit mit dem Tempo „Poco Allegretto“ abgelöst, und bei der letzten Strophe kehren zwar das Metrum und die Melodik der ersten Strophe wieder zurück, die Tempoanweisung lautet nun aber „Allegro vivace“, und Beethoven fügt ausdrücklich hinzu: „Man nimmt jetzt die Bewegung lebhafter als beim ersten Mal.“


    Die Komplexität der Komposition, die sich nicht nur in diesen gleichsam formalen Aspekten präsentiert, sondern darüber hinaus auch – und vor allem – in einem hohen figuralen Reichtum von Melodik und Klaviersatz, wurzelt in der perspektivischen Vielfalt der lyrischen Aussagen und der darin sich Ausdruck verschaffenden Gedanken und Emotionen des lyrischen Ichs. Jede Strophe weist diesbezüglich einen anderen Ansatz auf: Die erste ist perspektivisch als Rückblick angelegt, die Aussagen der zweiten sind gegenwartsbezogen, die der dritten stellen eine seelische Innenschau des lyrischen Ichs dar, und die Aussagen der vierten Strophe präsentieren sich als hochgradig emotionaler Aufruf an die Geliebte zum Vollzug der ehelichen Vereinigung.


    Unter diesem Blickwinkel erweist sich die liedmusikalische Komplexität als Niederschlag der grundlegenden liedkompositorischen Intentionen Beethovens. Ihm geht es nicht nur darum, für die einzelnen lyrischen Aussagen die ihnen adäquate Liedmusik zu finden, er will – und dies vor allem - auch die darin sich niederschlagende kognitive und emotionale Haltung des lyrischen Ichs liedmusikalisch erfassen. Ein Griff nach dem Strophenlied-Modell verbietet sich von daher für ihn. Und nicht nur das: Er muss, neben der nach dem Prinzip der Durchkomposition angelegten Melodik, auch das Ausdruckspotential des Klaviersatzes nutzen, um diesem kompositorischen Anspruch gerecht zu werden. Und so ist dieser denn hier ungewöhnlich vielgestaltig.


    Das fängt schon damit an, dass das Vorspiel ungewöhnlich umfangreich ist. Vierundzwanzig Takte nimmt es in Anspruch. Warum aber? Es enthüllt sich, folgt man als Rezipient dem weiteren Verlauf der Liedmusik, alsbald als höchst kunstvolle Variation des für sie grundlegenden und zentralen melodischen Motivs, wie es dem ersten Vers der ersten Strophe zugrunde liegt und auf dem ersten Vers der letzten in unveränderter Gestalt wiederkehrt. In dieser Wiederkehr wird deutlich: Es verkörpert die Grundhaltung des lyrischen Ichs, denn der mit den Worten „Als ich…“ eingeleitete Rückblick auf vergangene Lebenswelt erfolgt ja, wie das grammatische Tempus deutlich macht, aus der Perspektive der existenziellen Gegenwart.


    Diese findet Ausdruck in dem vom lyrischen Ich in der letzten Strophe emphatisch vorgeberachten Begehren nach Liebeserfüllung in Gestalt einer ehelichen Vereinigung mit dem Du. Und das Vorspiel verweist nun in der Art und Weise, wie es dieses melodische Motiv nach dem Prinzip der Variation fortentwickelt, auf all den musikalischen Reichtum, der ihm innewohnt und der sich im folgenden als seelischer Reichtum des lyrischen Ichs in seiner Hinwendung zum geliebten Du enthüllt. Auffällig ist ja doch, in welch hohem Grad der Klaviersatz dynamisch differenziert ist und welchen Reichtum er an melismatischen Figuren aufweist: Von den vielen Vorschlägen über die sechsmaligen Triller – davon einer einen ganzen Takt einnehmend – bis hin zu den vielen und sich im Umfang immer weiter steigernden und in hohe Lage aufgreifenden Sechzehntel-Figuren im Diskant.


    Dieses Vorspiel will sagen: Die Sehnsucht, die dieses lyrische Ich auf den Höhen auslebt und gedanklich als „Lied aus der Ferne“ an die Geliebte schickt, geht – so wie Beethoven Reissigs Verse gelesen hat – nicht mit tief reichenden, aus wirklicher Hoffnungslosigkeit kommenden schmerzlichen Empfindungen einher. Allein der lange Triller und der zum Einsatz der melodischen Linie überleitende Staccato-Fall von Achteln lässt das sinnfällig werden. Und so schwingt sich denn auch die melodische Linie, den Gestus des Vorspiels aufgreifend, bei den Worten des ersten Verses in Gestalt von zwei Sprüngen, dabei sich im Intervall von einer Quarte zu einer Quinte steigernd und in eine zierliche Achtel-Vorschlagsfigur übergehend, in obere Mittellage auf, dabei harmonisch eine Rückung von der Tonika B-Dur über die Dominante und wieder zurück beschreibend und vom Klavier im Diskant mit repetierenden Achtelakkorden begleitet. Diesen Gestus behält sie die ganze erste Strophe über bei, und das gilt auch für das Klavier, das mit seinen Achtelakkord-Dreiergruppen den beschwingten Sechsachtelrhythmus hervorhebt. Dabei reflektiert sie auch die lyrische Aussage, indem sie bei dem Wort „Ferne“ in einen kleinen Legato-Sekundfall in hoher Lage übergeht, bei dem Wort „Liebchen“ einen zierlich wirkenden gedehnten Achtel-Bogen beschreibt und sich bei den Worten „voll Spiel und voll Tanz“ im Walzertakt rhythmisierten Kombinationen aus Dehnung und zweifachen Achtelfall überlässt.


    Es folgt, was sich in diesem Lied noch mehrfach, und dies ich sich steigernder Form, ereignen wird: Eine Fortsetzung der strophenbezogenen Liedmusik in Gestalt von umfangreicher Textwiederholung. Die liedkompositorische Intention ist dabei – wie das ja durchweg bei Beethoven der Fall ist – die musikalische Auslotung und Akzentuierung der Haltung des lyrischen Ichs. Und so sind es denn eben diese Passagen des lyrischen Textes, die, in durchaus eigenmächtigem Umgang mit Reissigs Text und mit einer eigenen Melodik und einem eigenen Klaviersatz versehen, der ersten lyrischen Strophe hinzugefügt werden: „Voll Spiel und voll Tanz / Wie glich da mein Leben dem Nachtigallwäldchen, voll Spiel und voll Tanz, ja, voll Spiel und voll Tanz, voll Spiel und voll Tanz.“
    Wie viel Beethoven daran liegt, die Wiederholung dazu einsetzen, mit den Mitteln der Liedmusik die Semantik der lyrischen Aussage so weit wie möglich auszuloten, das wird daran ersichtlich, dass er nun, geradezu radikal abweichend von der vorangehenden Melodik, auf die Worte „/ Wie glich da mein Leben dem Nachtigallwäldchen, voll Spiel und voll Tanz, ja, voll Spiel und voll Tanz“ eine melodische Linie legt, die von deklamatorischen Tonrepetitionen geprägt ist, und sich dabei in immer höhere tonale steigert, um am Ende in einen Fall in Gestalt eines dreimaligen Sekundanstiegs überzugehen.


    Dabei wird die Grundhaltung des lyrischen Ichs im Klaviersatz durch eine vorgelagerte, auf die Worte „voll Spiel und voll Tanz“ Bezug nehmende Sechzehntel-Bogenkette zum Ausdruck gebracht, und diesen Klaviersatz-Gestus greift die melodische Linie dann am Ende der Liedstrophe auf, indem sie in der Wiederholung dieser Worte einen ausgeprägt melismatischen, weil sich in deklamatorischen Sechzehntelschritten ereignenden Bogen beschreibt, der in einen mit einer harmonischen Rückung in die Tonika verbundenen Sekundsprung mündet. Und damit nicht genug: Das Klavier, das vorher schon dieses für Beethoven so bedeutsame lyrische Bild mittels einer aufsteigend angelegte Sechzehntel-Kette über repetierenden Sechzehntelfiguren im Bass aufgegriffen hat, kommentiert nun diesen ganzen Wiederholungskomplex in einem fünftaktigen Zwischenspiel erst mit einer neuerlichen, nun wellenförmig angelegten und mit Vorschlägen angereicherten Sechzehntelkette und danach mit einem Rückgriff auf die lange Triller-Figur mit nachfolgendem Staccato-Achtelfall aus dem Vorspiel.


    Eine mit einer Fermate versehene Pause folgt nach, vernehmlich werden lassend, dass die Liedmusik mit der zweiten Gedichtstrophe zu einem ganz und gar neuen Gestus übergehen will. Und so geschieht es auch: Im Metrum tritt an die Stelle des beschwingten Sechsachteltakts einer von zwei Vierteln, die Tempo-Anweisung lautet dementsprechend „Poco Allegretto“. Die Harmonik begibt sich von dem klanglich freundlichen B-Dur hinab in die Tiefen von As-Dur und Des-Dur, verlässt gar vorübergehend das Ton-Geschlecht Dur, und das Klavier geht in Begleitung der Singstimme von seinen beschwingten Akkordrepetitionen und den melismatischen Sechzehntel-Ketten über zu statisch wirkenden, weil von Achtelpausen unterbrochenen Folgen von Einzeltönen und bitonalen, bzw. dreistimmigen Akkorden in Diskant und Bass.


    Was ist der Grund? Das lyrische Ich ist von dem Rückblick auf den „blühenden Kranz“ vergangenen Lebens zur Betrachtung des gegenwärtigen Seins in der „Ferne“ übergegangen. Nicht dass es da schwer litte, aber immerhin kehrt der die Geliebte suchende „schmachtende Blick“ „nimmer befriedigt“ zurück. Und so lässt die melodische Linie nun ab von dem durch den Sechsachteltakt beschwingten Sich-Entfalten, und statt dass sie immer wieder einmal melismatische Figuren beschreibt und vom Klavier darin unterstützt wird, bewegt sie sich nun in einfachen deklamatorischen Schritten im Wert von Vierteln und Achteln aus tiefer Lage in höhere, darin das Bild vom in-die Höhe-Steigen aufgreifend. Und dabei ist sie in b-Moll harmonisiert und wird vom Klavier in klanglich geradezu trocken anmutender Weise mit im Wechsel aufeinander folgenden Einzeltönen im Diskant und Oktaven im Bass begleitet.


    Aber bei den Worten „den Wunsch meines Herzens wo lächeln zu sehen“ beschreibt die melodische Linie schon wieder eine in die Höhe ausgreifende bogenbörmige Bewegung in Achtel-Schritten und die Harmonik verlässt das Tongeschlecht Moll und rückt nach As-Dur und Des-Dur. Und auch die Worte „mein schmachtender Blick“ bewegen sie dazu, noch einmal zu diesem Gestus bogenförmiger Entfaltung überzugehen. Das Wissen freilich, dass er unbefriedigt zurückkehren wird, bringt hier wieder eine leichte Moll-Trübung (es-Moll) in die Harmonik, und die mit einem verminderten Sekundsprung einsetzende Fallbewegung auf den Worten „Nimmer befriedigt zurück“ ist gar durchweg in f-Moll harmonisiert, - mit einer kleinen Rückung freilich in die Dominante C-Dur vor dem Ende auf dem Grundton „F“. Das sich anschließende viertaktige Zwischenspiel aus in hohe Lage emporsteigenden und dort in ein Auf und Ab übergehenden Sechzehnteln bewegt sich ganz und gar im Bereich von f-Moll und c-Moll.


    Ganz offensichtlich wollen diese vier Takte Klaviersatz als Kommentar zur Liedmusik der zweiten Strophe verstanden werden, denn schon vor dem Einsatz der melodischen Linie der dritten Strophe, geht das Klavier, nachdem es einen Triller im Diskant hat erklingen lassen, zu einem lebhafte Bewegung suggerierenden und in F-Dur harmonisierten Wechsel von Sechzehntel-Oktaven und Einzeltönen im Bass und dreistimmigen Sechzehntel-Akkorden im Diskant über, und diese Struktur behält der Klaviersatz fast die ganze dritte Strophe über bei. Er unterstützt damit den Gestus der Melodik dieser dritten Strophe, und das ist der einer nicht nur bis zum letzten Vers durchgehaltenen, sondern sich darin sogar noch steigernden Emphase, in der sich die melodische Linie in immer höhere Lage emporsteigert, um schließlich bei den Worten „denn wie ich dich liebe, so liebt ich noch nie“, auf die liedmusikalisch offensichtlich alles zusteuert, mit einer Kombination aus Terzfall und Sextsprung ein hohes „G“ zu erreichen. Von Vers zu Vers setzt sie im immer gleichen vorandrängenden deklamatorischen Gestus auf einer höheren tonalen Ebene an: Bei ersten auf einem „F“, beim zweiten auf einem „A“, beim dritten auf einem „D“ und beim vierten schließlich, noch einmal um eine Terz angehoben, auf einem hohen „F“. Die Harmonik vollzieht dabei Rückungen vom Bereich F-Dur und B-dur nach dem von A-Dur und E-Dur mit kurzem Ausweichen nach d-Moll am Ende des Bekenntnisses, alles zu opfern, was Gott verlieh, und am Ende wendet sie sich in den Bereich der Tonika B-Dur.


    Ganz offensichtlich ist es die mit den Worten „Wie klopft es im Busen“ einsetzende seelische Innenschau des lyrischen Ichs, die die Liedmusik der dritten Strophe in diese Emphase treibt. Und dass für Beethoven dabei das Liebesbekenntnis, wie es der letzte Vers zum Ausdruck bringt, der eigentliche Angelpunkt in der Entfaltung der Liedmusik ist, das zeigt die Tatsache, dass er sie mit der Melodik auf diesen Vers nicht enden lässt, sondern, nachdem er das in der zweiten Strophe gemieden hat, wieder zum Mittel der Wiederholung greift, und das in durchaus umfänglicher Weise.
    Zwei Mal wird der letzte Vers wörtlich wiederholt, danach wird eigenmächtig aus ihm wie folgt geschöpft: „Ja, wie ich dich liebe, so liebt ich noch nie! Noch nie! Noch nie!“. Die erste Wiederholung des letzten Verses mutet in der unmittelbaren und in einen Fall übergehenden Weiterführung der melodischen Linie zunächst wie ein Ausklingen und Zur-Ruhe-Kommen der Liedmusik an. Das aber täuscht. Sie steigert sich in ihrer Emphase sogar noch weiter, indem die melodische Linie nun zu in Achtelschritten erfolgenden und über ein großes Intervall sich erstreckenden Bogenbewegungen übergeht, die vom Klavier mit Sechzehntelbögen kommentiert werden, und sich am Ende gar bei einer langen Dehnung auf den Worten „liebt ich“ in einen koloraturartigen triolischen Fall über eine ganze Dezime steigert. Bei den sich wiederholenden Worten „Noch nie“, die auf erst einem Terz-, dann einem Quintsprung deklamiert werden, tritt ein „Adagio“ in die Liedmusik und sie mündet in eine fermatierte melodische Dehnung in oberer Mittellage, die vom Klavier mit einem arpeggierten Dominant-Septakkord in „F“ begleitet wird. Es deutet sich an: Die Liedmusik geht in eine neue Phase über.


    Es ist die der letzten Strophe, und sie ist mit einer Rückkehr der Melodik zu ihren Anfängen verbunden. Die melodische Linie auf den ersten beiden Versen ist mit der auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe identisch, nicht aber der ihr zugeordnete Klaviersatz. Der besteht nun im Diskant aus lebhaften, weil im Auf und Ab von Sechzehnteln bestehenden Figuren über Achtelakkord-Repetitionen im Bass, und das Klavier greift darin den liedmusikalischen Geist auf, der diese letzte Strophe beflügelt: Es ist der einer emphatischen Aufforderung an die Geliebte zur Einkehr in den Tempel der Wonne ehelicher Gemeinsamkeit. Insofern ist die Rückkehr der Liedmusik zur Melodik der ersten Strophe nur konsequent, denn dort blickte das lyrische Ich ja auf ein gemeinsames, gleichsam voreheliches Leben mit dem geliebten Du zurück. Aber Beethoven kann es – von seiner auf das Erfassen und Ausloten der Haltung des lyrischen Ichs ausgerichteten liedkompositorischen Grundhaltung her – natürlich dabei nicht belassen, und so greift er denn erneut, und dieses Mal in exzessiver Weise, zum Prinzip der Wiederholung. Noch bevor sich die Liedmusik den beiden letzten Versen zuwenden kann, muss sie sich noch einmal auf die ersten beiden einlassen, wobei dem Wort „komm“ ein eigener Auftritt in Gestalt einer Deklamation auf einem gedehnten und von einer Pause nachgefolgten „C“ in oberer Mittellage zuteilwird, bevor die melodische Linie mit ihm dann erneut zur Wiederholung des ersten Verspaares einsetzt.


    Sie setzt sich ohne Pause und in Weiterführung des gedehnten Legato-Sekundfalls aus dem Wort „Kranz“ in den beiden letzten Versen fort, und geht dabei, ihrem Gestus treu bleibend, in beschwingter, vom Sechsachteltakt getragener Weise zu einem von einer Dehnung auf dem Wort „Ruh“ begleiteten Aufstieg in hohe Lage über, um sich dort nach einer neuerlichen Dehnung auf dem Wort „Tempel“ bei den Worten „der Wonne, die Göttin sei du“ einem gestaffelten, in zwei Folgen sich ereignenden und am Ende in einen Sekundsprung mündenden Fall zu überlassen, wobei die Harmonik, die tiefen seelischen Regungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend, eine kurze Rückung nach c-Moll beschreibt, bevor sie über die Dominante F-Dur zur Tonika zurückkehrt.


    Zwanzig Takte Liedmusik, das kurze Nachspiel eingeschlossen, folgen nach, in denen sie mit ihren Mitteln den Emotionen des lyrischen Ichs, wie sie sich in der blumigen und kontrastiven Metaphorik vom „Hüttchen“, dem „Tempel“ der „Ruh´“ und der „Wonne“ Ausdruck verschafft, in all ihren Dimensionen und Tiefen nachgeht. Zunächst wird die Liedmusik auf den letzten beiden Versen noch einmal wiederholt, danach aber fügt Beethoven drei eigenständige, durch Pausen voneinander abgehobene Melodiezeilen auf die Worte „die Göttin sei du!“, „Komm, zaubre mein Hüttchen zum Tempel der Wonne, die Göttin sei du, ja, die Göttin sei du!“ und „Die Göttin sei du, ja die Göttin sei du“ hinzu, die ganz darauf angelegt sind, den Lobpreis der Geliebten in permanent sich steigernder Expressivität zum Ausdruck zu bringen, - bis hin zu dem über eine ganze Oktave sich erstreckenden und auf einem hohen F“ in eine Dehnung übergehenden Sechzehntel-Anstieg bei zweitletzten „die Göttin sei du!“.
    Den lässt er allerdings, um die Innigkeit der Ansprache an das Du hervorzuheben, „poco Adagio“ vortragen und kehrt erst mit dem Auf und Ab der melodischen Linie, in dem er bei letzten „die Göttin sei“ du den Lobpreis ausklingen lässt, zum Original-Tempo, dem Allegretto also, zurück.

  • „Der Jüngling in der Fremde“, WoO 138


    Der Frühling entblühet dem Schoß der Natur,

    Mit lachenden Blumen bestreut er die Flur;

    Doch mir lacht vergebens das Tal und die Höh',

    Es bleibt mir im Busen so bang' und so weh.


    Begeisternder Frühling, du heilst nicht den Schmerz!

    Das Leben zerdrückte mein fröhliches Herz

    Ach, blüht wohl auf Erden für mich noch die Ruh',

    So führ' mich dem Schoße der Himmlischen zu!


    Ich suchte sie morgens im blühenden Tal;

    Hier tanzten die Quellen im purpurnen Strahl,

    Und Liebe sang schmeichelnd im duftenden Grün,

    Doch sah ich die lächelnde Ruhe nicht blüh'n.


    Da sucht' ich sie mittags, auf Blumen gestreckt,

    Im Schatten von fallenden Blüten bedeckt,

    Ein kühlendes Lüftchen umfloß mein Gesicht,

    Doch sah ich die schmeichelnde Ruhe hier nicht.


    Nun sucht' ich sie abends im einsamen Hain.

    Die Nachtigall sang in die Stille hinein,

    Und Luna durchstrahlte das Laubdach so schön,

    Doch hab' ich auch hier meine Ruh' nicht geseh'n!


    Ach Herz, dich erkennt ja der Jüngling nicht mehr!

    Wie bist du so traurig, was schmerzt dich so sehr?

    Dich quälet die Sehnsucht, gesteh' es mir nur,

    Dich fesselt das Mädchen der heimischen Flur!

    (Christian Ludwig Reissig)


    Reissigs Verse haben das Thema „Sehnsucht“ zum Gegenstand, bringen in der metrischen Regelmäßigkeit ihrer Anlage und ihrer schlichten Metaphorik all die Gedanken, Gefühle und Empfindungen zum Ausdruck, die sich bei dem „in der Fremde“ weilenden lyrischen Ich einstellen, wenn es an das „Mädchen der heimischen Flur“ denkt, das es so sehr vermisst. Ihm ist „im Busen so bang´ und so weh“, von Morgen bis Abend sucht es sie in der Natur zu finden, aber selbst die nächtliche Idylle mit Nachtigall und Luna vermag sie ihm nicht zu spenden. Weil „Sehnsucht“ ein Thema ist, von dem sich Beethoven ausweislich seiner vielen Liedkompositionen angesprochen fühlte, hat er wohl auch zu diesem Gedicht Reissigs gegriffen und im Jahre 1809 ein Strophenlied daraus gemacht, das in der Einfachheit und Schlichtheit seiner Anlage im Bereich Melodik, Klaviersatz und Harmonik durchaus dessen lyrisch-sprachlicher Gestalt und poetischem Gehalt entspricht. Ein volksliedhafter Geist durchweht es, und es ist einer, der, weil er artifiziell verfeinert ist, sehr wohl anzusprechen vermag.


    Der Liedmusik liegt ein Dreiachteltakt zugrunde, sie steht in B-Dur als Grundtonart, und sie soll „Etwas lebhaft, doch in einer mässig geschwinden Bewegung“ vorgetragen werden. Weil Beethoven, sich dabei an der Einfachheit der lyrischen Sprache orientierend, die Form des Strophenlieds gewählt hat, kann er mit seiner Liedmusik nicht die Fülle der lyrischen Aussagen und die sie transportierende Metaphorik aufgreifen, sondern muss die ihnen zugrundliegende Haltung des lyrischen Ichs zu ihrem Gegenstand machen. Und das, so darf man wohl feststellen, gelingt ihm auf überzeugende und beeindruckende Art und Weise. Dieses lyrische Ich, so wie es Beethoven in Reissigs Versen begegnet, ist kein Mensch, der in der in der Fremde und unter der Abwesenheit der Geliebten so schwer leidet, dass er von seelischem Schmerz überwältigt würde. Dazu ist die Melodik, in der er sich ausdrückt, zu kraftvoll in ihrer Entfaltung, zu lebhaft in ihrer Bewegung und zu beschwingt in ihrer Rhythmik. Und das drückt sich auch in ihrer Harmonisierung aus: Diese bewegt sich in schlichter Weise im Bereich der Tonika B-Dur und der Dominante F-Dur, mit nur einer jeweils kurzen Rückung zur Subdominante Es-Dur und zur Doppeldominante C-Dur. Und vor allem: Sie bleibt, abgesehen von einem wie flüchtig auftauchenden g-Moll, im Bereich des Tongeschlechts Dur.


    Das „Vorspiel“ besteht aus nichts anderem als einem mit einer Fermate versehenen arpeggierten B-Dur-Akkord. Das mutet an, als wolle das Klavier bei der nachfolgenden melodischen Linie Lautenbegleitung imitieren. Und in der Tat: Beim ersten Verspaar ist der Klaviersatz so angelegt, dass sich diese Anmutung einstellt. Im Bass und im Diskant folgen je drei Sechzehntel-Oktaven, bzw. Einzeltöne und drei Sechzehntel-Akkorde im Wechsel aufeinander. Das wird aber nicht durchgehalten, denn dem Klavier ist noch eine andere Aufgabe zugewiesen: Es soll der Singstimme in den deklamatorischen Einzelschritten ihrer Bewegung folgen. Beim ersten Verspaar geschieht dies nur zwei Mal: Bei den Worten „Schoß der Natur“ und „lachenden Blumen“ (um das, wie auch weiterhin verfahren wird, an den Worten der ersten Strophe zu lokalisieren). Beim zweiten Verspaar wird es dann allerdings zum Grundprinzip. Hier lässt das Klavier von seinem Gestus der lautenhaften Begleitung der Singstimme ganz und gar ab und folgt der melodischen Linie mit Sexten und Terzen im Diskant, während es im Bass repetierende oder sich im Auf und Ab entfaltende Sechzehntel erklingen lässt. Grundsätzlich gilt aber: Der Klaviersatz ist strukturell einfach angelegt, und er erschöpft sich funktionell in der Begleitung der melodischen Linie. Bezeichnend ist, dass es selbst im viereinhaltaktigen Zwischen- und Nachspiel keinen eigenen Beitrag zur Liedmusik leistet, sondern die melodische Linie auf den Worten des letzten Verses wiederholt.

      

    Auf der Grundlage ihrer ganz und gar ungebrochenen, ja beschwingt anmutenden Entfaltung reflektiert die melodische Linie gleichwohl die jeweilige lyrische Aussage. Auf den ersten Blick mutet dabei seltsam an, dass dies für alle Strophen gilt. Schaut man sich aber deren Anlage an, so stellt man fest, dass die Strophen hinsichtlich der lyrischen Aussage ähnlich angelegt sind. Nur die letzte fällt dabei aus dem Rahmen. Die beiden ersten Verse entfalten Frühlingsbilder, das zweite Verspaar setzt sich davon aber insofern ab, als mit dem sprachlichen „doch“ eine Wendung der lyrischen Perspektive hin zum seelischen Innenraum des lyrischen Ichs erfolgt. Und tatsächlich schlägt sich beides in der Struktur der melodischen Linie nieder. Bei ersten Vers beschreibt sie eine bogenförmig angelegte Aufwärtsbewegung, die sich über das Intervall einer Septe erstreckt und bei den Worten „Schoß der Natur“ in geradezu schwungvoller, weil bei „Schoß“ in Gestalt eines gedehnten Sekundsprungs erfolgender Weise aufgipfelt. Bezeichnenderweise geht hier ja auch das Klavier zu einem Mitvollzug dieser Aufgipfelungsbewegung über.


    Auch auf dem Wort „lachenden“ des nächsten Verses liegt dieser gedehnte, weil aus einem punktierten Achtel und einem Sechzehntel bestehende Sekundsprung, nur dass es dieses Mal ein verminderter ist, der die F-Dur Harmonik bei der Sekundfallbewegung auf den beiden letzten Silben von „lachenden“ eine Rückung nach D-Dur beschreiben lässt von dem sie dann bei dem Legato-Sekundanstieg auf „Blumen“ in ein kurzes g-Moll übergeht. Man könnte diese Molltrübung in der Harmonisierung der melodischen Linie als Niederschlag der Betrübnis im Herzen des lyrischen Ichs auffassen, und vielleicht ist das von Beethoven ja auch so gewollt. Aber erstens ist sie dafür zu flüchtig, als dass sie Ausdruck eines großen Schmerzes sein könnte, und zweitens beschreibt die melodische Linie bei den nachfolgenden Worten „bestreut er die Flur“ ein regelrecht munter wirkendes und nun ganz und gar in F-Dur und der Dominante C-Dur harmonisiertes Auf und Ab in Sechzehntel-Sprüngen.


    Beim dritten Vers beschreibt die melodische Linie zwar erneut eine Anstiegsbewegung, ihr fehlt aber dieses Mal der raumgreifende Schwung einer bogenförmigen Entfaltung, wie das bei ersten Vers der Fall ist. Dieses Mal bewegt sie sich wie zögerlich nach oben, wieder mit einem gedehnten Sekundsprung am Anfang, dem aber dann keine deklamatorischen Schritte über größere Intervalle folgen, vielmehr weitere im Intervall einer Sekunde und sogar eine Tonrepetition, bevor sie dann bei den Worten „das Tal und die Höh´“ wieder zu deklamatorischen Bewegungen in Sechzehntel-Schritten übergeht. Dieses Mal sind es aber nicht Sprünge über Sexten, Terzen und Quarten wie am Ende des zweiten Verses, sondern nach einem Sekundanstieg ausschließlich sich wiederholende Fallbewegungen in Sekunden. Und da diese Melodiezeile durchweg in der Dominantsepte der Tonart „F“ harmonisiert ist, wird deutlich: Sie versteht sich als Hinführung zu dem, was die Melodik auf dem letzten Vers zu sagen hat.


    Und darin ereignet sich nun tatsächlich die Expression der Emotionen des lyrischen Ichs in der Situation des Seins in der Fremde. Es ist freilich eine, bei der die melodische Linie in ihrem Grund-Gestus des ungebrochenen Vorandrängens bleibt und sich darin nur einer Steigerung seiner Expressivität hingibt. Es ist keine schmerzliche Klage, die dabei herauskommt, sondern eher ein Klageruf. Die deklamatorische Entfaltung in Sechzehntelschritten behält die melodische Linie bei den Worten „es bleibt mir im Busen“ zunächst bei, sie steigt darin allerdings, in B-Dur harmonisiert und vom Klavier im Diskant darin mit Terzen begleitet, in Sekundintervallen bis zu einem hohen „F“ auf, überlässt sich dort bei dem Wort „Rosen“ einer kleinen Dehnung, um danach bei den Worten „so bang“ zu einem expressiven, weil von ihrem bisherigen Gestus her nicht zu erwartenden Sekundsprung zum höchsten Ton des Liedes überzugehen, der mit einer – wiederum nicht zu erwartenden, weil bislang nicht erfolgten – harmonischen Rückung in die Subdominante Es-Dur einhergeht.


    Der noch auf diesem Wort „bang“ sich ereignende gedehnte Sekundfall leitet mit den Worten „und so weh`“ eine Fallbewegung der melodischen Linie in Sekundschritten ein, die sie, nur kurz durch eine Tonrepetition aufgehalten, am Ende zum Grundton „B“ führt. Der die Melodik des Liedes beendende und mit einer Rückung von der Dominante F-Dur zu Tonika verbundene Sekundfall, den sie dabei beschreibt, wird vom Klavier in Gestalt von Einzeltönen mitvollzogen, und er ist legato auszuführen.

    Und darin manifestiert sich am Ende noch einmal der musikalische Geist dieses Liedes. Es ist einer, der die Einfachheit des Ausdrucks und die Entfaltung im ungebrochenen Legato sucht, und dies, weil er die Haltung des lyrischen Ichs reflektieren will, wie Beethoven sie aus den Versen Reissigs herausgelesen hat.

  • „Der Liebende“, WoO 139


    Welch ein wunderbares Leben,

    Ein Gemisch von Schmerz und Lust,

    Welch ein nie gefühltes Beben

    Waltet jetzt in meiner Brust!


    Herz, mein Herz, was soll dies Pochen?

    Deine Ruh' ist unterbrochen,

    Sprich, was ist mit dir gescheh'n?

    So hab' ich dich nie geseh'n!


    Hat dich nicht die Götterblume

    Mit dem Hauch der Lieb' entglüht,

    Sie, die in dem Heiligtume

    Reiner Unschuld aufgeblüht?


    Ja, die schöne Himmelsblüte

    Mit dem Zauberblick voll Güte

    Hält mit einem Band mich fest,

    Das sich nicht zerreißen läßt!


    Oft will ich die Teure fliehen;

    Tränen zittern dann im Blick,

    Und der Liebe Geister ziehen

    Auf der Stelle mich zurück.


    Denn ihr pocht mit heißen Schlägen

    Ewig dieses Herz entgegen,

    Aber ach, sie fühlt es nicht,

    Was mein Herz im Auge spricht!


    (Christian Ludwig Reissig)


    Was mag Beethoven bewogen haben, sich diesen Versen Reissigs liedkompositorisch zuzuwenden? Die Frage drängt sich einem regelrecht auf, stellen sie doch in ihrer Thematik und ihrer inhaltlichen Abfolge einen regelrechten Abklatsch von Goethes Gedicht „Neue Liebe, neues Leben“ dar, bis hin zum regelrechten Zitat „Herz, mein Herz, was soll…“. Und dieses Gedicht hatte er ja bereits vertont und als zweites in seinem Opus 75 publiziert. Warum dieses Thema nun noch einmal, und dies in Gestalt einer Lyrik, die in ihrer sprachlichen Biederkeit und ihrer abgedroschenen metaphorischen Konventionalität Goethes Versen nicht das Wasser reichen kann? Es entstand ja vermutlich ein wenig später, aber immerhin noch im gleichen Jahr, in dem er das Opus 75 publizierte, also 1809.


    Die Antwort auf diese Frage dürfte in Beethovens liedkompositorischer Grundhaltung zu finden sein. Nicht ausschließlich, aber doch primär sind es existenzielle Grunderfahrungen und -fragen, die er mit seiner Liedmusik aufgreifen, reflektieren und zum Ausdruck bringen will. Und das ist auch das Motiv, von dem er sich bei der Auswahl der Lyrik leiten lässt, der er sich liedkompositorischen zuwenden möchte. Deren literarische Qualität, die er sehr wohl zu beurteilen vermag, spielt dabei nur eine sekundäre Rolle. Und so hat er denn auch kein Problem damit, nach dem Goethe-Gedicht noch einmal zu einem lyrischen Text zu greifen, der die existenziell tiefgreifende, geradezu umstürzlerische Erfahrung von Liebe zum Gegenstand hat. Wobei ihn wohl gar nicht gestört haben dürfte, dass es für den Poeten Reissig „eine Götterblume“ war, die das lyrische Ich „mit dem Hauch der Lieb´ entglühte“. Und die Liedmusik, die daraus hervorging, ist in dem leidenschaftlichen Schwung und der inneren Erregtheit, die ihr eigen ist, sehr wohl in der Lage, diese existenzielle Erfahrung in ihrem Wesen zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen, und dies auf beeindruckende Weise.

    Ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde, sie steht in D-Dur als Grundtonart und soll „In leidenschaftlicher Bewegung“ vorgetragen werden. Sie ist als Strophenlied angelegt, dies dergestalt, dass sie sich in der Art und Weise, wie sie die lyrisch-sprachliche Aussage der ersten beiden Strophen aufgreift, in den nachfolgenden beiden Strophenpaaren wiederholt. Ihre Besprechung kann sich also auf den lyrischen Text der beiden ersten Strophen stützen und beschränken.


    Wie das so oft bei Beethoven der Fall ist, weil er eben als Liedkomponist eminent musikalisch denkt, so bringt auch hier das sechstaktige Vorspiel den Geist der nachfolgenden Liedmusik in gleichsam programmatischer Weise zum Ausdruck. Mit einem Auftakt aus zwei repetierenden Achtel setzt im Diskant eine Flut von Sechzehntel-Figuren ein, die als Auf und Ab angelegt sind, sich dabei zum Ende hin in obere Mittellage steigern und von dort in einen vehementen, weil über Terzintervalle erfolgenden Fall übergehen, in dem die Singstimme mit der gleichen Tonrepetition auf einem „A“ in mittlerer Lage auftaktig einsetzt. Der mitreißende Schwung, der von diesem Vorspiel ausgeht, erfährt eine Steigerung dadurch, dass die Harmonik einen regelrechten Drive entfaltet, nämlich von der Tonika D-Dur über die Doppeldominante „E“ zur Dominante „D“ und von dort zu deren Septim-Akkord-Variante. Dieses Vorspiel will sagen: Das lyrische Ich, das sich nachfolgend melodisch äußert, wird das auf eine eminent beschwingte und von seinen Emotionen beflügelte Weise tun.


    Und so geschieht das auch. Die Bewegungen, die die melodische Linie auf den Anfangsworten „Welch ein wunderbares Leben“ beschreibt, sind repräsentativ für den Gestus, in dem sie sich das ganze Lied über entfaltet. Es ist einer, der sich aus dem Geist des Sprungs speist, der sich als Aufeinanderfolge eines betonten und eines unbetonten deklamatorischen Schrittes ereignet, darin die Rhythmik des Sechsachteltaktes reflektierend. Und das ist es, was diesem Lied von seiner Melodik her die Anmutung beschwingter Lebhaftigkeit verleiht. Sie wird vom Klavier unterstützt, ja noch gesteigert, denn dieses begleitet die Singstimme durchweg und bis zum Ende im Diskant mit jenen Sechzehntel-Figuren in verschiedenen Varianten, mit denen es schon das Vorspiel bestritt, während es im Bass pro Takt je einen zwei- bis vierstimmigen Akkord erklingen lässt. Nach der Tonrepetition auf „welch ein“, die als Auftakt fungiert, beschreibt die melodische Linie einen Quartsprung, geht bei „wunderbares“ zu zwei Fallbewegungen über, verharrt bei „“leben“ in einer Tonrepetition, um bei den Worten „ein Gemisch von Scherz und Lust“ in einen Aufstieg überzugehen, der in Gestalt der Fortsetzung eben dieser rhythmisierten Sprungbewegungen erfolgt. Die Harmonik beschreibt dabei immer wieder Rückungen von der Tonika D-Dur über die Doppeldominante „E“ und zurück zur Dominante „A“, und diese starke Ausrichtung auf die Dominante will wohl auch als Ausdruck der vorwärtsdrängenden Unruhe der Liedmusik verstanden werden.

        

    Bei den Worten „Welch ein nie gefühltes Beben waltet jetzt in meiner Brust“ wirkt der anfängliche Terzsprung wegen der Anhebung der tonalen Ebene und dem nachfolgenden Sextfall wie eine Steigerung des Gestus, der der ersten Melodiezeile innewohnt. Das vorangehende A-Dur betont nun seinen dominantischen Charakter, indem der Klaviersatz einen Dominantseptakkord generiert. Und das bleibt erhalten, während die melodische Linie bei den Worten „gefühltes Beben“ in ein Auf und Ab in unterer Mittellage übergeht. Die Harmonik verleiht auf diese Weise der Aussage des letzten Verses besonderes Gewicht. Die Worte „Waltet jetzt in meiner Brust“ bringen den Bekenntnis-Charakter, die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs betreffend, gleichsam auf den Punkt, und so legt Beethoven nicht nur eine nun in der Tonika harmonisierte melodische Linie auf sie, die aus sich wiederholenden Terzsprüngen mit nachfolgendem Terzfall besteht, er lässt diese Worte sogar wiederholen, nun aber in Gestalt von drei Fallbewegungen in hoher Lage, bei denen das Intervall von einer anfänglichen Quarte über eine Terz am Ende bis zu einer verminderten Sexte ausweitet. Die Harmonik beschreibt dabei zweimal eine Rückung von E-Dur nach A-Dur, und diese kleine Melodiezeile endet mit dem kleinen Sekundsprung, den sie am Ende zu einem „A“ in mittlerer Lage hin beschreibt, auf dem Grundton. Ihr hoher Ausdrucksgehalt erfährt im Anschluss daran noch eine Stärkung, indem das Klavier im zweitaktigen Zwischenspiel ihre deklamatorische Gestalt noch einmal wiederholt und dabei sogar Triller im Diskant zu Hilfe nimmt.

       

    In der zweiten Strophe lässt die melodische Linie beim ersten und beim dritten Vers von ihrem sprunghaften Gestus ab und geht, unter Beibehaltung ihrer Grund-Rhythmisierung, zu deklamatorischen Tonrepetitionen über. Und hier zeigt sich, wieder einmal, dass Beethoven, bei all seiner Hinneigung zum Konzept des Strophenliedes durchaus auf enge Anbindung der Melodik an die Semantik des lyrischen Textes bedacht ist. Hier, in der zweiten Strophe, geht das lyrische Ich in allen drei Fällen, also auch in der vierten und der sechsten Strophe, in den Gestus der direkten Ansprache über. Und die melodische Linie greift dies in der Weise auf, dass sie die Eindringlichkeit dieser Ansprache mittels Tonrepetitionen intensiviert. Dabei bezieht sie sogar beim ersten Vers sogar noch einen die Expressivität steigernden Effekt dadurch ein, dass sich die deklamatorischen Tonrepetitionen auf in Sekunden ansteigender tonaler Ebene ereignen.


    Die damit notwendigerweise einhergehenden Rückungen in der Harmonik nutzt Beethoven sogar noch zu einem weiteren Steigerungseffekt aus: Er lässt nämlich das bislang absolut dominierende Tongeschlecht Dur in Moll umschlagen. Die Tonrepetition auf „Pochen“ ist in h-Moll harmonisiert, und nachdem die Harmonik sich bei der Rückkehr der Melodik zu ihrem Sprung-Gestus auf den Worten „deine Ruh´ ist unterbrochen“ bis ins Fis-Dur gesteigert hat, fällt sie doch noch zwei Mal auf dieses h-Moll zurück. Die Emotionen und Regungen, auf die das lyrische Ich bei seiner seelischen Innenschau stößt, weisen auch Anflüge von Schmerzlichkeit auf. Und die Harmonik will das vernehmlich werden lassen, - ohne dabei allerdings in klanglich schmerzliche Chromatik zu verfallen, was der Grundhaltung dieses lyrischen Ichs völlig unangemessen wäre.


    Bei den beiden letzten Versen intensiviert Beethoven den rhetorischen Ansprache-Gestus, indem er die melodische Linie aus dem Gestus der deklamatorischen Tonrepetition auf den Worten „was ist mit dir“ zu dem der sprunghaften Entfaltung übergehen lässt, einsetzend mit dem expressiven, und mit einer ungewöhnlichen Rückung von D-Dur nach e-Moll verbundenen Quintsprung bei dem Wort „gescheh´n“ und sich fortsetzend in den Fall- und Sprungbewegungen über eine Quarte, eine Terz und eine Sekunde auf den Worten „So hab´ ich dich nie geseh´n“. Die hohe lyrische Aussage-Relevanz, die dem letzten Vers der zweiten, vierten und sechsten Strophe innewohnt, hat Beethoven dazu motiviert, wieder zu dem von ihm so sehr geschätzten kompositorischen Mittel der Wiederholung zu greifen. Zwei Mal noch lässt er ihn deklamieren, und dies auf einer melodischen Linie, die sich, im Unterschied zur ersten, nun in Gestalt von in der tonalen Ebene sinkenden Sekundsprüngen in hoher Lage entfaltet. Und weil sie dabei so hohe Eindringlichkeit aufweist und darin vom Klavier mit weit ausgreifenden Sechzehntelfiguren und von der Harmonik mit Rückungen von der Dominante über ein e-Moll bis hin zur Tonika unterstützt wird, lässt Beethoven sie bei der zweiten Wiederholung unverändert.

    Es ist ja alles gesagt, was zu diesem letzten Vers liedmusikalisch zu sagen ist.

  • In dieser Aufnahme ist "Der Liebende" zu hören. Es singt Dietrich Fischer-Dieskau, Jörg Demus begleitet ihn:


    https://www.youtube.com/watch?v=pcQhazgAm6k


    (Obwohl ich so vorgegangen bin wie beim vorangehenden Lied, ist es mir dieses Mal nicht gelungen, die Aufnahme so zu verlinken wie dort. Keine Ahnung, warum das so ist. Hab´ auch keine Lust mehr, weitere Gedanken darauf zu verschwenden.)

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  • „Resignation“, WoO 149


    Lisch aus, mein Licht!

    Was dir gebricht,

    Das ist nun fort,

    An diesem Ort

    Kannst du's nicht wieder finden!

    Du mußt nun los dich binden.


    Sonst hast du lustig aufgebrannt,

    Nun hat man dir die Luft entwandt;

    Wenn diese fort gewehet,

    Die Flamme irregehet,

    Sucht, findet nicht;

    Lisch aus, mein Licht!


    (Paul Graf von Haugwitz)


    In der ungeschönten, alle idyllisch-blumige Metaphorik meidenden und höchst direkt erfolgenden An- und Aussprache von existenzieller Endzeit-Erfahrung wohnt diesem lyrischen Text zweifellos eine gewisse poetische Größe inne. Solchen lyrischen, in fast alltagssprachlichem Gestus sich ergehenden Aussagen wie „Kannst du´s nicht wiederfinden“, „Du mußt nun los dich binden“ oder „Nun hat man dir die Luft entwandt“ ist eine ganz eigene dichterische Wahrheit eigen. Und wenn die lyrische Sprache zu Metaphern greift, dann sind sie herb: Von dem appellativ groben und sich darin sogar wiederholenden „Lisch aus, mein Licht“ über die „Luft“, die „entwandt“ wurde bis hin zu der „Flamme“ die „irregehet.“ Diese Verse stammen von dem einem alten Meißnischen Adelsgeschlecht zugehörigen Paul von Haugwitz (1791-1856), der sich neben seinen Aufgaben als Oberstleutnant in militärischen Diensten auch als Schriftsteller betätigte. Wie Beethoven an das Gedicht herankam, ist nicht ganz sicher zu ermitteln. Es wurde nämlich im Nürnberger „Frauentaschenbuch für das Jahr 1817“ erstmals gedruckt, er begann aber mit ersten kompositorischen Notizen dazu schon in den Jahren 1814/15. Publiziert wurde die Komposition dann 1817 in der „Wiener Zweitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode“.


    Wie auch immer er an dieses Gedicht herangekommen sein mochte, vielleicht gar über einen Kontakt zu seinem Autor selbst, - es musste ihn auf der Stelle tief angesprochen haben. Die Liedmusik darauf verrät es: In ihrer ganz spezifischen Eigenart, dem eigenartigen Zerfall der melodischen Phrase in kleine Partikel, der damit einher gehenden Störungen im Metrum und dem Wiederaufgreifen und der Steigerung der hochexpressiven Melodik auf den Worten „Lisch aus, mein Licht“ tritt es seinen Hörern als aus tiefer personaler Betroffenheit kommendes liedmusikalisches Bekenntnis entgegen. „Resignation“ war, wie man aus Briefen und seinen Tagebuchaufzeichnungen weiß, ein existenzielles Problem, mit dem er sich in seinem Leben ganz allgemein, aber gerade damals in besonders gravierender Weise auseinanderzusetzen hatte. Wie wichtig ihm dieses Lied gewesen sein musste, das lässt auch an der ungewöhnlich detaillierten Vortragsanweisung ablesen: „In gehender Bewegung. Mit Empfindung, jedoch entschlossen, wohl accentuirt und sprechend vorgetragen.“


    Das Lied ist durchkomponiert, es steht in D-Dur als Grundtonart, und ein Dreiachteltakt liegt ihm zugrunde. Im viertaktigen Vorspiel erklingen drei Mal Fallbewegungen von je einem Achtel und einem Sechzehntel im Intervall einer Terz, die danach in eine Linie aus erst fallenden, dann aber ansteigenden Sechzehnteln münden, die zum auftaktigen Einsatz der melodischen Linie überleiten. Diese Fallbewegungen sind ihrerseits terzenbetont, aber sie sind durch Pausen deutlich voneinander abgesetzt und die Harmonik beschreibt in ihrer Abfolge eine Rückung von D-Dur nach G-Dur und danach hin zur Dominante A-Dur“. In all dem erweist sich dieses Vorspiel als Einstieg in den Geist der nachfolgenden Liedmusik, denn die fallende Terz erweist sich alsbald als ein Wesensmerkmal der Melodik, und die Pause tritt von Anfang an als konstitutives, weil ihre Aussage wesentlich bedingendes strukturelles Element der ganzen Liedmusik auf.


    Dem appellativen „Lisch aus, mein Licht“ kommt in diesem Gedicht eine zentrale Rolle zu. Nicht nur, weil die Worte am Ende wiederkehren, sondern, weil das „Licht“, rein lyrisch-sprachlich betrachtet, ja der eigentliche Adressat der Ansprache ist, die sich im Gedicht ereignet. Wobei die poetische Raffinesse allerdings darin besteht, dass durch das Possessivpronomen „mein“ das lyrische Ich im Sinne einer monologischen Selbstansprache als Adressat auf subtile Weise einbezogen ist. Eben das aber ist der Grund, der Beethoven dazu bewogen hat, diese lyrischen Worte gleichsam zum Zentrum seiner Liedkomposition zu machen. Und dies gleich in mehrfacher Weise, indem er

    ---ihnen eine deklamatorisch fallbetonte und in ihrer Expressivität durch zwischengelagerte Pausen gesteigerte Melodik zugrundelegt;

    ---sie in Gestalt mehrfacher Wiederholungen und der Steigerung ihres expressiven Potentials zum Gegenstand einer eigenen Liedstrophe macht; und vor allem

    ---indem er sie in ihrem semantischen Gehalt und dem sprachlich hart-appellativen Gestus, der ihnen durch das Aufeinanderprallen des hellen Vokals „i“ mit dem dunklen Diphthong „au“ innewohnt, zum prägenden Faktor der ganzen Liedmusik werden lässt.


    Die Worte „Lisch aus“ lässt Beethoven auf dem gleichen Terzfall noch einmal deklamieren, der schon bei ersten Mal auf ihnen lag. Das geschieht nach einer Sechzehntelpause und dieses Mal auch nicht in Achtelschritten, wie beim ersten Mal, sondern solchen von Sechzehnteln, und zwischen dem auf den nachfolgenden Worten „mein Licht“ liegenden, in hoher Lage ansetzenden und legato ausgeführten zweifachen Sekundfall liegt auch einmal eine Pause. Es ist zwar nur eine im Wert von einem Zweiunddreißigstel, aber sie soll jegliche melodische Anbindung an das zweite „lisch aus“ ausschließen. Ganz offensichtlich zielt Beethoven mit dieser Anlage der kleinen, das Lied einleitenden Melodiezeile darauf ab, dem einzelnen lyrischen Wort Gewicht zu verleihen. Und verfolgt man die Anlage der melodischen Linie auf den folgenden Versen, dann stellt man alsbald fest, dass er dieses Prinzip nicht nur beibehält, sondern in seiner Effektivität sogar noch steigert. Die Melodik dieses Liedes ist in ungewöhnlich hohem Maß rhetorisch-deklamatorisch ausgerichtet, dies im Sinne einer ausgeprägten Beachtung und Hervorhebung des lyrischen Wortes durch die spezifische Struktur der melodischen Linie. Das hat zur Folge, dass Beethoven von der ihm ansonsten so wichtigen Gebundenheit ihrer Entfaltung auf der Grundlage einer möglichst weit ausgreifenden Phrasierung ablässt und die Melodik nicht nur aus kleinen Zeilen aufbaut, sondern die Phrasen zuweilen regelrecht brechen lässt.

         

    Könnte es sein, so fragt man sich, dass hinter dieser liedkompositorischen Intention, was die Behandlung des lyrischen Wortes betrifft, die personale Betroffenheit Beethovens durch eben dieses Wort steht, wie er sie in der Rezeption des Gedichts von Paul von Haugwitz erfahren hat?

    Es spricht vieles dafür, dass dem so sein könnte. Auch wenn diese spezifische strukturelle Eigenart der Melodik dieses Liedes in der zweiten Strophe noch deutlicher ausgeprägt ist, man kann sie auch schon in der ersten vernehmen. Auf den Worten „was dir gebricht“ und „das ist nun fort“ liegt je eine eigene kleine, durch eine Sechzehntelpause begrenzte Melodiezeile. Bei den Worten „An diesem Ort / Kannst du's nicht wieder finden!“ bindet Beethoven zwar zwei Verse in eine nun längere Melodiezeile ein, das hat aber einen guten, in der Semantik der lyrischen Aussage gründenden Sinn. Er kann auf diese Weise durch eine aus einer Tonrepetition hervorgehende und in obere Mittellage ausgreifende Bogenbewegung den Worten „nicht wieder finden“ besonderes Gewicht verleihen. Und das verstärkt er noch, indem er das Klavier diese Bewegung in einer Kombination aus Akkorden im Bass und Sechzehnteln im Diskant nachvollziehen lässt.


    Bilden diese drei Melodiezeilen in ihrer Abfolge trotz der Unterbrechung durch Sechzehntelpausen doch noch eine in sich geschlossene melodische Linie, was vor allem dadurch bedingt ist, dass sie jeweils auf dem Ton ansetzen, mit dem die vorangehende endet, und überdies auch noch dadurch, dass das Klavier den deklamatorischen Schritten punktuell mit Einzeltönen im Diskant und bitonalen bis dreistimmigen Akkorden im Bass folgt, so kommt mit den Worten „Du mußt nun los dich binden“ ein neuer Gestus in die Melodik. Sie entfaltet sich nun in deklamatorisch starker Wortbezogenheit, und dies gleich zwei Mal, denn Beethoven lässt diese Worte mit einem vorgelagerten „ja“ wiederholen, weil sich in ihnen, so wie er das sieht, die aus der existenziellen Endzeit-Erfahrung hervorgehenden höchst relevanten Folgen für das lyrische Ich ausdrücken. Und eben deshalb liegt nun auf jedem Wort, ja sogar auf jeder Silbe nicht nur ein eigener Ton, diese Töne werden auch der semantischen Relevanz entsprechend gewichtet, in Gestalt ihrer jeweiligen deklamatorischen Länge. So liegt auf dem Wort „mußt“ ein punktiertes Achtel, auf dem vorangehenden „du“ sogar ein veritables Viertel, was sich in der ganzen Melodik des Liedes nur noch einmal ereignet: Bei der Wiederkehr dieses Wortes in der Wiederholung des ganzen Verses in der Schlussphase des Liedes, und dieses Mal sogar in der expressiv gesteigerten Form eines in hoher Lage ansetzenden Terzfalls hin zu dem Wort „mußt“.


    Die melodische Behandlung dieser beiden Worte stellt ein besonders repräsentatives Beispiel für die eminente Wortbezogenheit der Melodik dieses Liedes dar. Und sie zeigt sich in ähnlicher Weise auch noch an weiteren Stellen dieses letzten Verses der ersten Strophe. Nicht nur dass dieses „Müssen“ des lyrischen Ichs in markanter Weise hervorgehoben wird, auch die Worte „nun los dich binden“ erhalten zwei Mal eine deutliche Akzentuierung. Auf „nun los“ liegt ein melodischer Sekundsprung. Aber statt dass die melodische Linie, dem lyrischen Text folgend, ihre Bewegung in diese Aufwärtsrichtung fortsetzt, legt sie völlig unerwartet erst eine Sechzehntelpause ein und setzt dann ihre Bewegung bei den Worten „dich binden“ mit einem eine Terz tiefer ansetzenden Sekundsprung fort, wobei dieser gleichsam auftaktig in Gestalt eines deklamatorischen Zweiunddreißigstels erfolgt. Was zur Folge hat, dass die beiden Achtel, die auf dem Worten „binden“ liegen, ein starkes melodisches Gewicht erhalten. Und weil Beethoven dieses Wort „binden“ wichtig ist, legt er bei der Wiederholung darauf nun nicht einen Sekundanstieg, wie beim ersten Mal, sondern eine Tonrepetition, und er lässt ihr dieses Mal keinen Sekundanstieg der melodischen Linie, sondern einen Terzfall vorausgehen.


    Das alles zeugt von kompositorisch hochgradig reflektierter Gestaltung der Melodik. Und das gilt auch für ihre Harmonisierung und den zugehörigen Klaviersatz. Dieser besteht nun in seiner absoluten Ausrichtung auf diese wortbezogene Struktur der melodischen Linie aus die punktuelle Akzentuierung wichtiger deklamatorischer Schritte bewirkenden Akkorden, die durch Pausen voneinander abgehoben werden. Aber er leistet in dieser Funktion noch mehr: Bei den Worten „binden“ „ja du“ und „los dich“ bewirkt er eine Akzentuierung durch in Diskant und Bass partiell gegenläufige Sechzehntelfiguren. Und die Harmonik trägt zur Expressivität der Melodik das Ihre dergestalt bei, dass sie, mit einem G-Dur auf dem ersten „du“ einsetzend, danach permanente Rückungen von h-Moll nach Fis-Dur vollzieht, um schließlich, darin die Schmerzlichkeit der existenziellen Erfahrung des lyrischen Ichs reflektierend, auf einem h-Moll bei der melodischen Tonrepetition auf dem Worten „binden“ zu enden.

        

    Was liedmusikalisch nachfolgt, ist wieder erstaunlich, weil unerwartet. Gerade noch erklang Beethovens „schwarze Tonart“, das h-Moll, da setzt das Klavier im dreitaktigen Zwischenspiel forte mit sechstaktigen Akkordrepetitionen ein, die sich im weiteren Verlauf zu achtstimmigen erweitern und ins Fortissimo steigern. Sie stehen in C-Dur, Beethovens Lichttonart, und wollen, wie sich alsbald herausstellt, einstimmen in die Haltung des lyrischen Ichs bei der Aussage: „Sonst hast du lustig aufgebrannt“. Sie richtet sich an das „Licht“, kann aber auch als monologische Selbstansprache verstanden werden und vergegenwärtigt als solche für einen Augenblick heitere, von Glück erfüllte Lebenszeit. Deklamiert werden diese Worte, wie auch die des folgenden Verses („Nun hat man dir die Luft entwandt“), in Gestalt von Tonrepetitionen auf einer tonalen Ebene in oberer Mittellage, die sich am Ende um eine Sekunde absenkt, was jeweils mit einer harmonischen Rückung von C-Dur nach G-Dur, bzw. (bei der zweiten Zeile) von D-Dur nach G-Dur verbunden ist. Durch dieses zweimalige Enden der Repetitionen in einem Sekundfall kommt eine Anmutung von schmerzlicher Klage in die Melodik. Und die Liedmusik greift sie auf, setzt sie bei den beiden nachfolgenden Versen fort und intensiviert sie. Auf den Worten „wenn diese fortgewehet“ und „die Flamme irre gehet“ liegt beide Male eine in ihrer Grundstruktur ähnliche melodische Figur. Sie wirkt stark vom Sekundfall geprägt, denn die melodische Linie setzt mit einem solchen ein und geht zwar anschließend aus seiner Tonrepetition zu einem Sekundsprung zu einem hohen „D“ über, dem folgt aber erneut ein Sekundfall nach. Das Klavier begleitet das zwei Mal mit einer Dreierfigur aus Sekundfall und Wiederanstieg von Achteln im Diskant, die den Eindruck von schmerzlich-müder Klage intensiviert, der von dieser melodischen Figur ausgeht.


    Und wieder ereignet sich Ungewöhnliches, Überraschendes. Mit dem Wort „sucht“, das Beethoven, abweichend vom lyrischen Text, zweimal deklamieren lässt, bricht die melodische Linie in Einzelpartikel auseinander. Das erste „sucht“ wird noch im unmittelbaren Anschluss an das Wort“ gehet“ auf einem verminderten Sekundanstieg deklamiert. Und dann reißt die melodische Linie ab, denn es folgt eine Pause von zwei Achteln für sie, in der das Klavier mit einem Crescendo eine Folge von sich im Intervall erweiternden vier- und fünfstimmigen Akkorden erklingen lässt, wobei sich eine expressive Rückung von G-Dur über A-Dur nach H-Dur ereignet und die Dynamik unmittelbar in ein Piano zurückfällt. Und mitten hinein in diese Akkordfolge setzt die Singstimme das zweite „sucht“, das hier wie ein einsam-verlorener Ruf wirkt, denn es erklingt in einem unmittelbaren Abbruch des vorangehenden Crescendos, und danach tritt für einen Augenblick Stille ein.


    Für die Singstimme gilt wieder eine Viertelpause, und für das Klavier gar eine von mehr als einem Takt, denn erst im nächsten Takt, nachdem die Singstimme die wiederum einsam und verloren wirkenden, weil von Pausen eingehegten Worte „findet nicht“ auf einem Quartfall deklamiert hat, schlägt das Klavier in der mit einer Fermate versehenen Sechzehntelpause für die Singstimme einen lang gehaltenen A-Dur-Akkord an und verfällt danach erneut in ein langes Schweigen. Derweilen werden die Worte „lisch aus, mein Licht“ auf einer melodischen Linie deklamiert, die mit einem Sekundfall in tiefer Lage einsetzt und dann einen ausdrucksstarken Oktavsprung mit nachfolgendem Legato-Sekundfall auf „Licht“ beschreibt. Und erst jetzt lässt sich das Klavier sich wieder vernehmen. Es lässt im Diskant einen Sextfall erklingen, der wie eine expressive Vergrößerung des melodischen Sekundfalls wirkt und zugleich jenen Fall vorwegnimmt, auf dem die Singstimme erneut die Worte „Lisch aus“ deklamiert. Es ist ein gedehnter, und er mündet in Gestalt einer Tonrepetition in ein „G“ in mittlerer Lage, das eine Fermate trägt. Eine fermatierte Achtelpause folgt nach.


    Kurz hält die Liedmusik inne, die hier, in den Worten des letzten Verses mit der Wiederholung der Worte „sucht“ und „Lisch aus“, der zerstückten, in die Accompagnato-Leere gesetzten melodischen Linie und dem eine hohe Eigenständigkeit in der Aussage entfaltenden Klaviersatz den Höhepunkt ihrer Expressivität erreicht hat. Es ist freilich ein Innehalten auf einem als Dominante fungierenden A-Dur, und es folgt eine weitere Liedstrophe nach, die einschließlich des Nachspiels 17 Takte umfasst. Sie besteht aus der mit einem doppelten „Lisch aus“ eingeleiteten Wiederholung der Liedmusik der ersten Gedichtstrophe, wobei die Melodik auf dem letzten Vers allerdings eine Variation erfährt, dergestalt dass die Worte „du mußt nun los dich binden“ durch einen gedehnten Terzfall auf „mußt“ und den nachfolgenden Aufstieg der melodischen Linie zu einer Tonrepetition mit nachfolgendem Sekundfall in hoher Lage eine Steigerung ihrer Nachdrücklichkeit erfahren.


    Beethoven lässt das Lied in den eigenständig hinzugefügten Worten „Lisch aus, lisch aus, lisch aus, mein Licht!“ enden. Man meinte in der Liedmusik auf sie einen neuen, positiveren Ton in dem appellativen „Lisch aus“ zu vernehmen (Ewan West, in, Beethoven-Interpretationen, Bd.2“). Und in der Tat wohnt ihr, was die Struktur der Melodik, deren Harmonisierung und den zugeordneten Klaviersatz betrifft, die Anmutung eines Einverstanden-Seins des lyrischen Ichs mit seinem Schicksal inne.

    Man kann das dreimalige, jeweils mit dem gleichen Terzfall eingeleitete und in eine Tonrepetition mündende, dabei sich aber in der tonalen Ebene um das Intervall einer Quinte absenkende „Lisch aus“ in der Tat so vernehmen. Dies vor allem deshalb, weil diese melodische Figur beim ersten Mal mit einer Rückung von D-Dur nach h-Moll verbunden ist, beim zweiten Mal aber schon mit einer von diesem h-Moll nach G-Dur, und beim dritten Mal ganz und gar im Tongeschlecht Dur harmonisiert ist. Es beschreibt hier eine Rückung von der Tonart „G“ hin zur Dominante „A“, auf dass die letzte melodische Tonrepetition auf dem Wort „aus“ in einer mit einem arpeggierten A-Dur-Akkord begleiteten Fermate innehalten und mit einem Legato-Terzsprung schließlich zu einer die Melodik beschließenden Kombination aus Sekund- und Terzfall übergehen kann, die auf der Terz zur Tonika D-Dur endet.


    Das dreitaktige, in einem schlichten, piano ausgeführten dreistimmigen D-Dur-Akkord endende Nachspiel vollzieht diese die Melodik beschließende und mit einer harmonischen Rückung von der Dominante zur Tonika D-Dur verbundene Fallbewegung noch einmal nach und verleiht ihr auf diese Weise abschließende Gültigkeit.

  • Ich sehe gerade und bin hoch erfreut:

    Große Betriebsamkeit herrscht mit einem Male hier im Liedforum. Acht Forumsmitglieder waren schon hier, es gibt – augenblicklicher Stand – elf neue Beiträge.

    Nicht hier allerdings, sondern im Thread zu den Wesendonck-Liedern.

    Ist es Zufall, dass diese Erfahrung hier in meiner Einsamkeit einhergeht mit den Worten des gerade vorgestellten Liedes „Resignation“?

    "Lisch aus, mein Licht!

    Was dir gebricht,

    Das ist nun fort,

    An diesem Ort

    Kannst du's nicht wieder finden!

    Du mußt nun los dich binden."


    Ich glaube nicht!

  • Lieber Helmut Hofmann,


    deinen Beitrag Nr. 83 hatte ich heute tatsächlich gelesen und mir das Video mit Peter Schreier angehört. Was du vergleichend zu Schreier und Wunderlich gesagt hast, fand ich auch sehr interessant.

    Dass ich Beethovens Liedschaffen nicht für eine seiner "Königsrubriken" (im Vergelich etwa zu Sinfonie, Klavierkonzert, Streichquartett u.ä.) halte (etwa im Gegensatz zu Schubert, Schumann oder Brahms), hatte ich dir ja in einer anderen Rubrik schon geschrieben.

    Allerdings sind jetzt die Beethoven-Lieder auch nicht weniger bedeutend als die Wesendonck-Lieder, aber wenn die geliebten Opernprimadonnen sich mal in den Liedgesang verirren, ist das natürlich für viele Opernfreunde spannender, als wenn genuine Liedsänger Lieder singen. ;):hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Hab mich gefreut, dass Du dich hier zu Wort gemeldet hast, lieber Stimmenliebhaber. Bin Dir sogar dankbar dafür, das ist schließlich so etwas wie ein singuläres Ereignis in diesem Thread.


    Eben kann ich wieder einmal erleben, unter welchen Umständen es im Liedforum zu einem regelrechten – und durchaus höchst begrüßenswerten - Ausbruch von Aktivitäten kommt. Mit dem, was ich hier treibe, kann ich das nicht nur nicht bewirken, es scheint diesbezüglich geradezu kontraproduktiv zu sein. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu für mich, meldete sich aber gestern in solcher Massivität, dass ich beschlossen habe, vom heutigen Tage an Schluss zu machen mit meinen so ausführlichen liedanalytischen Betrachtungen. Das, woran ich gerade arbeite, es ist Schumanns „Myrten op.25“, werde ich noch zu Ende führen. Es liegen dann fünf fertige Threads vor, die ich allesamt nach und nach noch ins Liedforum einbringen könnte (zum Wegwerfen steckt eigentlich zu viel Arbeit drin). Dann aber ist Schluss. Ich werde – wenn überhaupt – dann nur noch spontan aus dem Handgelenk „posten“. Es ist ein Gebot der Vernunft!


    Aber jetzt kurz zu Deinem Beitrag. Ich kann gut verstehen, dass Dich Liedmusik, insbesondere die von Beethoven, nicht so recht anzusprechen vermag. Musikhören ist in hohem Maße eine Sache der ganz persönlichen Grundeinstellung. Ich zum Beispiel bin diesbezüglich ein ausgewachsener Kammermusiker, vertiefe mich mit Leidenschaft in das kammer- und klaviermusikalische Werk der großen Komponisten des neunzehnten und anfänglichen zwanzigsten Jahrhunderts, aber schon das sinfonische vermag mich oft nicht so recht anzusprechen, und zum Hören und Betrachten des Opernwerks muss ich mich regelrecht durchringen, - aus Pflichtbewusstsein sozusagen.


    Aber wenn Du bekennst: „Dass ich Beethovens Liedschaffen nicht für eine seiner "Königsrubriken" (im Vergleich etwa zu Sinfonie, Klavierkonzert, Streichquartett u.ä.) halte“ …

    so sehe ich mich doch zu einem kurzen Einwand genötigt. Du befindest dich in dieser Auffassung ja durchaus in guter Gesellschaft. Wenn sich ein Theodor W. Adorno musikphilosophisch mit Beethoven auseinandersetzt, dann tut er das auf der Grundlage von dessen Sinfonik und Kammermusik, etwa – und das immer wieder – dem Streichquartett op.59, Nr.1, über das er im Sommer mit dem Geiger Rudolf Kolisch korrespondierte. Was Beethoven betrifft, so kommt er übrigens zu bemerkenswerten Ansichten, wenn er meint:


    „Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie: sie ist zugleich aber wahrer als diese, d.h. es steckt in ihr die Überzeugung, daß die Selbstreproduktion einer Gesellschaft als einer identischen nicht genug, ja daß sie falsch ist. Logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz werden von Beethoven gleichzeitig konstituiert und kritisiert“.


    Gewiss: Zu solchen Erkenntnissen kann man nicht auf der Grundlage von Beethovens Liedmusik kommen. Aber etwas, das ebenfalls von Adorno als markantes Merkmal von Beethovens Musik herausgestellt wird, ihr Ergriffen-Sein von personaler Subjektivität, kann man auch an seinen Liedern erfahren. Gerade das zuletzt hier vorgestellte mit dem Titel „Resignation“ lässt das auf beeindruckende Weise sinnfällig werden. Es vermag einen geradezu zu ergreifen in diesem Durchdrungen-Sein von personaler Subjektivität. Wobei, und das finde ich so bedeutsam, dies hier aber zu einer kompositorisch bewältigten Subjektivität wird.


    Dieses Lied ist formal auf solch subtil-hochgradige Weise kompositorisch durchgestaltet wie die späte Klaviersonaten-Musik Beethovens.

    Das versuchte ich ja in der obigen Besprechung aufzuzeigen, und deshalb ist sie - wieder mal - so lang geworden.

    In den Ausführungen zum nächsten (und letzten) Lied („Abendlied unterm gestirnten Himmel“, WoO 150) wird sich - wenn ich sie denn irgendwann einmal hier eingestellt haben sollte - die Feststellung finden:

    „In der Reduktion auf die elementaren liedmusikalischen Ausdruckselemente und in der konsequenten, allen Verführungen zum Ausweichen in melismatische Gefilde widerstehenden Umsetzung derselben in ein nach dem Prinzip der Variation durchgestaltetes musikalisches Werk stellt die Liedmusik eine Entsprechung zur musikalischen Sprache seiner späten Klaviersonaten dar.“

  • „Abendlied unterm gestirnten Himmel“, WoO 150


    Wenn die Sonne niedersinket,
    Und der Tag zur Ruh´ sich neigt,
    Luna freundlich leise winket,
    Und die Nacht herniedersteigt;


    Wenn die Sterne prächtig schimmern,
    Tausend Sonnenstrahlen flimmern:
    Fühlt die Seele sich so groß,
    Windet sich vom Staube los.


    Schaut so gern nach jenen Sternen,
    Wie zurück ins Vaterland,
    Hin nach jenen lichten Fernen,
    Und vergißt der Erde Tand;


    Will nur ringen, will nur streben,
    Ihrer Hülle zu entschweben:
    Erde ist ihr eng und klein,
    Auf den Sternen möcht´ sie sein.


    Ob der Erde Stürme toben,
    Falsches Glück den Bösen lohnt:
    Hoffend blicket sie nach oben,
    Wo der Sternenrichter thront.


    Keine Furcht kann sie mehr quälen,
    Keine Macht kann ihr befehlen;
    Mit verklärtem Angesicht,
    Schwingt sie sich zum Himmelslicht


    Eine leise Ahnung schauert
    Mich aus jenen Welten an;
    Lange nicht mehr dauert
    Meine Erdenpilgerbahn,


    Bald hab´ ich das Ziel errungen,
    Bald zu euch mich aufgeschwungen,
    Ernte bald an Gottes Thron
    Meiner Leiden schönen Lohn.

    (Heinrich Goeble)


    Die erhebende, von der Enge irdischer Existenz befreiende und die Seele lösende Erfahrung kosmischer Größe, wie sie sich in der Begegnung mit dem nächtlichen Sternenhimmel ereignet und im lyrischen Ich den Wunsch weckt, nach der Beendigung der „Erdenpilgerbahn“ vor Gottes Thron treten zu dürfen, - die Begegnung mit einem lyrischen Text, der solches zum Ausdruck bringt, musste für Beethoven geradezu zur Herausforderung werden, ihn in Liedmusik zu setzen und auf diese Weise die lyrische Aussage zu potenzieren. Dies deshalb, weil er sich durch ihn in seiner menschlich- weltanschaulichen Grundhaltung, wie sie sich in seinen Tagebüchern niedergeschlagen hat, unmittelbar angesprochen gefühlt haben dürfte. Jedenfalls gehört dieses Lied, wie auch das vorangehend vorgestellte und die Kompositionen, die sich mit dem Thema „Sehnsucht“ auseinandersetzen, zu denen, die einen hochgradig biographischen Bezug aufweisen.


    Es ist eine in vielerlei Hinsicht bedeutsame Komposition, die aus dieser Begegnung Beethovens mit diesen Versen Heinrich Goebles hervorging. Dies nicht nur deshalb, weil sie das Ende seiner Betätigung als Liedkomponist dokumentiert, sondern vor allem durch die Liedsprache, in der sie sich präsentiert. In der Reduktion auf die elementaren liedmusikalischen Ausdruckselemente und in der konsequenten, allen Verführungen zum Ausweichen in melismatische Gefilde widerstehenden Umsetzung derselben in ein nach dem Prinzip der Variation durchgestaltetes musikalisches Werk stellt sie eine Entsprechung zur musikalischen Sprache seiner späten Klaviersonaten dar. Es ist reiner, vom Geist der musikalischen Klassik inspirierter Beethoven, dem man hier, in diesem „am 4. März 1820 componierten“ (wie der Notentext ausweist) Lied begegnet, und er ist darin liedhistorisch singulär in dem Sinne, dass von ihm, anders als im Falle von „Resignation“, kein Weg hin zum romantischen Klavierlied führt.


    Die Liedmusik steht in E-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll, was das Tempo anbelangt, „ziemlich anhaltend“ vorgetragen werden. Sie ist als variiertes Strophenlied angelegt. Je zwei Strophen bilden eine liedmusikalische Einheit, innerhalb derer sich bei der Wiederholung unter Berücksichtigung der jeweiligen lyrischen Aussage und der kompositorischen Reaktion darauf eine Variation der Melodik und des Klaviersatzes ereignet. Im zweitaktigen Vorspiel, an dessen Ende die melodische Linie in Gestalt einer Tonrepetition auftaktig einsetzt, lässt das Klavier piano aus hoher Diskantlage fallende Oktaven in Einheit mit drei- und zweistimmigen Akkorden erklingen, die wohl das erste lyrische Bild von der niedersinkenden Sonne und dem zur Ruhe sich neigenden Tag klanglich imaginieren sollen. Das Klavier setzt diese Intention gleichsam fort, indem es die Fallbewegung der melodischen Linie, die nach der Tonrepetition auf dem Wort „Sonne“ einsetzt, in Gestalt von dreistimmigen Akkorden im Diskant und Einzeltönen im Bass mitvollzieht. Diese ereignet sich auf den Worten „niedersinket“ in Gestalt eines langsamen, weil durch eine Tonrepetition kurz innehaltenden zweimaligen Sekundfalls, der auf der ersten Silbe von „sinket“ gar als Legato-Achtelfall angelegt ist und dann erneut in eine Tonrepetition mündet. Die Harmonik beschreibt dabei eine ausdrucksstarke Rückung von E-Dur nach Fis-Dur, und all das zeigt, wie stark Beethovens Liedmusik bei aller Entfaltung gemäß der ihr eigenen strukturellen Anlage darauf ausgerichtet ist, die lyrische Aussage zu reflektieren.


    Diese Ausrichtung der Liedmusik an der Semantik des lyrischen Textes findet sich nicht nur in der Grundstruktur der in den Strophenpaaren sich wiederholenden Melodik und des Klaviersatzes, sie ist auch – dies in Einzelfällen bei der melodischen Linie, in stärker ausgeprägter Form aber beim Klaviersatz – für die Variationen verantwortlich. Darauf soll, wenn die Grundstruktur anhand der Liedmusik auf den ersten beiden Gedichtstrophen aufgezeigt ist, bei den nachfolgenden drei Liedstrophen noch näher eingegangen werden. Bei den Worten „zur Ruh´ sich neigt“ setzt die melodische Linie ihre Abwärtsbewegung in Gestalt eines sie zum Grundton „E“ in tiefer Lage führenden Quintfalls erst einmal fort, wobei das Klavier, das sie bislang in all ihren deklamatorischen Schritten synchron mit Akkorden begleitete und das bis zum Ende der ersten Gedichtstrophe weiterhin tun wird, auch hier erst einmal den tiefsten Punkt in der fallenden Linie seiner Akkorde erreicht hat.


    Bei den Worten „Luna freundlich leise winket“ verharrt die melodische Linie in ruhigen Tonrepetitionen in unterer tonaler Mittellage, allerdings mit einem eingelagerten kleinen Achtel-Sekundfall auf dem Wort „winket“, der wohl dessen Semantik reflektieren soll. Die Harmonik ist hier in den Bereich der Subdominante abgestiegen und beschreibt eine Rückung von A-Dur nach D-Dur. Das Klavier verbleibt mit seinen die Singstimme in ihren deklamatorischen Schritten synchron begleitenden Akkorden im Diskant zwar auf der gleichen tonalen Ebene, die Oktaven und Einzeltöne im Bass zieht es aber immer wieder nach unten, und das scheint eine Art Vorgriff auf das zu sein, was sich im Klaviersatz bei den Worten „Und die Nacht herniedersteigt“ ereignet. Und nicht nur dort. Ganz der lyrischen Aussage entsprechend, beschreiben melodische Linie und Klaviersatz eine neuerliche Fallbewegung, wobei die Harmonik nun eine Rückung von A-Dur zurück in die Tonika vollzieht und die melodische Linie den Tiefpunkt ihrer Bewegung in Gestalt eines „Cis“ in tiefer Lage erreicht hat.


    Noch während dieses kurzen, weil von einer Viertelpause gefolgten Innehaltens der melodischen Linie auf dem tiefen „Cis“ setzen im Klaviersatz Diskant und Bass übergreifende triolische Achtelakkord-Repetitionen ein, mit denen das Klavier die melodische Linie auf den ersten beiden Versen der zweiten Gedichtstrophe begleitet. Sie bringen eine deutliche Steigerung der Expressivität in die Liedmusik, und dies auch deshalb, weil sie beim zweiten Vers mit einem Crescendo in hohe Diskant- und Basslage aufsteigen und darin den Gestus aufgreifen, der auch der melodischen Linie bei diesem Verspaar eigen ist. Diese steigt nach einer Tonrepetition in mittlerer Lage bei den auf „wenn die“ folgenden Worten „Sterne prächtig schimmern, / Tausend Sonnenstrahlen flimmern“ in jeweils vier deklamatorischen Tonrepetitionen in der tonalen Ebene erst um eine Terz, dann um eine Sekunde in hohe Lage auf, um dann schließlich dort bei dem Wort „flimmern“ einen stark gedehnten, weil mit einer Fermate versehenen Terzfall zu beschreiben. Das Klavier akzentuiert diesen Höhepunkt in der Expressivität mit zwei, durch eine fermatierte Achtelpause voneinander abgehobenen achtstimmigen H-Dur-Akkorden, denn die Harmonik hat, ganz dem Crescendo in Melodik und Klaviersatz entsprechend, von der anfänglichen Subdominante A-Dur über die Tonika E-Dur dort eine Rückung in die Dominante H-Dur vollzogen, wo auch die melodische Linie den Höhepunkt in ihren Tonrepetitionen erreicht hat, - dem hohen „Fis“ auf dem Wort „Sonnenstraßen“ nämlich.


    Das, was sich in Melodik und Klaviersatz auf dem ersten Verspaar ereignet, wiederholt sich, einschließlich der expressiven Aufgipfelung am Ende, in seiner Grundstruktur auf allen ersten Verspaaren der nachfolgenden Gedichtstrophen vier, sechs und acht, - dies allerdings einhergehend mit Variationen sowohl in der melodischen Linie, im Klaviersatz und in der Harmonik, ohne dass freilich dabei der Grund-Gestus der Steigerung der liedmusikalischen Expressivität aufgegeben würde. Im Gegenteil: Dadurch, dass das Klavier, darin abweichend von seiner vorangehenden Verfahrensweise, mit dem Prinzip der Akkordrepetitionen schon in der siebten Strophe einsetzt und diese, die hier als Quartolen angelegt sind, dann ohne Unterbrechung in die triolischen auf dem ersten Verspaar der letzten Strophe übergehen lässt, erfahren diese, mitsamt der auch hier in der gewohnten Weise in Gestalt von Tonrepetitionen ansteigenden melodischen Linie in ihrem liedmusikalischen Gestus so etwas wie einen Schub.


    Vielsagend und bemerkenswert ist aber, was liedmusikalisch auf dem zweiten Verspaar dieser vier Gedichtstrophen jeweils nachfolgt, - von dem, was Beethoven der letzten Gedichtstrophe nachträglich liedmusikalisch beigegeben hat, hier zunächst einmal abgesehen. Die melodische Linie beschreibt, mit einer kleinen Abweichung davon in der sechsten Gedichtstrophe allerdings, in allen Fällen die gleiche Bewegung. Sie setzt, um sie anhand des lyrischen Textes der zweiten Strophe darzustellen, mit einem nach dem Crescendo des expressiven Terzfalls in hoher Lage und der auf ihn folgenden fermatierten Pause überraschend wirkenden Piano-Terzfall auf den Worten „fühlt die“ ein. Unmittelbar danach aber geht sie bei den nachfolgenden Worten dieses zweiten Verspaares mit einem Crescendo in einen zweimaligen Aufstieg zu einem „E“ in hoher Lage über, um am Ende, hier bei den Worten „vom Staube los“ eine expressive Kombination aus Septfall, gedehntem Sext- und nachfolgendem Sekundsprung zu beschreiben.


    In dieser vom übrigen Gestus stark abweichenden Sprunghaftigkeit und den starken Schwankungen in der Dynamik – dem unmittelbaren Übergang vom Forte des gedehnten Sekundfalls auf den Worten „so groß“ zum Piano des Terzsprungs auf „windet“ - , Schwankungen übrigens, die der Klaviersatz in seiner akkordischen Begleitung der Singstimme mitvollzieht, reflektiert die melodische Linie die Semantik des lyrischen Textes, der hier davon spricht, dass sich die Seele in der Erfahrung kosmischer Größe vom Erdenstaub „loswindet“.

    Welche Variationen nimmt Beethoven in der Melodik, dem Klaviersatz und der Harmonik in der Liedmusik auf die nachfolgenden drei Gedichtstrophen-Paare vor? Und vor allem: Warum geschieht das in der jeweiligen Gestalt?


    Auf diese Fragen soll noch kurz eingegangen werden. Bei der dritten Gedichtstrophe wandelt er die melodische Linie an zwei Stellen in markanter Weise ab. Bei den Worten „Schaut so gern nach jenen Sternen“ geht sie, abweichend von der ersten Strophe, nach dem anfänglichen Terzsprung nicht in eine Fallbewegung, sondern in einen zweifachen Sekundanstieg zu einem hohen „E“ über, um von dort bei dem Wort „Sternen“ einen ausdrucksstarken Septfall zu beschreiben, und es ist ganz offensichtlich, dass Beethoven mit dieser melodischen Variation das lyrische Bild in seinem Gehalt aufgreifen will. An der Harmonik mit ihrer Rückung von A- nach Fis-Dur ändert er an dieser Selle nichts, auch nicht am Prinzip der Begleitung der melodischen Linie mit den deklamatorischen Schritten folgenden Akkorden.


    Die zweite Variation findet sich bei den Worten „hin nach jenen lichten Fernen, und vergisst der Erde Tand“. In der ersten Strophe verharrt die melodische Linie an der entsprechenden Stelle in Gestalt von Tonrepetitionen in mittlerer Lage, bevor sie sich am Ende in tiefe Lage absenkt. Hier aber steigt sie aus der Tonrepetition bei den Worten „lichten Fernen“ mit zwei Terzsprüngen zu einem hohen „E“ empor, geht dort in einen Legato-Sekundfall über, der sich zu dem Wort „und“ hin in einem Sextfall fortsetzt. Und bevor sie sich am Ende ebenfalls in Sekundschritten zu einem tiefen „Cis“ hin absenkt, beschreibt sie bei dem Wort „vergisst“ noch einmal einen Quartsprung. Die sprunghafte Aufwärtsbewegung reflektiert hier den Blick nach den „lichten Fernen“, und im nachfolgenden Fall mit dem Akzent auf dem Wort „vergisst“ drückt sich die innere Lösung des lyrischen Ichs von „der Erde Tand“ aus.


    Mit der fünften Gedichtstrophe tritt ein tiefgreifender Wandel in die Struktur des Klaviersatzes. Begleitet das Klavier die Singstimme bislang mit zur Deklamation synchronen Akkorden oder mit einer langen Folge von Akkordrepetitionen, so geht es schon im Zwischenspiel vor der fünften Strophe zur Artikulation von quartolischen Sechzehntel-Figuren über, die aus einem Auf und Ab von Einzeltönen und mehrstimmigen Akkorden bestehen, das in Diskant und Bass synchron verläuft. In der unruhigen Bewegtheit, die damit in die Liedmusik kommt, schlägt sich das Bild vom „Toben“ der „Stürme der Erde“ nieder, und so behält der Klaviersatz denn auch diese Struktur bei, bis er bei den Worten „hoffend blicket sie nach oben, wo der Sternenrichter thront“ in eine Folge von klanglich lieblich wirkenden und nun aus dem Auf du Ab von Einzeltönen bestehenden triolischen Sechzehntel-Figuren im Diskant über Oktaven im Bass übergeht.


    Hier lautet die Vortragsanweisung für die melodische Linie „liebevoll“, und auch bei ihr hat Beethoven in dieser fünften Gedichtstrophe eine Variation vorgenommen. Zunächst setzt sie zwar wie in der ersten und der dritten Strophe wieder mit einer Tonrepetition ein, diese geht dann aber, die Semantik der Worte „nach oben“ gleichsam abbildend, mit zwei Terzsprüngen in hohe Lage über und verharrt dort in ruhigen Tonrepetitionen, bis sie auf den letzten Silben von „Sternenrichter“ und dem Wort „thront“ einen anfänglich gedehnten zweifachen Sekundfall beschreibt. Das Klavier ist schon bei den Worten „wo bei“ zu mit einem Crescendo versehenen Akkordrepetitionen in Diskant und Bass übergegangen, und mit diesen Variationen sowohl in der Melodik und wie auch im Klaviersatz will Beethoven dem lyrisch expressiven Bild vom „thronenden Sternenrichter“ musikalisch adäquaten Ausdruck verleihen.


    Die in den letzten drei Strophen sich steigernde Betroffenheit des lyrischen Ichs durch die Erfahrung kosmischer Größe hat eine Zunahme der Variationen zur Folge. So geht das Klavier, abweichend von seiner bisherigen Verfahrensweise, in der sechsten Gedichtstrophe in der Begleitung der unveränderten Melodik auf den Worten „Keine Furcht kann sie mehr quälen, / Keine Macht kann ihr befehlen“ zu rhythmisierten, weil aus der Kombination von Achtel- und Zweiunddreißigstel-Akkorden Figuren mit zwischengeschalteten Pausen über, und in der Melodik ereignet sich bei den Worten „schwingt sie sich zum Himmelslicht“ nun eine sich bogenförmig nach oben schwingende Bewegung, die nach einem kurzen, forte auszuführenden Verharren in hoher Lage in einen Terzfall mit nachfolgendem Sekundanstieg übergeht.


    Dass mit der siebten Gedichtstrophe das Klavier in der Begleitung der melodischen Linie von Anfang an zu partiell repetierenden quartolischen Achtel-Akkordfiguren in Diskant und Bass übergeht, wurde bereits hervorgehoben. Sie sollen „sempre pp“ ausgeführt werden, und in dem Klangbild, das sich in der Aufeinanderfolge der ihre Gestalt permanent wandelnden Quartolen einstellt, bildet sich musikalisch das „Schauern“ ab, das sich im lyrischen Ich in der „Ahnung“ von jenen „fernen Welten“ einstellt. Und so beschreibt die melodische Linie denn auch bei den Worten „mich aus jenen Welten an“, abweichend von der Art und Weise, wie sie sich ansonsten an dieser Stelle der vorangehenden Strophen bewegt, eine expressive wellenartige Folge von Sprung- und Fallbewegungen, die sich über das Intervall einer Septe erstrecken.


    Die tief reichende Identifikation mit der lyrischen Aussage dieser Verse Goebles, ja man darf wohl durchaus sogar von einer Betroffenheit sprechen, bewog Beethoven, wie das ja oft in seiner Liedkomposition der Fall ist, zu einem „Nachtrag“ in Gestalt von eigenem Text, der sich aus für ihn relevanten lyrischen Worten speist.
    Hier ist er, im Unterschied zu Kompositionen, in denen daraus sogar eine ganze Liedstrophe wird, auffallend kurz. Er besteht aus den Worten „ja bald!, bald meiner Leiden schönen Lohn“, und was sich in diesem so kleinen Nachtrag liedmusikalisch ereignet, ist höchst bemerkenswert, verrät es doch eben jene Betroffenheit des Komponisten. Die melodische Linie lässt sie durch die Art und Weise erkennen, wie sie sich auf diesen letzten Worten entfaltet: Mit einem durch Viertelpausen hervorgerufenen Innehalten auf der Wiederkehr des Wortes „bald“ und dem anwachsenden, für die Melodik dieses Liedes ungewöhnlichen Übergang zu immer größeren Dehnungen, endend, nach dem gedehnten kleinen Sekundfall auf „Leiden“ und dem expressiv-gedehnten Sextfall auf „schönen“, in der extrem langen, fast zwei Takte einehmenden Dehnung in tiefer Grundtonlage bei dem Schlusswort „Lohn“.


    Aber da ist noch etwas, das für die Liedmusik dieser Komposition ungewöhnlich ist und die Betroffenheit ihres Komponisten verrät. Bei dem gedehnten verminderten Sekundfall auf dem Wort „Leiden“ beschreibt die Harmonik eine singuläre, weil, wie sonst nicht vorkommend, mit einem Ausgreifen in die Chromatik verbundene Rückung von Gis-Dur über cis-Moll nach Fis-Dur.

    Was im fünftaktigen, in Gestalt von aufsteigenden, im Umfang der Stimmen anwachsenden und harmonisch im Raum der Tonika E-Dur und ihren Dominanten sich entfaltenden akkordischen Nachspiel „sempre pp“ folgt, kann man nicht anders vernehmen und verstehen als ein Entschweben der Liedmusik in die verklärten kosmischen Sphären hin zu „Gottes Thron“, an dem das lyrische Ich den „schönen Lohn“ für all die Leiden seiner irdischen Existenz zu erhalten hofft.

  • Lieber Helmut Hofmann, ich freue mich sehr darüber, dass du nach knapp zweimonatiger Pause wieder an Bord bist und dein hiesiges Werk fortsetzt! :jubel:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Wie sehr ich mich über eure Worte gefreut habe, lieber Stimmenliebhaber und lieber Portator, könnt ihr vielleicht daraus ermessen, dass ich gestern schon diese Besprechung des letztes Beethoven-Liedes einstellen wollte, aber davor zurückgeschreckt bin, weil ich befürchtete, niemand würde bemerken, dass ich meine Betätigung im Forum, die ich aus persönlich-familiären Gründen unterbrechen musste, wieder aufgenommen habe.

    Vielen Dank Euch Beiden!

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