Die Bachkantate (129): BWV69a: Lobe den Herrn, meine Seele

  • BWV 69 a: Lobe den Herrn, meine Seele
    Kantate zum 12. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 15. August 1723)




    Lesungen:
    Epistel: 2. Kor. 3,4-11 (Die Herrlichkeit des Amtes, das zur Gerechtigkeit führt)
    Evangelium: Mark. 7,31-37 (Heilung eines Taubstummen)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 27 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Samuel Rodigast (1674/75)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Blockflöte (Flauto dolce), Oboe I-III, Oboe d’amore, Oboe da caccia, Fagott, Trompete I-III, Pauken, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Oboe I-III, Fagott, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
    Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan!


    2. Recitativo Sopran, Continuo
    Ach, dass ich tausend Zungen hätte!
    Ach wäre doch mein Mund
    Von eitlen Worten leer!
    Ach, dass ich gar nichts red’te,
    Als was zu Gottes Lob gerichtet wär’!
    So machte ich des Höchsten Güte kund;
    Denn er hat lebenslang so viel an mir getan.
    Dass ich in Ewigkeit ihm nicht verdanken kann.


    3. Aria Tenor, Flauto dolce, Oboe da caccia, Continuo
    Meine Seele,
    Auf, erzähle,
    Was dir Gott erwiesen hat!
    Rühme seine Wundertat,
    Lass ein gottgefällig’ Singen
    Durch die frohen Lippen dringen!


    4. Recitativo Alt, Continuo
    Gedenk’ ich nur zurück,
    Was du, mein Gott, von zarter Jugend an
    Bis diesen Augenblick
    An mir getan,
    So kann ich deine Wunder, Herr,
    So wenig als die Sterne zählen.
    Vor deine Huld, die du an meiner Seelen
    Noch alle Stunden tust,
    Indem du nur von deiner Liebe ruhst,
    Vermag ich nicht vollkommen Dank zu weih’n.
    Mein Mund ist schwach, die Zunge stumm
    Zu deinem Preis und Ruhm.
    Ach sei mir nah
    Und sprich dein kräftig Hephata,
    So wird mein Mund voll Dankens sein!


    5. Aria Bass, Oboe d’amore, Streicher, Continuo
    Mein Erlöser und Erhalter,
    Nimm mich stets in Hut und Wacht!
    Steh mir bei in Kreuz und Leiden,
    Alsdenn singt mein Mund mit Freuden:
    Gott hat alles wohlgemacht!


    6. Choral SATB, Flauto dolce, Trompete I, Oboe I-III, Fagott, Streicher, Continuo
    Was Gott tut, das ist wohlgetan,
    Darbei will ich verbleiben.
    Es mag mich auf die rauhe Bahn
    Not, Tod und Elend treiben:
    So wird Gott mich
    Ganz väterlich
    In seinen Armen halten.
    Drum lass ich ihn nur walten.






    Das Sonntagsevangelium erzählt von der Heilung eines taubstummen Mannes, dem Jesus nach Berührung von dessen Ohren und Zunge mit dem Wort „Hephata!“ (das ist verdeutschet “Tu dich auf!“) die Ohren öffnet und die „Fesseln“ der Zunge löst.
    Die Dichtung dieser Kantate nimmt mit mehreren Anspielungen auf diese Geschichte Bezug – in der Hauptsache ist sie aber ein großer Lobgesang für die zahllosen Wohltaten Gottes an den Menschen.


    Die „krumme“ BWV-Nummer 69 a hat nichts mit einer etwaigen „Zweitrangigkeit“ der hier besprochenen Kantate zu tun – diese lässt sich wieder einmal auf die Veröffentlichungsgeschichte der einzelnen Bachkantaten zurückführen, die ja in engem Zusammenhang mit den später vergebenen BWV-Nummern steht:
    Zuerst (im 19. Jahrhundert) wurde nämlich die gleichnamige Bearbeitung dieser Kantate im Rahmen der alten Bach-Gesamtausgabe veröffentlicht, die Bach selber irgendwann in den Jahren nach 1740 von dieser Kantate aus seinem ersten Leipziger Amtsjahr angefertigt hatte.


    Anlass war ein damals feierlich mit einem Gottesdienst begangener Ratswechsel der Stadt Leipzig (diese fanden jeweils jährlich nach der vollzogenen Ratswahl statt) – die hier besprochene Kantate bot dazu mit ihrer festlichen Besetzung und den hymnischen Dankesworten eine gute Grundlage für eine entsprechende Einrichtung. Bach tauschte den Schlusschoral aus, nahm einige andere (unbedeutende) Korrekturen vor und komponierte die neu gedichteten (und auf den konkreten Anlass bezogenen) Rezitative (Sätze 2 und 4) neu.
    In dieser Form fand diese Ratswechsel-Kantate dann Eingang in die alte Bach-Gesamtausgabe und erhielt die BWV 69 im Rahmen der Nummerierung aller Kantaten.
    Da es üblich war/ ist, im Rahmen des Bachwerkeverzeichnisses die „Urversion“ einer Kantate und ihre spätere Bearbeitung (meist weltliche Erstfassung, die später zu einer geistlichen Version umgearbeitet wurde) mit jeweils eigenen (Unter-) Nummern zu versehen, erhielt die hier besprochene Kantate halt ganz pragmatisch die BWV-Nummer 69 a – BWV 69 war halt schon zuerst vergeben worden... :wacky:


    Wie schon erwähnt, ist die Instrumentalbesetzung dieser Kantate mit den 3 Trompeten, Pauken und den verschiedenen Oboen für einen ganz „normalen“ Sonntag im Hochsommer ausgesprochen üppig und festlich – ähnliche Besetzungen erwartet man zu Recht an Weihnachten oder Ostern, aber an einem 12. Sonntag nach Trinitatis?
    Vielleicht wollte Bach – eine sich bietende Gelegenheit nutzend – das zur Verfügung stehende Instrumentarium „mit Pauken und Trompeten“ ausprobieren, schließlich würde das nächste „hohe“ Kirchenfest früher oder später sowieso kommen und dann war man vorbereitet und aufeinander eingespielt – im wahrsten Sinne des Wortes...
    Und während sich z. B. der Text der Kantate der Vorwoche (BWV 179) mit seinem zerknirscht-reuigen Tonfall so gar nicht für den Einsatz von Pauken und Trompeten eignete, bot sich mit der Dichtung dieser Woche nun ein vollkommener Anlass für eine prächtige Dankesmusik mit allem „Drum und Dran“! :yes:


    Passend zur lobpreisenden Grundstimmung beginnt die Kantate mit einem Chor, der auf einem Psalmvers beruht (Psalm 103 Vers 2).
    Bach macht daraus eine grandiose Doppelfuge, die jeweils von einem prächtigen Vor- und Nachspiel umrahmt wird: Auf die Worte “Lobe den Herrn...“ komponiert er das erste bewegte Thema, auf die Worte “Und vergiss nicht...“ das ruhigere zweite. Nach der separaten Vorstellung und Durchführung beider Themen werden diese in einer wirkungsvollen Steigerung zum Abschluss kombiniert.
    Auch wenn die Partitur das nicht explizit vorgibt (aber die Themengestaltung diese Interpretation zulässt), kann das Solistenquartett vor allem in der ersten Fuge im Wechsel mit dem Chor in den Satz mit einbezogen werden.


    Die abwechslungsreiche, farbige Instrumentierung dieser Kantate wird bei der Arie Nr. 3 um einen weiteren „Farbtupfer“ bereichert: Nun treten eine Blockflöte und eine Oboe da caccia in Erscheinung, die gemeinsam mit dem Tenor eine heiter-pastorale Stimmung verbreiten. Bach hat diese Arie später für Solo-Alt umgeschrieben und die Solo-Instrumente in Oboe und Violine umgewandelt, in dieser Form ist sie dann auch in der oben erwähnten Ratswechsel-Kantate BWV 69 enthalten.


    Aus der Kantate BWV 12 (aus seiner Weimarer Zeit) hat Bach offenbar den Schlusschoral übernommen – wobei er hier allerdings die dort eigentlich enthaltene zusätzliche instrumentale Oberstimme (wahrscheinlich für eine Solo-Violine gedacht) weggelassen hat.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)