Ein impressionistischer Komet - Emmanuel Chabrier 1841 - 1894

  • Bei etwas Internetrecherche zu Le Roi malgre lui stieß ich noch auf den Anbieter
    kernow classics (mit gleichnamiger I-Adresse, hinten mit co.uk natürlich). Dort gibt es die Erato.Einspielung unter Dutoit angeblich zum Preis für schlappe 20 br. Pfund., was bei dem aktuellen Wechselkurs von 1:1,39 der schon wesentlich brieftaschengerechteren Summe von
    knapp 28 EUR gleichkommt. :jubel: (also ähnlich teuer wie die über amazon.com)


    :hello:
    Wulf

  • Tolle Quelle, danke Wulf! Etwas über 30 € wird's aber schon werden, denn nicht jeder kann zu dem Kurs bezahlen und Versandkosten kommen ja auch noch dazu. Trotzdem: derzeit wohl die billigste Quelle. Hat jemand schon Erfahrungen mit denen?


    Da gibt's übrigens auch noch eine (mir unbekannte) GWENDOLINE des ORTF, die noch nicht erwähnt wurde, und die erwähnte ORTF-Aufnahme von LE ROI MALGRE LUI des französischen Rundfunks, zusammen mit L'EDUCATION MANQUEE unter Gardiner. Die Box geht mit 60 Pfund allerdings genauso ins Geld wie das teure Angebot der Dutoit-Einspielung des ROI, nur kriegt man noch einiges dazu.


    :hello: Rideamus

  • Wenn ich diesen Thread richtig verfolgt habe, wurden bisher vor allem Chabriers Werke für Orchester beziehungsweise für die Oper gennant- aber auch das Ouvre für Klavier ist durchaus interessant.


    Die neueste Aufnahme auf diesem Sektor stammt von Angela Hewitt:



    Von ferne meint man so manchmal Anklänge an Debussy zu hören. Die Wahl des Covers ist übrigens keine Laune des Labels. Chabrier schätzte die impressionistische Malerei sehr. wie farbenreich Chabriers Werke für Klavier sind hört man auf dem Fazioli der Pianistin besonders gut.



    Alexandre Tharaud hat alle Werke für Klavier aufgenommen. Allerdings sind nicht mehr alle CD´s lieferbar- falls ich richtig recherchiert habe.


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Lieber Christian,


    wie schon weiter oben gesagt, fühle ich mich im Klavierrepertoire nicht gut genug bewandert um mich hier näher auszulassen. Wenn Du allso mehr ins Detail gehen möchtest... :D


    Wie ich im Einleitungsbeitrag schon schrieb (ich hatte ja keine Ahnung, dass der Thread so schnell so lang werden würde), war Chabrier mit den meisten impressionistischen Malern sehr gut befreundet und gibt es ja auch ein Manet-Bild von ihm.


    Bei den Liedern habe ich mir gerade die von Edwin empfohlene Sammlung mit Felicity Lott vorgemerkt, da ich schon eine Reihe von ihnen aus Konzertmitschnitten mit ihr kenne. Aber auch hier lasse ich sehr gerne jemand Kompetenterem den Vortritt. Fairy scheint das in dem Fall ja (noch) nicht zu sein, obwohl ich sicher bin, dass sie bald aufholen wird, wenn Messiaen sie lässt.
    Bis dahin aber gilt auch hier: Freiwillige bitte vor.


    :hello: Rideamus

  • Une education manquee


    Bei der Vorstellung von Chabriers Bühnenwerken gehe ich leicht unchronologisch vor und beginne nicht mit der Opera comique L'ETOILE von 1877 sondern mit seiner zwei Jahre später uraufgeführten einaktigen Operette UNE EDUCATION MANQUEE (bei Wikipedia hat das jemand sehr glücklich mit DIE BILDUNGSLÜCKE übersetzt) sowie den beiden unvollendeten Einaktern, die den beiden Vorgenannten voraus gingen.


    Die Geschichte des sehr hübschen und musikalisch ungemein reizvollen Einakters nach einem Libretto von Eugene Leterrier und Albert Vanloo ist schnell erzählt:


    Sie spielt in einem Wohnzimmer zur Zeit Ludwig XVI vor der Revolution. Der junge Gontran de Bois-Massif (Hosenrolle für Sopran mit dem anzüglichen Namen Massivholz), der von seinem Tutor Pausanias (Bariton) ausgebildet wurde, und die im Kloster erzogene Helene de la Cerisaie (Sopran - kaum weniger anzüglich Helene vom Kirschgarten -?-) - beide Cousin/Cousine - haben gerade geheiratet und wollen die Hochzeitsnacht begehen. Beide haben aber nicht die geringste Ahnung, was sie da zu tun haben, denn nichts, was sie bisher gelernt haben, hat sie darauf vorbereitet. Gontran befragt seinen Erzieher, aber auch der hat keine Ahnung. Er verspricht jedoch, einen Kollegen zu befragen, was da zu tun sei. In seiner Abwesenheit bricht ein schweres Gewitter los, das die beiden veranlasst, aneinander Schutz zu suchen. Während sie sich umarmen und eine neue Qualität ihrer Küsse entdecken, beginnen sich nicht nur ihre ängstlichen Herzen zu regen. Die Natur übernimmt nun das Ausfüllen der Bildungslücke, und als Pausanias zurück kehrt, ist sein Rat überflüssig geworden. Das Paar bittet das Publikum um Verständnis dafür, dass es jetzt allein sein wolle.


    Kann man mit dieser winzigen Anekdote auch nur einen Einakter füllen? Oh ja, man kann, und zwar dank Chabriers bezaubernder Musik sogar einen enorm unterhaltsamen. Man höre nur einmal in die poetisch-beschwingte Ouvertüre hinein. Es folgen ein Couplet von Pausanias, das noch ganz in der Tradition Offenbachs steht und ein weiteres von Gontran, das eine ganz eigene Musiksprache voller unerwarteter Entwicklungen verrät, wie man sie auch aus Chabriers Liedern kennt.


    Das darauf folgende Duett zwischen Gontran und Helene wäre in Berlioz' BEATRICE ET BENEDICT nicht deplatziert, überrascht aber mit einer Orchestersprache, die bereits in die Zukunft weist. Das darauf folgende zweite Coplet Gontrans greift das Motiv der Ouvertüre auf, entwickelt es aber mit fast kühner Chromatik weiter. Das Prachtstück der Operette ist aber das finale Duett zwischen Helene und Gontran, die beieinander vor dem Gewiter Schutz suchen, und dessen Hauptmotiv der erst ängstlich, dann aufgeregt und schließlich begierig flatternden Herzen ebenfalls Eingang in die Ouvertüre gefunden hat. Wagners Motivarbeit hat hier sehr hübsche Folgen gezeitigt und Chabrier beweist, dass diese Technik nicht nur für Monumentalgemälde geeignet ist, sondern auch zu einem beschwingten Walzer führen kann, in dem beide miteinander verschmelzen.


    Ich kenne drei Aufnahmen des Werkes, die man leider alle nur antiquarisch oder auf dem grauen Markt besorgen kann. Die eine ist eine frühe Rundfunkaufnahme einer konzertanten Aufführung von John Eliot Gardiner von 1982 mit Anne-Marie Rodde, Sonia Nighogossian und Maurice Seyes. Sie klingt fast zu monumental (mit donnerndem Gewitter), wurde aber musikalisch sehr sorgfältig realisiert. Allerdings fehlt ihr ein wenig an Gespür für den Witz der Operette - nicht unähnlich Gardiners Aufnahme der LUSTIGE WITWE. Ich habe sie von OperaShare. Sie ist aber auch in der oben erwähnten, teuren Box enthalten, die es bei Kernow Classics gibt.


    Die zweite Aufnahme von Charles Bruck mit Christiane Castelli, Claudine Collart und Xavier Depraz verzichtet leider auf eine Übersetzung des Librettos. Da auch die Musik etwas pauschal und mit sehr begrenzter Dynamik eingespielt ist, halte ich diese Aufnahme für die Entbehrlichste, trotz der sechs Lieder Chabriers, in denen Helene Boschi Christiane Castelli am Klavier begleitet. Da die Interpretation ziemlich pauschal ausfällt und es von den Liedern auch die schon erwähnte komplette Einspielung mit Felicity Lott gibt, die Castelli in der Gestaltung um Längen voraus ist, empfiehlt sich diese Aufnahme allenfalls für die zwar Neugierigen, aber nicht wirklich Interessierten.


    Zu der ebenfalls vergriffenen EMI-Aufnahme von Jean-Claude Hartemann mit Liliane Berton, Jane Berbie und Jean-Christophe Benoit, der dort ebenfalls vier Lieder Chabriers singt, vermag ich nichts zu sagen, außer dass die Künstler zu den bewährtesten der Gattung gehören - und dass sie für ein Schweinegeld (auch Liebhaberpreis genannt) von rund 70 Teuro beim Amazon Marketplace zu haben ist.


    Bleibt diese Aufnahme, die es immerhin noch beim französischen Amazon in einem vernüftig gepreisten Angebot gibt:



    Diese Einspielung unter Roger Delage mit Mireille Delunsch, Brigitte Desnoues und Jean-Louis Georgel vereint zum Glück alle Vorteile: eine vorbildliche Textverständlichkeit, ein mehrsprachiges Textbuch, die beste musikalische (und Dialog-) Realisation und last, but definitely not least koppelt sie die Operette mit den unvollendeten Einaktern FISCH-TON-KAN und VAUCOCHARD ET FILS. Von denen mehr beim nächsten Mal.


    Was will man mehr, außer dass diese höchst begehrenswerte Scheibe schleunigst wieder auf den Markt kommt und dann auch GEKAUFT wird. Mehr als oft gehört wird sie dann bestimmt.


    :hello: Rideamus.

  • Vaucochard et fils 1er und Fisch-Ton-Kan


    Nun zu den Fragmenten, deren Qualität alles andere als fragwürdig ist. Beider Libretti schrieb der drei Jahre jüngere Dichter Paul Verlaine, den Chabrier mit gut 20 Jahren kennen lernte, und der ihm ein Leben lang verbunden blieb. Als Chabrier sein Leben in der Heilanstalt von Vincennes beschließen musste, widmete ihm Verlaine ein sehr schönes Sonnett. Es beginnt, grob übersetzt, so:


    Chabrier, ein lieber Freund und ich
    Schrieben Worte, denen du Flügel gabst,
    Und wir bebten, als unserem Eifer
    Das Ecce Deus und ein unbestimmtes Etwas zu Hilfe kamen..


    Im Hause meiner Mutter improvisierte
    Dein charmantes und gutes Genie auf dem Piano,
    Und um uns schwebte, wie ein feuriger Ring,
    Eine Aura von Wärme und süß glühender Freude...


    Der "liebe Freund" war Verlaines Mitstudent Lucien Viotti, der auch an den Libretti der beiden Einakter witwirkte. Das erste der beiden Bücher, von dem Chabrier nur vier Nummern vertonte, war VAUCOCHARD ET FILS. Von der Handlung um einen tyrannischen König und seine Dienstboten ist mir zu wenig bekannt um sie hier zu referieren. Sie fällt aber in das beliebte Operettenschema der komisch unterlaufenen Pomposität.


    Was aus den vier Nummern erklingt, ist atemberaubend, und es verwundert wenig, dass sich niemand traute, das Stück aufzuführen. Das war wohl auch der Grund, warum Chabrier die Arbeit daran, und leider auch an dem nächsten Stück abbrach. Die Musik ist von einer tonalen Kühnheit und formalen Respektlosigkeit, die man frühestens im 20. Jahrhundert vermuten würde, bleibt aber stets im Rahmen der Tonalität. Ich weiß nicht, ob Debussy oder Ravel diese Fragmente kannten, aber sie hätten ihre helle Freude daran gehabt und noch ein Künstler wie Reynaldo Hahn hatte sie nachweisbar.


    Nur leicht konventioneller, dafür aber noch zugänglicher und berückender ist die Chinoiserie FISCH-TON-KAN. Wäre sie je fertiggestellt worden, gäbe sie ein kongeniales Pendant zu Offenbachs frühem Meisterwerk BA-TA-CLAN ab. Es basiert auf einem Einakter für das Sprechtheater von T. Sauvage und G. de Lurieu, FISCH-TONG-KHAN OU L'ORPHELIN DE LA TARTARE, der 1835 am Theater du Palais Royal aufgeführt worden war. Verlaine übernahm aber nur wenig von diesem Stück. Nur fünf auskomponierte Nummern haben überlebt. Manches davon, vor allem die komische AIR DE POUSSAH, hat Chabrier immerhin in seine Operette L'ETOILE hinüber gerettet. Der erste große Höhepunkt des Fragments ist aber das Trio "Ah! Mon Seigneur, c'est trop d'honneur!", in dem der chinesische Kaiser KAKAO (in dem Verlaine sich selbst karikierte) die schöne Goulgouly vor den Augen ihres Liebhabers FISCH-TON-KAN, dem 20. Sohn eines Königs der Tartaren, zu verführen versucht. Das Finale dieses Terzetts mündet in einen köstlichen Pseudo-Kanon, der sicher nicht von ungefähr als Parodie auf eine Bachsche Fuge einher kommt, bevor diese in einen spöttischen, melodisch bezaubernden Kehraus mündet.


    Dieses rare Terzett wird gefolgt von zwei Duetten, welche den ganzen Reichtum der melodischen und, vor allem im letzten Duett, auch poetischen Ader Chabriers illustrieren. Um Edwins sehr berechtigten Ausdruck aufzugreifen: Süffigere Liebesmusik wurde selten geschrieben als die abschließende Barcarole, in der die Stimmen Goulgoulys und Fisch-Ton-Kans verschmelzen, nachdem sie über einen etwas holprigen Einstieg, in dem sich Chabrier nonchalant über die eigentlichen Wortbetonungen hinweg setzt und damit die bisher waltenden Missverständnisse zwischen den beiden illustriert, zueinander gefunden haben. Entstammte das Duett einem erfolgreicheren Werk, es würde heute neben Offenbachs Barcarole zu den unsterblichen Duetthits der Musikliteratur gehören.


    Unverständlich, warum die eifrigen Vervollständiger an diesem zauberhaften Fragment vorüber gegangen sind, denn in Verbindung mit Offenbachs Einakter wartet hier eine einmalige Chance für einen sensationellen Fund und einen denkbar unterhaltsamen Theaterabend.


    Kaum zu glauben, dass diese kurzen Stücke nur ein Versprechen auf das sind, was folgen sollte. Geradezu überwältigend aber finde ich, dass diese Versprechen auch sämtlich und mehr als reichhaltig eingelöst wurden, wie noch zu sehen bzw. zu lesen sein wird.


    Bis dahin :hello: Rideamus

  • Christian wies dankenwerterweise bereits darauf hin: auch die Klavierwerke Chabriers sind echte Juwelen - nicht wenige weisen in damalige Terra incognita.


    Die Anzahl der Klavierwerke ist nicht groß, dafür aber umso delikater.


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    Juvenilia, 1849 – incl.: Euphrasie, polka; Wileika, schotish; Nocturne; Aïka, polka-mazurka arabe (Riom, 1855)
    Rêverie, 1855; Le scalp!!! (1856); Julia, valse, op.1, 1857; Souvenirs de Brunehaut, waltzes (1862); Marche des Cipayes (1863); Suite de valses, ?1872, anon. arr., pf (1913); Impromptu, C (1873); 10 pièces pittoresques, 1880–81 (1881): 1 Paysage, 2 Mélancolie, 3 Tourbillon, 4 Sous bois, 5 Mauresque, 6 Idylle, 7 Danse villageoise, 8 Improvisation, 9 Menuet pompeux, 10 Scherzo-valse [nos.6, 7, 4, 10 also arr. orch as Suite pastorale]
    Habanera (1885), also arr. orch (1889); Bourrée fantasque (1891), also arr. orch, MS, inc.; Aubade, 1883 (1897); Ballabile, ?1889 (1897); Caprice, ?1889 (1897); Feuillet d’album, ?1889 (1890); Ronde champêtre, ?1870s (1897); Air de ballet, 1870s (1897)


    2 pf: 3 valses romantiques (1883)


    Pf 4 hands: Pas redoublé (cortège burlesque), 1871 (1913); Prélude and Rondo (Marche française), 1883, rev. 1885 (1993) (orch. as Prélude pastorale and Marche française, 1888 ); Marche française, rev. 1890 as Joyeuse marche (1890), arr. pf solo, 1890 (1890); Souvenirs de Munich, quadrille on themes from Tristan und Isolde, 1885–6; in BSIM, vii (1911), 33



    Steven Huebner: 'Chabrier,Emmanuel', Grove Music Online, ed. L. Macy (Accessed 5 October 2001), <http://www.grovemusic.com>
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    Hervorzuheben sind v.a. die 10 pièces pittoresques, die eine völlig eigenständige Klangsprache Chabriers offenbaren: zehn Miniaturen par excellence: jede eine Welt für sich, jede ein kleines Meisterwerk an Inspiration und Beherrschung der Form.


    Nicht minder reizvoll ist Bourrée fantasque - hier arbeitet Chabrier mit Kreuzrhythmen und synkopierten Zählzeiten.


    Doch das Bonbon zum Schluss: Für den Einsieg muß es nicht die teure - natürlich sehr gelungene - Hewitt-Aufnahme sein. Meiner Ansicht nach gestaltet der im französischen Repertoire beheimatete Pianist Alain Planes die hervorgehobenen Werke absolut ebennbürtig. Neben diesen hat Planes nioch das Impromptu und 4 posthume Werke eingespielt.
    Diese nicht unwichtige Reprtoirelücke zu schließen, kann ich nur jedem ans Herz legen - insbesonderen natürlich denen, die sich mit Chabrier bereits auf anderem Gebiet angefreundet haben :yes:


    :hello:
    Wulf



  • Zitat

    Original von Wulf
    Diese nicht unwichtige Reprtoirelücke zu schließen, kann ich nur jedem ans Herz legen - insbesonderen natürlich denen, die sich mit Chabrier bereits auf anderem Gebiet angefreundet haben :yes:


    Lieber Wulf,


    Deinen Rat befolge ich natürlich gerne und nächstmöglich, zumal ich einige Stücke, etwa die BOURREE FANTASQUE, ja schon in orchestrierter Form kenne und liebe, wie ich weiter oben hoffentlich schon zum Ausdruck gebracht habe.


    Da wir gerade dabei sind: kennt jemand diese Doppel-cd, die für den gleichen Preis ein noch vollständigere Sammlung bietet)



    Ich hoffe sie ist nicht genauso falsch wie die Schreibung des Vornamens mit nur einem 'm', derer ich mich vorübergehend allerdings ebenfalls schuldig gemacht habe.


    Zunächst aber kommt bei mir aber L'ETOILE dran, die ich mir gerade wieder mit größtem Vergnügen anhöre um meinen älteren Eindruck aufzufrischen. :D


    :hello: Rideamus

  • Hallo Rideamus,


    Dein Lobenswerter Beitrag zu dem bisher wenig betrachteten Chabrier führte dazu meine hervorragende Ansermet - Decca- CD wiedermal hervorzuholen. Eine fantastische Musik !
    Ernst Ansermet´s Chabrier-Aufnahmen wurde bisher noch nicht erwähnt, was nun unbedingt nachgeholt werden sollte.



    Emanuel Chabrier:
    Espana - Rhapsodie
    Suite pastorale
    Le Roi malgre lui: Danse slave
    Le Roi malgre lui: Fete polonaise
    Caesar Frank:
    Le Chasseur maudit (Der wilde Jäger)
    Les Eolides
    Orchestre de la Suisse Romande / Ernest Ansermet
    Decca, 1961-1967, ADD


    Von Espana-Rhapsodie habe ich auch die von wulf genannte sehr gute Aufnahme mit Muti/Philadelphia Orchestra (EMI,DDD).
    Obwohl ich die anderen enthaltenen Chabrier-Werke nur in dieser Ansermet-Interpretation habe, so merkt man, dass hier mit Ansermet eine ganz besondere CD vorliegt. Ansermet ist ganz in seinem Element - Chabrier und Frank, das ist ganz seine Welt. Einmalig wie Ansermet die Spannungsbögen entwickelt und bei Espana, Danse Slave und Fete polonaise ein Feuerwerk erzeugt.
    Auch die beiden sinfonischen Frank - Werke sind einmalig interpretiert.
    Ich verglich heute meine anderen Aufnahmen, u.a. mit Leppard (RPO).


    :yes: Ein Glücksfall ist die 1997 erschienene Decca-CD-Serie THE CLASSICAL SOUND, die ganz hervorraged remasterte Decca-Aufnahmen aus der Decca-SXL-Zeit enthält und klanglich beste Musik-Software bietet.
    Die dort vorhandenen interpretatorisch hochwertige Ergebnisse werden so auch klanglich voll erlebbar.


    Leider ist diese Decca-CD derzeit gestrichen, aber bei den amazon-Anbietern greifbar (zu momentan allerdings unmöglichen Preisen).


    :hello: Rideamus und alle - kennst Du/Ihr diese Ansermet-Aufnahmen ?

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo teleton,


    die Kombination von Chabrier und gesalzenen Preisvorstellungen von Privatanbietern kennen wir ja aus diesem Strang schon sattsam. Chabrier ist offensichtlich etwas für Liebhaber, und da denkt man wohl, die würden sowas in jedem Fall locker machen.


    Entsprechend kenne ich leider auch die Ansermet-Aufnahme(n) nicht, und es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich da dran komme. Dass er in dem Repertoire fantastisch ist, glaube ich Dir aber unbesehen, denn Ansermet war nirgendwo so herausragend wie im französischen Repertoire.


    Danke auch dafür, dass Du den Thread am Leben hältst. Ich wollte ja auch schon ein flammendes Plädoyer für seine komische Oper/Operette L'ÉTOILE einstellen. Im Moment habe ich aber leider wieder PC-Probleme, denn das Ding weigert sich zu booten. Ich muss also erst einmal eine Boot-cd besorgen und/oder auf dem alten Apfel, den ich derzeit mal wieder quälen muss, mein morgiges Adventstürchen rekonstruieren. Aber keine Angst, der alte Stoiker Rideamus ist fest davon überzeugt, dass alles wieder gut wird, und das Wichtigste auch rechtzeitig.


    Einstweilen mein ceterum censeo: man kann gar nicht genug von Chabrier kennen und hören, egal in welchem Genre.


    :hello: Rideamus

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  • Lieber Rideamus,


    ich lese gerade eine Annonce im "Lettre du musicien", dass


    France Musique am 22. Dezember von 10 bis 12 zunächst direkt aus der Opera Comique in Paris in der Sendung "Etonnez-moi Benoit", ein Gespräch mit Jerome Deschamps, dem Direktor der Opera Comique ausstrahlen - und


    am Abend dann, 19 bis 22 h 40 (ebenfalls 22. Dezember)


    L'Etoile von Chabrier direkt übertragen wird.


    Stephanie d'Oustrac singt Lazuli,
    Jean-Philippe Lafont Siroco


    France Musique kann man am PC im Live Stream hören - vielleicht interessiert das den einen oder anderen.


    Es grüsst LaCastafiore



    P.S. Die von Edwin genannte CD Musique Adorable kenne und habe ich, ich hatte es gekauft, um "A la musique" für Frauenstimmen mit Solosopran zu hören und bin dem Charme verfallen. In dem von Enoch verlegten, leider sehr teuren Recueil mit Melodien von Chabrier enthalten sind auch 2 Chansons aus Roi malgre lui - und auch die Romance aus l'Etoile.

  • Liebe Castafiore,


    vielen Dank für den Hinweis. Mit dem Live-Stream müsste ich erst einmal experimentieren, was immerhin denkbar ist, nachdem meine wesentlich PC-Probleme gelöst zu sein scheinen. Ich denke aber, die Übertragung wird kurz danach auch im OperaShare auftauchen, wo ich sie, schön konfektioniert, herunter laden kann. Ich werde danach Ausschau halten.


    Mit ein bisschen Glück schaffe ich es vielleicht noch heute, wahrscheinlich aber rechtzeitig vor dem 22., hier meinen geplanten ÉTOILE-Führer einzustellen, so dass auch die anderen etwas mehr davon haben als eine rein französische Übertragung. Dein Hinweis ist jedenfalls der rechtzeitige Ansporn, das zu tun.


    Vielen Dank und liebe Grüße


    Rideamus

  • Nun also wenigstens der erste Teil der überfälligen Erläuterungen zu Chabriers erstem Meisterwerk für die Musikbühne, die Opéra bouffe L'ÉTOILE (Der Stern). Ich habe sie des öfteren als Operette bezeichnet, weil man bouffes gewöhnlich in diese Ecke steckt, und dazu stehe ich nach wie vor. Allerdings ist es eine der besten und anspruchsvollsten Operetten überhaupt, und niemand sollte Probleme damit haben, wenn man sie ungeachtet ihrer Bezeichnung durch den Komponisten als veritable Opéra comique in der Tradition eines Boieldieu oder Adam bezeichnet, obwohl sie weit über deren primär gefällige Tonsprache hinaus geht. Das hat auch Vincent d'indy so gesehen, als er nach der ersten Rundfunkübertragung des Werkes 1934 schrieb:


    "L'ÉTOILE. Diese magischen Worte haben seit nunmehr fünfzig Jahren in den Gedanken vieler Künstler herumgespukt. Sie haben sogar Opernintendanten verfolgt, denn es gibt keinen, der nicht davon geträumt hätte, dieses legendäre Werk für ein Publikum von Kennern so heraus zu bringen, wie es ihm gebührte. Es ist allen wahren Musikern lieb und heilig - ein Juwel von französischer Operette, in dem die Narretei und die Poesie dieses anderen Offenbach mit all dem Charme, der Eleganz und dem sprudelnden Reichtum präsentiert werden, zu dem dieser in der Lage war, obwohl er sich dessen nicht einmal bewusst war und deshalb nie danach strebte."


    Starkes Lob. Dennoch ist kein Wort übertrieben, wie man schon beim ersten Hören spürt und beim wiederholten immer besser erkennen kann. Das Libretto von Eugène Leterrier und Albert Vanloo folgt der damals schon schwindenden Mode der orientalischen Narretei, weshalb es den Librettisten auch nicht erspart blieb, mit einem Bühnenanfänger zusammen zu arbeiten. Es erinnert nicht von ungefähr an Rossinis L'ITALIANA IN ALGERI, mit der es den ausgelassenen Geist teilt, obwohl es sich musikalisch in einer sehr anderen Welt aufhält.


    Ich folge im Weiteren der Fassung John Eliot Gardiners, die er in diesen Tagen auch in Paris wieder aufführt. Die von Désiré-Emile Inghelbrecht 1934 aufgeführte Fassung, die er auch 1957 für den französischen Rundfunk aufgenommen hat, weicht in einigen Teilen in der Reihenfolge von ihr ab, am spektakulärsten allerdings in der Besetzung des Straßenhändlers Lazuli mit einem Tenor (Joseph Peyron), während Gardiner die Rolle der Sopranistin Colette Alliot-Lugaz gab. Leider konnte ich nicht sicher feststellen, welche Fassung die ursprüngliche ist oder ob beide Möglichkeiten von Chabrier autorisiert wurden, denn schon Ernest Ansermet ließ in seinem - mir leider nicht bekannten - Querschnitt von 1941 die Rolle von der Sopranistin Ninon Vallin singen. Vermutlich aber war die ursprüngliche Besetzung ein Tenor. Die Änderung ist jedoch in mehrfacher Hinsicht zu bevorzugen, wie sich noch zeigen wird, und hat sich inzwischen wohl als Standard eingebürgert, denn auch Jean-Marie Zeitouni hat in seinen Aufführungen an der New York City Opera, in Montreal und anderen Städten Nordamerikas (ich habe eine Aufnahme aus Cincinnati) diese Praxis beibehalten.


    Zurück zur Musik, deren süffig-verführerischer Charakter schon in der Potpourri-Ouvertüre deutlich wird, in der wir erstmals der bezaubernden Titelmelodie begegnen, die wir ebenso, wie die Tonfolge des Namens Laoula noch öfter hören werden. Als Anhänger Wagners kannte Chabrier natürlich die Praxis des Leitmotivs. Sein freier Gebrauch davon ähnelt aber eher der Idée fixe eines Berlioz. Die Ouvertüre beginnt eher konventionell mit ein paar Marschtakten, überrascht dann aber schon zum ersten Mal mit einer ganz anderen Wendung und warnt uns vor, dass hier - im Gegensatz zum Libretto - musikalisch nichts so laufen wird, wie man es erwartet.


    Nicht von ungefähr wurde Chabrier von dem Direktor der Bouffes Parisienne dazu angehalten, "einfacher" zu schreiben, weil die Musiker und Sänger des Ensembles, die relativ einfache Musikstrukturen gewohnt waren, schon protestierten, wenn eine zweite Strophe anders lief als die vorherige, und mit Arbeitsverweigerung drohten, als sie die Partitur einstudierten. Damit hatten sie allerdings den Ehrgeiz des Direktors gereizt, der sich nicht nachsagen lassen wollte, seine Musiker seien schlechtere als andere. Es wurden also viele zusätzliche Proben genehmigt, die auch nötig waren. Für unsere heutigen Ohren mag das überraschend sein, aber je mehr man in das Detail schon der Ouvertüre schaut, um so erstaunlicher erscheinen die immer neuen Überraschungen, die dennoch so zwangsläufig klingen, als könnten sie gar nicht anders. Schon deshalb verdiente auch diese Ouvertüre, wie alle von Chabrier, einen häufigeren Einsatz im Konzert.


    Der erste Akt beginnt in einem morgenländischen Königreich, dessen Herrscher König Ouf I. die Angewohnheit hat, sich am Vorabend seines Geburtstages inkognito unter das Volk zu mischen um jemanden zu finden, der etwas Schlechtes über den König sagt. Dieser wird nämlich anderntags öffentlich gefoltert und hingerichtet - ein Vergnügen, das Oufs Volk als festen Höhepunkt seiner Geburtstagsfeiern erwartet. Das Volk aber ist gewarnt, und in einem komisch-verschwörerischen Chor warnt man einander zur Vorsicht (Mélons-nous).


    In diese dräuende Stimmung kommen die Gesandten des Nachbarkönigs Hérisson de Porc-Epic (Stachelschwein) und sein Sekretär Tapioca, der mit Hérissons Frau Aloes, der Vertrauten der ebenfalls mitgereisten Prinzessin Laoula, ein Verhältnis pflegt. Laoula soll mit Ouf verheiratet werden um zwischen den verfeindeten Nachbarn Frieden zu stiften und einen Erben hervor zu bringen. Zuächst aber wollen sie incognito bleiben um sicher zu stellen, dass in dem Land Oufs alles mit rechten Dingen zugeht. Auch dieses, mit Dialogpassagen unterbrochene, Quartett (Nous voyageons incognito) zerstört schnell alle Erwartungen auf einen vorhersehbaren Ablauf, denn es folgt vor allem der Sprachmelodie und unterstreicht den Witz der Situation, zumal Laoula erst jetzt den eigentlichen Zweck der Mission erfährt, mit dem sie natürlich überhaupt nicht einverstanden ist.


    In diese Gemengelage tritt der nichtsahnende Straßenhändler Lazuli mit einem Auftrittslied, das (bei Gardiner) nichts mehr mit den schlichten Auftrittscouplets anderer Operetten zu tun hat. Vielmehr handelt es sich bei diesem titelgebenden Lied (O petite étoile) um einen der poetischsten melodischen Einfälle der Musikgeschichte. Lazuli ist müde und will sich in seinem Karren schlafen legen. Zuvor aber beschwört er den hellsten Stern, ihm zu sagen, ob seine Träume in Erfüllung gehen werden. Dieses nur oberflächlich schlichte, tatsächlich aber beständig modifizierte Strophenlied ist von einer dermaßen bezaubernden Aura, dass ich es nur mit dem wunderschönen Lied an den Mond aus Dvoraks RUSALKA vergleichen kann. Schon deshalb ist die Entscheidung, es von einer Frauenstimme singen zu lassen, mehr als gerechtfertigt, weil der normale französische Operettentenor kaum in der Lage ist, die Innigkeit und Unschuld dieser Traumbeschwörung einzufangen. Colette Alliot-Lugaz macht das dagegen in der Tat traumhaft. Wer dazu das Privileg hat, sie auf DVD in ihrer überzeugend verkörperten Hosenrolle auch zu sehen, wird kaum umhin können, mir dabei zuzustimmen.


    Während Lazuli schläft, kommen die abenteuerlustigen Laoula und Aloes hinzu und beschließen, den hübschen Fremden zu kitzeln um ihn aufzuwecken. (Il faut le chatouiller) Auch dieses etwas konventionellere Duett, das wie ein neckisches Duett aus Humperdincks HÄNSEL UND GRETEL beginnt und dort auch nicht deplatziert wäre, bräche es nicht immer wieder in scheinbar freie Extemporés aus, die es immer näher an die komplexere Stimmführung der scherzenden Frauen von Verdis - formal strengeren - FALSTAFF rücken, vermag zu bezaubern, ist aber nur eine Zwischenstation zu dem ursprünglichen Auftrittslied Lazulis (Je suis Lazuli), das nur noch in dem konventionellen Text an ein gewöhnliches Auftrittscouplet in der Tradition Offenbachs erinnert.


    (Fortsetzung folgt)

  • Nun also zum Rest des Ersten Akts, der keinesfalls das erreichte Niveau verliert, und zum (bei Gardiner verspäteten) Auftrittslied Lazulis(Rondeau: Je suis Lazuli).


    Es beginnt wie ein munteres Vorstellungscouplet im Stil Offenbachs, kippt aber schon nach wenigen Takten in eine, dem Dialog folgende, intensive Anmache um. Lazuli verkauft alles, was den Frauen Freude macht. Urplötzlich bahnt sich Chabriers Liebe zur Prosodie ihren Weg. Auch darin bleibt er seinem Vorbild Wagner treu, dem ebenfalls der Text oft wichtiger war als die geschlossene melodische Form. Der weit ältere Verdi, der Chabrier dennoch überlebte, fand erst in seinen späten Opern zu einer derartigen Differenzierung, wie Chabrier sie bereits in seinem ersten Bühnenwerk praktizierte. Es waren Freiheiten wie diese, die seinen Komponistenkollegen immer wieder große Bewunderung abgenötigt haben.


    Dann endet die erst Strophe so munter, wie sie begann. Wir sind aber wieder mal vorgewarnt, und auch Orchester und Sänger(innen) müssen aufpassen wie Schießhunde. Bequem ist das nicht, aber ungemein reizvoll. Man darf sich bei Chabrier nie einfach bequem zurücklehnen um den erwarteten Fortgang eines Stückes zu genießen. Es folgt ein typisches Listenlied. Kaum hat man sich jedoch behaglich darin eingerichtet, kommt eine weitere, noch überraschendere Wndung, ein kleiner Marsch, mit dem Lazuli behauptet, dass dank seiner raffinierten Kosmetik Mutter und Tochter wie Schwestern aussähen. Es folgt eine Wiederholung, aber auch das nur scheinbar, denn winzige Veränderungen zeigen, dass auch Wiederholungen für Chabrier alles andere als Routine sind.


    Nun folgt rasch das Finale: Herisson de Porc-Epic kehrt zurück um die Frauen zu holen und gibt Laoula als seine Gattin aus, zerrt sie aber davon, bevor sie protestieren kann. Lazuli ist am Boden zerstört, genau die richtige Laune für den noch immer verkleideten Ouf, der ihn heuchlerisch befragt, was er von der Regierung halte. Wütend über die für ihn völlig irrelevante Frage, verpasst ihm Lazuli eine Ohrfeige. Nun enthüllt sich Ouf in seiner ganzen künstlichen Empörung und echten Grausamkeit. Er hat sein Opfer für die Tortur und anschließende Hinrichtung gefunden. Lazuli ist der Tod egal. Die Frau, die er liebt, ist verheiratet, sein Leben hat keinen Sinn mehr.


    Auch das Volk freut sich und gibt in einer raffiniert-mutierten Neuauflage des ersten Fragments aus Fisch-Ton-Kan mit einer Pseudoklage Ausdruck, deren munterer Rhythmus sein angeblich so entsetztes Mitleid Lügen straft. Der Höhepunkt ist dann die nicht weniger verlogene, geradezu süßlich walzernde Einladung Oufs an Lazuli, es sich auf dem Folterstuhl bequem zu machen.


    Donnez-vous la
    Donnez-vous la
    Donnez-vous la
    Peine de vous assoir
    Mon bon ami, vous allez voir.


    (Macht euch das Vergnügen, euch zu setzen, lieber Freund, und ihr werdet schon sehen) Das Wortspiel um die Pein ist sicher kaum zufällig gewählt.


    Man meint, ganz von selbst auf diese Melodie zu kommen, wenn man den Text laut spricht, aber das stimmt natürlich nicht. Man hat sich nur wieder von Chabriers Talent einfangen lassen, seine höchst komplexe Musik dem Wort anzupassen und ihrer Komplexität eine Tarnkappe überzuziehen. Jeder andere, auch Offenbach, hätte hier wahrscheinlich ein fürchterliches Theater veranstaltet, nicht aber der an und mit Verlaine geschulte Chabrier. Nicht zum ersten und letzten Mal, hier aber besonders deutlich, erzielt Chabrier einen höchst komischen, aber auch nachhaltig erschreckenden Effekt durch die Kontrastierung des Textinhalts mit seiner Musikwahl. In diesem schon recht extremen Fall ist sie nicht weniger grotesk, aber mindestens so hintersinnig wie Johann Strauß' genialer Walzer aus SIMPLICIUS, mit dem er das Massenschlachten des Dreißigjährigen Krieges zelebriert. Augenblicke höchster Grausamkeit kann man eben auch musikalisch oft nur durch die sarkastische Ausformulierung ihres genauen Gegenteils kennzeichnen. Sowohl Chabrier als auch Strauß, der aber nur sehr selten auf dieses Mittel zurückgriff, waren mit diesem Verfremdungseffekt ihrer Zeit mindestens ein halbes Jahrhundert voraus.


    Dieses Thema bestimmt den Rest des Finales. Oufs Hofastrologe Siroco kommt aufgeregt hinzu und berichtet Ouf, dass das Schicksal des jungen Mannes mit dem seinen untrennbar verbunden sei, denn Ouf müsse 24 Stunden nach dessen Tod sterben, und er, der Astrologe selbst, nur 15 Minuten danach. Beide haben also allen Grund, Lazuli zu verwöhnen statt zu töten. Nunmehr wird das hinterfotzige Lied mit seinem passenden Inhalt gefüllt. Ouf lässt Lazuli vom Folterstuhl in eine Sänfte und in seinen Palast bringen. Laoula ist verräterisch erfreut darüber. Das Volk aber verrät sich ebenfalls selbst, denn es ist enttäuscht, fast wütend, dass es heuer keine Hinrichtung geben wird. Als braves Volk und eingedenk der beständigen Gefahr, selbst auf dem Folterstuhl zu landen, beteiligt es sich jedoch an Oufs Einladung:
    Donnez-vous la...


    Man sieht und hört, nicht nur das Orchester und die Solisten, auch der Chor muss höchsten Ansprüchen gerecht werden, wenn diese nur scheinbar harmlose Operette angemessen umgesetzt werden soll. Hier hat Gardiners Einspielung gegenüber den Rundfunkaufnahmen, die ich kenne, ihre besonderen Stärken. Mag ihr manchmal der letzte Schwung, auch eine gewisse Leichtigkeit fehlen, die Differenzierungen der Partitur sind bei ihm und seinem Ensemble in besten Händen.


    Die Vorstellung des Zweiten Aktes folgt demnächst. Vorerst muss ich mich leider anderen Dingen widmen.


    Für Rückfragen und Kommentare bleibt der Thread aber natürlich offen.


    :hello: Rideamus



  • Hmm ... ich höre gerade Alain Planès' CD mit Chabriers Klaviermusik - aber an Debussy erinnerndes kann ich da nicht hören - dessen Art mit spanischen Einflüssen umzugehen, war doch völlig anders als die seiner Vorgänger.
    Vielleicht könntest Du präzisieren, wo Du Anklänge an Debussy hörst?


    Gerne hätte ich Jean-Joel Barbier's Aufnahme von Chabrier-Stücken, aber die ist schon ewig vergriffen.

  • Zitat

    Original von miguel54


    Hmm ... ich höre gerade Alain Planès' CD mit Chabriers Klaviermusik - aber an Debussy erinnerndes kann ich da nicht hören - dessen Art mit spanischen Einflüssen umzugehen, war doch völlig anders als die seiner Vorgänger.
    Vielleicht könntest Du präzisieren, wo Du Anklänge an Debussy hörst?


    Lieber Miguel,


    solltest Du mich meinen, muss ich passen. Ich habe ja schon zugegeben, dass ich die Klaviermusik höchstens oberflächlich kenne und schon in Chabriers, definitiv aber in Debussys Klaviermusik nicht fit genug bin, Deine Frage in diesem Zusammenhang zu beantworten.


    Solltest Du aber die Orchestermusik meinen, so möchte ich präzisieren, dass Chabrier Debussy beeinflusst, aber natürlich nicht ähnlich wie er geschrieben hat. Meine entsprechende Beobachtung bezieht sich vor allem auf Chabriers Einsatz der Orchesterfarben, in denen er m. E. ein wichtiges Bindeglied zwischen Berlioz und Debussy ist. Aber natürlich klingen alle drei eher eigen als ähnlich. Sonst wäre mindestens einer auch eher Epigone als großer Künstler.


    :hello: Rideamus

  • Lieber Rideamus,
    bzgl. der Klaviermusik hatte ich Caesar 73 angesprochen.
    bzgl. der Orchestermusik klingt mir das plausibel, was Du schreibst - wie Debussy und Ravel mit dem "Spanischen Klang" umgehen, das ist schon sehr unterschieden von Lalo oder Chabrier oder Bizet, aber den französischen Orchesterklang, ja, da gibt es eine eindeutige Linie von Berlioz bis ins 20. Jahrhundert. Theo Hirsbrunner hat das mal so beschrieben, dass Debussy als erster die spanischen Klänge nicht in die Dur/Moll Tonalität gezwängt hat. Habe gerade gestern ein paar Klavierstücke gehört, die das ganz gut zeigen.


    Chabriers Orchestermusik kenne ich noch viel zu wenig ... :(


    Liebe Grüße
    Miguel

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ich sag's nur ganz leise, weil ich Eure Geldbörsen nicht über Gebühr belasten will, aber dieser Chabrier war auch ein verdammt guter Opernkomponist. (...)


    ...der Knüller:

    Diese grandiose Aufnahme ist derzeit ebenfalls nur "antiquarisch" für ein Schweinegeld zu bekommen. Und sie ist jeden Cent wert! "Le Roi malgré lui" ist eine Komische Oper mit einer Überfülle an eleganter, witziger und glänzend formulierter melodik - aber was Chabrier damit harmonisch macht, ist atemberaubend: Da gibt es Stellen wie bei Ravel, Poulenc oder gar Honegger. Das Werk war ein Kultwerk der "Groupe des Six" - man merkt, weshalb. Alterierte Septimen- und Nonenakkorde in einem freien Wechselspiel, aber durch die Instrumentierung sind die Konturen schärfer als bei Debussy. Dieser "Roi" gehört für mich zu den außerordentlichsten Werken des 19. Jahrhunderts - weil er in seiner ganzen Haltung ganz klar in das 20. blickt.


    Lieber Edwin,


    auch wenn ich nicht Deine umfangreichen Vergleichsmöglichkeiten habe: Du hast ja sooo recht!



    Lieber Rideamus,


    nun bin ich doch sehr gespannt darauf, mehr über "Le Roi malgré lui" zu erfahren - sollte es also Deine Zeit irgendwann erlauben... :untertauch:



    LG, Elisabeth

  • Liebe Elisabeth,


    da rührst Du an eine wunde Stelle meiner Liste der Vernachlässigungen. Zunächst noch muss ich ja den zweiten Teil von L'ETOILE machen, den anscheinend noch niemand vermisst hat, aber ich verspreche, dass aufgeschoben nicht aufgehoben ist.


    Wenn Dir inzwischen schon mal die englische Inhaltsangabe hilft, die gbt es bei Wikipedia unter dem Titel der Oper.


    :hello: Rideamus

  • Hallo zusammen,


    die Ankündigung dieser Wiederveröffntlichung gibt auch Anlass, den thread mal wieder hervorzuholen:


    Emanuel Chabrier (1841-1894)
    Lieder

    Künstler: Agnes Mellon, Franck Leguerinel, rancoise Tillard
    Label: Timpani , DDD, 1997





    Kennt jemand diese Aufnahme?


    LG, Elisabeth

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich bin seit heute im Besitz der unten abgebildeten DOPPEL-CD von Membran (Vox Aufnahmen in Lizenz) und habe dafür 6.99 Euro investiert.



    Dafür bekam ich 2 Stunden Musik vom feinsten. Die griechische Pianistin Rena Kyriakou (1918-94) enpuppte sich bei der Rechersche als Schülerein von Paul Weingarten, der seinerseits ein Schüler von Emil von Sauer war. Bei den Stücken für vier Hände kam noch Walter Klien hinzu...


    Unglücklicherweise wurde ich von Rideamus um eine Stellungnahme zu dieser CD gebeten - wo ich doch sicher kein Spezilist des Impressionismus bin :O
    Solch ein Problem löst der gewiefte Profi-Kritiker durch eine Blitznachhilfestunde im Harenberg-Klavierführer:


    Denkste !!


    So ein Pech: Da hat jemand in meinem Exemplar, die Seiten rausgeschnitten, wo einst der Artikel über Chabiers Klavierwerke gewesen sein müsste.
    Sein Müsste- das ist das Stichwort - denn natürlich gab es diese Seiten nie - und wurden folglich auch nicht herausgerissen. Harenberg hat (IMO) einmal mehr "subjektiv gewertet" (Das ist es was ich an diesem Nachschlagewerk so liebe) und Chabrier ignoriert - oder einfach nur vergessen.


    Wollen wir doch trotzdem mal versuchen die Eindrücke zu schildern - ohne uns zu blamieren.
    Chabirer ist meines Erachtens schwer einzuordnen.
    Einerseits sind Anklänge an "Salonmusik" bei einigen Klavierstücken durchaus vorhanden, andrerseits weisen etliche Werke mit ihrer leicht schrägen Harmonik in die Zukunft. Sie müssen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auf das Publikum sehr "modern" gewirkt haben - aber immer noch im Bereich dessen, was auch konservative Gemüter durchaus akzeptieren - und in Einzelfällen sogar schätzen.
    Persönlich muß ich sagen, daß ich diese Klavierstücke umsomehr schätze, desto länger ich sie höre. Hiebei ist anzuraten BEWUSST zu hören - ein nebenher wäre hier verfehlt .
    Die Stücke haben wesentlich mehr Tiefgang als es dei oberflächlichem Hineinhören den Anschein hat - selbst Witz wird man bei einigen Stücken finden. Und ich höre - man mag darüber lachen in einzelene Piecen sogar Passagen, die (mich) flüchtig an Scott Joplin erinnern...(??)


    Vielleicht hilft folgendes Statement des Komponisten weiter als meine Zeilen:


    Zitat

    "Ich bin im Grunde Autodidakt, ich gehöre keiner Schule an
    Ich habe mehr Temperament als Talent.Es gibt viele Dinge, die man in der Jugend lernen muß, welche ich nie erreichen werde.
    Aber ich lebe und atme Musik, ich schreibe, wie ich fühle,
    mit mehr Temperament als Technik"


    Wer also Klaviermusik liebt, seinen musikalischen Horizont erweitern will und 6.99 Euro investieren kann - der ist mit dabei




    mgf aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    eine sehr passende Beschreibung Deinerseits, die ich gut nachvollziehen kann - in der Tat hört man die Anklänge an Salonmusik, aber auch die "Modernismen", die damaliges Publikum mit Sicherheit erstaunt haben.


    Freut mich zu lesen, daß Dir die Musik gut gefallen hat. Aus so manchem Klavierwerk hat Chabrier in glänzender Instrumentierung auch Perlen der Orchestermusik werden lassen (Suite pastorale z.B.)
    Dazu finden sich in diesem thread ja bereits entsprechende Informationen.


    Es ist doch schön, daß man bei so manchen Komponisten, die dem breiten Publikum lediglich mit einem Werk im Gedächtnis geblieben sind, so manches entdecken kann, was evtl. sogar viel typischer und vielleicht viel ausgereifter ist.
    An dieser Stelle möchte ich gerne auf eine neue Einspielung hinweisen, die ich in jeder Hinsicht beachtlich finde:



    Auf besagter Scheibe befindet sich die inzwischen berühmte C-Dur-Symphonie von Bizet als auch seine Jeux d´enfants und eben die Suite pastorale von Chabrier - und in was für eine Einspielung.


    Roth und seine Les Siecles verleihen dem Chabrier frischen Wind. Da wird der
    Danse villageoise
    zu einem entfesselt lebhaft-ländlichen Tanz, im Sous-Bois knackt es im Unterholz, daß es eine Freude ist. Es ist nicht das Frankreich der Pariser Salons und der mondänen Gesellschaft - es ist das rustikale Frankreich, ohne unnötigen Zierrat, frisch, knackig und lebendig. Ist es bei Bizet schon manchmal eine Spur zuviel des Guten, bei Chabrier ist es für mein Empfinden optimal.


    Fazit: Wer keines der auf dieser CD versammelten Werke bisher habaft ist, sollte diese unbedingt in seine Kaufüberlegungen mit einbeziehen!


    :hello:
    Wulf

  • Ich habe mir eher zufällig die Brilliant-Aufnahme mit Orchestewerken Chabriers gekauft. Michel Plasson dirigiert hier das Orchester in Toulouse. Besonders die Orchesterstücke aus Le Roi malgré lui finde ich ganz wunderbar, ebenso die Suite pastorale.



    Gerade im ersten Fall finde ich es so bedauerlich, dass sich keine Firma die Mühe macht, einmal solch eine Oper komplett herauszugeben, sondern dass alle immer wieder auf die gleichen Schlachtrösser setzen. Liege ich denn so falsch damit, dass Liebhaber und Sammler lieber mal eine neue, schöne und erschwingliche Oper Chabriers kaufen würden, als die x-te La Bohème oder den Fidelio? Auch wenn ich bislang nur die Orchesterstücke der Oper kenne: Wir haben es hier doch nicht mit "moderner", "unhörbarer" Musik zu tun (oder was auch immer aus Sicht der Firmen-BWLer gegen solch einen Versuch spricht), sondern mit üppiger, farbenreicher französischer Schule! Edwin nannte es treffenderweise "süffig"...


    Ich würde so gerne mehr davon hören...


    LG
    B.

  • Es gibt sie wieder!!!


    Soeben bin ich mit dieser Oper wieder einmal durch. Leider. Für mich könnte sie glatt noch ein, zwei Stunden länger dauern.


    Seltsamerweise hatte ich sie als gut, aber nicht als sooo gut in Erinnerung. Also ein Werk, das bei wiederholtem Hören wächst- wie es alle bedeutende Musik tut.


    Ich bin zwar nach wie vor der Meinung, daß der Texte von Catulle Mendès nicht glücklich ist, aber er bietet Chabrier Möglichkeiten, sich musikalisch zu entfalten. Und die nützt Monsieur - und wie!


    Wenn jemand Chabrier noch nicht kennt, ist es schwer, die Musik von "Gwendoline" zu beschreiben: Sie kommt harmonisch von Wagner. Und jetzt bitte Wagner sofort vergessen! Denn die Sept- und Nonenakkorde ließen sich auch von Rameau herleiten, die starke Chromatik von Berlioz, die klare Instrumentierung von Bizet.


    Warum ich als eingestandener Wagnerianer so gegen die Ableitung von Wagner bin? - Weil sie in eine falsche Denkrichtung führt. Chabriers Musik kommt ohne Pathos aus, das Orchesterpedal, das so herrliche Mischklänge erzeugt, wird ganz selten eingesetzt, denn Chabrier strebt reine, mitunter grelle Farben an. Seine Klanggebung schaut voraus auf Ravel, nicht zurück oder zur Seite auf Wagner.


    Das merkt man sehr stark auch in den Chören, deren Melodik und Harmonik eindeutig eine diatonische Basis haben, in die Chromatische Klänge als Färbung eindringen - ist das nicht fast schon Poulenc?


    Die Heftigkeit der Handlung wird mit entsprechender Heftigkeit des Klanges umgesetzt, da mutet Einiges nahzu brutal an - und erst ein Blick in die Partitur (erschienen bei dem gar nicht hoch genug zu lobpreisenden Jürgen Höflich, Adresse: http://www.musikmph.de/musical…ormation/information.html) zeigt, wie unglaublich raffiniert diese Rohheit gearbeitet ist.


    In einem anderen Thread habe ich jüngst geschrieben, "Gwendoline" sei Chabriers uninteressantestes, weil wagnerischstes Werk - ich leiste Abbitte in vollem Umfang, das Gedächtnis trog: "Gwendoline" ist ein Meisterwerk der Oper des 19. Jahrhunderts, wegweisend für Debussy, Ravel und Roussel (und manch andere mehr). Als Appetitanreger empfehle ich, in den Beginn des Zweiten Aktes hineinzuhören.


    Freunde, Weihnachten kommt - und die Sache kostet bloß 21 Euro...!!!


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Es gibt sie wieder!!!


    In einem anderen Thread habe ich jüngst geschrieben, "Gwendoline" sei Chabriers uninteressantestes, weil wagnerischstes Werk - ich leiste Abbitte in vollem Umfang, das Gedächtnis trog: "Gwendoline" ist ein Meisterwerk der Oper des 19. Jahrhunderts, wegweisend für Debussy, Ravel und Roussel (und manch andere mehr). :


    und genau in diesem thread, lieber edwin, hatte ich mehr als gewundert über deine und nun endlich revidierte meinung. :yes: ich liebe gwendoline seit langen jahren und sehe sie seitdem als wirkliches meisterwerk.


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Lieber Edwin,


    auch von mir vielen Dank für die Erinnerung an dieses Meisterwerk, das ich deshalb gerade wieder höre.


    Erstaunlich, wie souverän sich Chabrier das wagnersche Idiom, das von dem Libretto mehr als nahe gelegt wird, zu eigen gemacht und zu etwas ganz Eigenem geformt hat, das er in LE ROI MALGRÉ LUI, der hier in der Instrumentation bereits des öfteren anklingt, noch weiter führte.


    Deiner dringenden Empfehlung kann ich mich nur uneingeschränkt anschließen, zumal die technische Qualität der Aufnahme durchaus besser ist als ihr Ruf.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Lieber Jacques,

    Zitat

    Erstaunlich, wie souverän sich Chabrier das wagnersche Idiom, das von dem Libretto mehr als nahe gelegt wird, zu eigen gemacht und zu etwas ganz Eigenem geformt hat,


    Was das betrifft, fasziniert mich am meisten der Beginn des zweiten Aktes. Aus den ersten beiden Takte könnte der reine Wagner entstehen - aber schon im dritten Takt ist es typischer Chabrier: Wie die Holzbläser da einsetzen, dieser klare Kontrapunkt - das ist etwas völlig Eigenes. Bei Wagner habe ich immer das Gefühl, er läßt das Publikum anhand des Tristan empfinden, was er, Wagner, empfindet. Chabrier hingegen läßt das Publikum fühlen, was seine Gestalten empfinden. Es gibt bei ihm bereits diese gewisse Distanz, diese Objektivierung der Emotion, die später so charakteristisch für die französischen Komponisten ist. Genau dieser sehr erfrischend neue Ansatz verhindert die Wagnerei.
    Abgesehen davon ist es ein herrlicher Beweis, daß Wagners harmonisches Vokabular zu einer ziemlich unwagnerischen Musik führen kann. Allein diese Hochzeitsszene - da hätte doch jeder andere Wagnerianer den "Lohengrin" abgekupfert. Und was macht Chabrier? - Er komponiert eine Vorahnung des Poulenc'schen Chorstils à la "Gloria". Da ringt man nur noch bewundernd nach Atem!


    Die Aufnahme ist übrigens wirklich ganz gut, sie hat ein paar Schwächen am Anfang, und das Orchester klingt halt etwas kratziger als ich es gern hätte. Aber ich kenne nur eine einzige andere Aufnahme, rein französisch, die orchestral auch nicht wesentlich besser ist, obendrein nur mittelprächtig gesungen; und technisch leider mau. Außerdem gab's sie's meines Wissens nach nur auf Schallplatte.


    :hello:

    ...

  • Meinst Du die unter Henri Gallois mit Ana Maria Miranda, Claude Méloni, Peyo Garazzi, Bernard Angot und José Etchebarne aus dem Jahr 1977?


    Ich habe sie mal vor längerer Zeit von OperaShare herunter geladen, nach dem ersten Hören aber keine große Lust gehabt, sie öfter zu hören. Ich habe eben noch einmal hinein gehört und finde sie im Vergleich zu der von Dir genannten nur einen Notbehelf, so schleppend und ohne Gefühl für den Vorwärtsdrang der Musik ist die realisiert. Mag sein, dass sie etwas idiomatischer gesungen wird, aber besser keineswegs (die Miranda ist allerdings wirklich gut, solange es nicht zu dramatisch wird, denn dann wird sie vom Orchester ersäuft). Schlecht ist das Ganze allerdings auch nicht und für einen ersten Eindruck geeignet - eben auf dem Niveau damaliger französischer Rundfunkaufnahmen. Man muss sich halt vor Ohren halten, dass alles noch viel besser klingen kann


    Deiner Begeisterung über den Beginn des zweiten Aktes kann ich aber sogar in der Aufnahme zustimmen. Da ist kein Wagner mehr, eher eine hörbare Vorahnung von Debussy, der die Oper wahrscheinlich gut kannte und wie vieles von Chabrier bewunderte.


    Jedenfalls ein Werk, das man kennen sollte und dann wahrscheinlich auch lieben wird, auch und vielleicht besonders dann, wenn man lieber Puccini mag, dem ich Chabrier auch mit diesem Werk durchaus gleichsetzen würde. An Kühnheit übertrifft er ihn sogar, nur hatte er leider nicht den Instinkt des Italieners für ein gut gebautes, handfestes Drama.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Lieber Jacques,

    Zitat

    Meinst Du die unter Henri Gallois mit Ana Maria Miranda, Claude Méloni, Peyo Garazzi, Bernard Angot und José Etchebarne aus dem Jahr 1977?


    Genau. Ich habe sie auf einem Label namens MRF.
    Sie wird wirklich einen Hauch idiomatischer gesungen, aber das nützt wenig, weil allzu oft neben den Noten gesungen wird. Die Miranda ist gut, aber mit der Höhe ziemlich überfordert. Und über den Dirigenten kann man nur den Mantel des Schweigens breiten.


    Zitat

    Da ist kein Wagner mehr, eher eine hörbare Vorahnung von Debussy, der die Oper wahrscheinlich gut kannte und wie vieles von Chabrier bewunderte.


    Und das Verblüffende: Es ist keine Debussy-Vorstufe, sondern "reifer" Debussy. Übrigens erinnert mich auch die Hochzeitszeremonie stark an Debussys "Sébastien".


    Wenn Ravel gesagt hat, für "Le roi malgré lui" ließe er den ganzen "Ring" stehen, wird klar, wie sehr Chabrier in den Köpfen der Neuerer präsent war: Anwendung von Wagners Harmonik mit ästhetisch völlig anderem Ziel - und Ergebnis!
    :hello:

    ...

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