Dass bei Levit der Musikstrom im Vordergrund steht, würde ich sofort unterschreiben. Für mich war das aber auch eine Entdeckung. Er gibt so den 24 (48) Stücken einen unglaublichen Zusammenhalt. Dass die Fugen nicht mehr heraushörbar sind, habe ich so jetzt nicht wahrgenommen. Da müsste ich noch einmal detailliert hineinhören.
Tatsächlich spielt bei Levit der Klang eine wichtige Rolle, die er bei den Einspielungen Lins und Melnikovs in dieser Gewichtung nicht hat.
Ich finde es bewundernswert, so ein Mammut-Werk im Konzert zu spielen. Gestern habe ich mir die zweite Hälfte (die Präludien und Fugen Nr. 13-24) mit Levit angehört. Was Levits Aufnahme auszeichnet, ist die poetische Wärme und ruhige Versenkung in die Musik. Und der spezifische "russische Ton" melancholischer Getragenheit und Verinnerlichung ist auch da. Besonders einnehmend ist etwa Präludium Nr. 13 oder Präludium und Fuge Nr. 20. Deswegen mag ich diese Aufnahme insgesamt auch sehr. Wenn Du von "unglaublichem Zusammenhalt" sprichst, dann muss ich aber dann doch etwas "beckmessern" und meine schon geäußerte Kritik bekräftigen. Schostakowitsch hat ja nun ausdrücklich an J.S. Bach anknüpfen wollen. Zusammen gehören immer ein Präludium und eine Fuge. Sie sollten sich als gegensätzliche Partner, die zusammen gehören, im Charakter auch deutlich unterscheiden. Der Hörer sollte also vom Interpreten immer klar beantwortet bekommen: Was ist das Präludium und was ist die Fuge? Bei Levit gibt es allerdings die Tendenz, Präludium und Fuge im Charakter anzugleichen, so dass man meint, man hört nicht Präludium und Fuge, sondern zwei Präludien, also zwei für sich alleine stehende Charakterstücke, so dass man - mehr oder weniger - die Komplementarität von Präludium und Fuge kaum noch erkennt. Am extremsten zu spüren ist das bei Präludium und Fuge Nr. 15 (Träck 6, CD 2). Hier ist Schostakowitsch nahe an Prokofieff - das Präludium ist eine Art Prokofieff-Ballett-Musik. Levit hämmert die folgende Fuge nun motorisch herunter, als sei es die Toccata von Prokofieff. Ich habe schlicht nichts mehr von einer Fuge erkannt! Also habe ich doch etwas irritiert mein Durchhören gestoppt und Ashkenazy zum Vergleich herangezogen. Und siehe da: Bei Ashkenazy hört man sehr klar und deutlich die Fuge heraus! Ashkenazy spielt auch das an ein Prokofieff-Ballettstück erinnerne Präludium mit einer beißenden Hyper-Präzision. Damit wird die Musik doppelbödig. Noch heute werden in Russland die armen Ballettschülerinnen gedrillt. Die Vorliebe für den Ballett-Tanz bei Prokofieff und Schostakowitsch rührt ja letztlich nicht nur daher, dass sie gerne im Bolschoi-Theater "Schwanensee" geschaut und gehört haben - der Ballett-Tanz wird vielmehr zum Symbol der Zwänge des Stalinismus - wo Romantik kippt zur zwanghaften Bewegung einer funktionierenden Marionette. Ashkenazy äußerte mal: "Bei einem Russen dürfen sie nie glauben, was offensichtlich ist. Sie müssen immer fragen: Was teckt dahinter?" Schostakowitsch, den Stalin mehrfach an den Rand des Selbstmords trieb, hat dieses Versteckspiel zu einer Kunst perfektioniert. Wirklich atemberaubend spielt Ashkenazy das Präludium Nr. 14. Da ist die nackte Verzweiflung spürbar, die nur mühsam zurückgehalten wird. Levit gestaltet im Vergleich ohne Frage sehr poetisch. Er taucht das Stück in eine Stimmung intimer Melancholie. Aber dass sich da ein Drama versteckt, diese sich quälend aufstauende Spannung, die von nackter Verzweiflung zeugt, hört man so auch nicht. Das Präludium Nr. 13, das Levit so wunderbar gelingt, spielt Ashkenazy viel "trockener". Das ist sicher weniger "einnehmend" für den Hörer, wirkt distanzierter. Aber Ashkenazy hat auch hier einen Grund, das so zu spielen, nämlich Schostakowitschs Versteckspiel: Schostakowitsch spielt den "Musterknaben" eines Sowjet-Komponisten, indem er eine Schulaufgabe von einem "richtigen" Präludium abliefert. Ashkenazy will offenbar nicht, dass der Hörer hier in Poesie gleichsam badet, sondern dass sich die Poesie wiederum versteckt: Vordergründig hören wir ein akademisches, perfekt komponiertes Präludium - aber hintergründig ist die Melancholie da, der resignative Schatten, der darauf fällt, also eine innere Zerrissenheit, die sich nur leise und andeutungsweise verrät: Selbstdistanzierung als Form, sich seine innere Freiheit zu bewahren. Einnehmend bei Levit ist, dass er die Stücke so "lyrisch" intensiv spielt. Durch diese lyrische Poesie ist Schostakowitschs Musik bei ihm aber auch immer das, was sie ist. Ashkenazys oft mehr objektivierende Distanz ist da "hintergründiger", doppelbödiger. Damit sind wir aber bei tieferen Interpretationsfragen angelangt...
Gould würde das nie und nimmer so spielen . Eine sehr polyphone und trotzdem sehr sensible Einspielung kommt von der amerikanischen Pianistin Jennifer Lin, die ich oben schon erwähnt hatte und die auch im Thread insgesamt schon erwähnt wird.
Gould hat Schostakowitsch offenbar als Sowjet-Komponisten verortet und einen Bogen um ihn gemacht. Sehr schade - Prokofieff hat Gould ja gespielt (die 7. Sonate), aber auch nicht ohne eine ironische Bemerkung über den Sowjetgeist. In die Aufnahme von Jenny Lin (sie ist oben in einem früheren Beitrag verlinkt) habe ich reingehört. Das ist offenbar eine klare und auch schön gespielte Aufnahme. Nur fehlt mir bei dieser Interpretation doch der Tiefgang der "russischen Seele", insbesondere die Komplikationen der so schwierigen Künstlerpersönlichkeit Schostakowitschs. Das ist alles tadellos und auch schön gespielt - aber mir zu harmlos, zu unbeschwert. Und dann stört mich schon im Präludium Nr. 2 mit den rasenden Läufen der chinesische Nähmaschinenstil - da stechen mir die Töne wie tausende kleine Nähnadeln in die Ohren. Da ziehe ich Tatjana Nikolajewa dann letztlich eindeutig vor. Ihr Vortrag hat einfach mehr Gewicht - und gerade auch seelische Komplexität. Lin ist mir doch etwas zu unschuldig-naiv. Sehr neugierig gemacht hat mich die Aufnahme von Keith Jarrett. Das ist zwar nicht unbedingt "idiomatisch", aber Schostakowitsch aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet, der des Jazz-Musikers. Das ist nicht nur pianistisch fabelhaft, sondern auch bis in die letzte Note klug durchdacht. Dafür, neue Seiten einer Musik auf so einem hohen Niveau präsentiert zu bekommen, bin ich immer offen!
Schöne Grüße
Holger