BWV 49: Ich geh und suche mit Verlangen
Kantate zum 20. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 3. November 1726)
Lesungen:
Epistel: Eph. 5,15-21 (Lasst euch vom Geist Gottes erfüllen; ermuntert einander mit Psalmen und Lobliedern)
Evangelium: Matth. 22,1-14 (Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 29 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choral: Philipp Nicolai (1599)
Besetzung:
Soli: Sopran, Bass; Oboe d’amore, konzertante Orgel, Violoncello piccolo, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Sinfonia (E-Dur) SATB, Oboe d’amore, Orgel, Streicher, Continuo
2. Aria Bass, Orgel, Continuo
Ich geh’ und suche mit Verlangen
Dich, meine Taube, schönste Braut.
Sag’ an, wo bist du hingegangen,
Dass dich mein Auge nicht mehr schaut?
3. Recitativo Sopran, Bass, Streicher, Continuo
Bass
Mein Mahl ist zubereit’
Und meine Hochzeitstafel fertig,
Nur meine Braut ist noch nicht gegenwärtig.
Sopran
Mein Jesus red’t von mir;
O Stimme, welche mich erfreut!
Bass
Ich geh’ und suche mit Verlangen
Dich, meine Taube, schönste Braut.
Sopran
Mein Bräutigam, ich falle dir zu Füßen.
Bass
Komm, Schönste, komm und lass dich küssen,
Du sollst mein fettes Mahl genießen.
Komm, liebe Braut, und eile nun,
Sopran
Komm, Schönster, komm und lass dich küssen,
Lass mich dein fettes Mahl genießen.
Mein Bräutigam, ich eile nun,
Beide
Die Hochzeitskleider anzutun.
4. Aria Sopran, Oboe d’amore, Violoncello piccolo, Continuo
Ich bin herrlich, ich bin schön,
Meinen Heiland zu entzünden.
Seines Heils Gerechtigkeit
Ist mein Schmuck und Ehrenkleid;
Und damit ich will besteh’n,
Wenn ich werd’ im Himmel geh’n.
5. Recitativo Sopran, Bass, Continuo
Sopran
Mein Glaube hat mich selbst so angezogen.
Bass
So bleibt mein Herze dir gewogen,
So will ich mich mit dir
In Ewigkeit vertrauen und verloben.
Sopran
Wie wohl ist mir!
Der Himmel ist mir aufgehoben:
Die Majestät ruft selbst und sendet ihre Knechte,
Dass das gefallene Geschlechte
Im Himmelssaal
Bei dem Erlösungsmahl
Zu Gaste möge sein,
Hier komm’ ich, Jesu, lass’ mich ein!
Bass
Sei bis im Tod getreu,
So leg’ ich dir die Lebenskrone bei.
6. Aria + Choral Sopran, Bass, Oboe d’amore, Orgel, Streicher, Continuo
Dich hab’ ich eh und je geliebet,
Wie bin ich doch so herzlich froh,
Dass mein Schatz ist das A und O,
Der Anfang und das Ende.
Und darum zieh’ ich dich zu mir.
Er wird mich doch zu seinem Preis
Aufnehmen in das Paradeis;
Des klopf’ ich in die Hände.
Ich komme bald,
Amen! Amen!
Ich stehe vor der Tür,
Komm, du schöne Freudenkrone, bleib’ nicht lange!
Mach’ auf, mein Aufenthalt!
Deiner wart’ ich mit Verlangen.
Dich hab’ ich je geliebet,
Und darum zieh’ ich dich zu mir.
Diese schöne Kantate hat Bach mit dem Titel “Dialogus“ versehen und sie steht damit in einer in der Barockzeit recht beliebten Tradition der sogenannten “geistlichen Dialogkantaten“, in der ein allegorisches Zwiegespräch (häufig zwischen der gläubigen Seele und Jesus) stattfindet.
Bach hat selber mehrere Kantaten vertont, in denen ein solches Zwiegespräch zweier allegorischer Figuren stattfindet (wie z. B. BWV 32 oder auch in BWV 66) – diese Form der Dialogkantate, obwohl eigentlich vor allem im 17. Jahrhundert „beheimatet“, war also nach wie vor ein zuweilen eingesetztes Stilmittel, um die Zuhörer direkt anzusprechen. Schließlich konnte sich jeder mit der hier präsentierten Rolle der Seele identifizieren.
Das im Evangelium des heutigen Sonntags erwähnte Hochzeitsfest (siehe hierzu auch das zur Kantate BWV 162 Geschriebene) wird vom Textdichter dahingehend interpretiert, dass er den Dialogpartnern der Kantate die Rollen Jesus = Der Brätuigam und Seele = Die Braut zuweist – ein naheliegender Gedanke, der in Ansätzen schon dem biblischen Gleichnis innewohnt. Konsequenterweise übertragt Bach dem Bass in seiner Funktion als traditioneller “Vox Christi“ (siehe z. B. auch die Passionsvertonungen) den Jesus-Part, während die Sopranstimme die gläubige Seele übernimmt – sicherlich auch mit Bedacht gewählt, da die hohe Sopranstimme (noch dazu die eines Knaben!) rein und unschuldig wirkt und so die allgemeine Vorstellung von der Beschaffenheit menschlichen Seele überzeugend darstellt.
Auch in dieser Kantate überwiegt damit also der Aspekt der Freude auf die prächtige Hochzeitsfeier, die kaum von bangen Gedanken an etwaige unwürdige Festgäste getrübt wird.
Wie bereits bei der 14 Tage zuvor aufgeführten Kantate BWV 169 angemerkt, hat Bach in diesem Zeitraum gerne ältere eigene Konzertsätze (aus seiner Köthener Zeit) als virtuos-festliche Einleitungsmusiken seiner Leipziger Kantaten wiederverwendet.
Die Sinfonia der hier besprochenen Kantate dürfte in ihrer Urform ein Oboenkonzert gewesen sein (es gibt wohl Rekonstruktionsversuche aus unserer Zeit). Nun darf sich wieder einmal die Orgel als Soloinstrument hervortun und so ist es eigentlich nur konsequent, wenn Bach ein paar Jahre später diesen Weg fortschreitet und diesen Orgelpart in einen für Cembalo umwandelt.
Wir kennen diese Sinfonia heute nämlich auch als 3. Satz des E-Dur-Cembalokonzerts BWV 1053 – die ersten beiden Sätze dieses Konzerts hatte Bach in der bereits erwähnten Kantate BWV 169 zwei Wochen zuvor verwendet.
Die Verwendung einer ausgedehnten und konzerthaften Sinfonia zu Beginn einer geistlichen Kantate mag mitunter ein bisschen willkürlich wirken – zu der hier besprochenen Kantate passt eine solche Einleitung jedoch ganz hervorragend: Wie ließe sich besser angemessener zur erwähnten „königlichen Hochzeit“ aufspielen, als mit einer derart festlichen Tafelmusik?
Die Arie Nr. 2 gibt der solistisch eingesetzten Orgel eine weitere Gelegenheit, sich konzertant hervorzutun.
Im nun folgenden Rezitativ Nr. 3 wird nun der erwähnte „Dialogus“ aufgenommen und in der Folge zu einem herrlichen Duett beider Stimmen gesteigert. Wenn man sich diesen Satz anhört, fragt man sich wieder einmal, warum Bach keine Oper geschrieben hat: Den typischen opernhaften Tonfall und den dramatischen Instinkt hatte er auf alle Fälle! Solche meisterhaften kleinen Szenen wie diese hier beweisen das eindeutig...
Dem Text entsprechend fällt auch die folgende Arie Nr. 4 klangprächtig aus: Die geschmückte Braut freut sich ihres Aufputzes und hofft, ihrem Bräutigam zu gefallen.
Dazu spielen Oboe d’amore und das Violoncello quasi zu einem imaginären eleganten Tanz auf.
Das Rezitativ Nr. 5 setzt den Dialog fort und endet mit einem kleinen Arioso.
Abschließend erfolgt im 6. Satz ein weiteres kunstvolles Duett, in dem der Sopran in Ermangelung eines Chores den Schlusschoral dieser Kantate singt (es handelt sich um die 7. Strophe des bekannten Chorals “Wie schön leuchtet der Morgenstern“, den Bach unter anderem bereits in seiner gleichnamigen Choralkantate BWV 1 verwendet hatte), während der Bass dazu einen eigenständigen Part singt, der motivisch jedoch auch Anklänge an die bekannte Choralmelodie hat.
Und als ob das nicht schon genug wäre, treten nun noch das Orchester und die konzertante Orgel hinzu und tragen ihren eigenen Part zu diesem Satz bei, der wiederum musikalisch an der Choralmelodie orientiert ist! Ein echtes Meisterwerk!!
Und wenn ich mir in diesem Satz Textzeilen wie „Ich stehe vor der Tür,/ Mach’ auf, mein Aufenthalt!“ ansehe, klingt hier für mich schon so etwas wie eine Andeutung durch, dass die Adventszeit auch nicht mehr allzu ferne ist (siehe z. B. den 4. Satz in BWV 61) und sich das Kirchenjahr allmählich dem Ende entgegen neigt...