Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 96 D-Dur
4 Sätze:
Adagio-Allegro (D-Dur, 3/4 Takt, 203 Takte)
Andante (G-Dur, 6/8 Takt, 89 Takte)
Menuetto. Allegretto (D-Dur, 3/4 Takt, 84 Takte)
Finale. Vivace assai (D-Dur, 2/4 Takt, 289 Takte)
Besetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, Streicher.
Entstanden 1791.
Die 96. Sinfonie gehört zur ersten Sechsergruppe von Sinfonien, die Haydn im Kontext seiner Konzertreisen nach London (Dezember 1790 bis Juli 1792 und Januar 1794 bis August 1795) komponierte. Eingeladen worden war Haydn bekanntlich von dem Konzertunternehmer Johann Peter Salomon. Nun ist die Sinfonie Nr. 96 entgegen der üblich gewordenen Zählung der Haydenschen Sinfonien keineswegs als viertes Werk der ersten Sechsergruppe entstanden, sondern als erstes. Und diese Sinfonie wurde auch als erste der von Haydn für London komponierten Sinfonien aufgeführt. Am 11. März 1791 eröffnete Haydn mit dieser D-Dur Sinfonie seine Londoner Konzertsaison in den Hanover Square Rooms, London.
Der Beiname der Sinfonie »The Miracle« – »Das Wunder« – ist offensichtlich nicht authentisch, sondern dem Werk erst später zugeschrieben worden. Mit einem möglichen »Programm« der Sinfonie hat der Beiname nichts zu tun, sondern bezieht sich auf einen Vorfall, der sich im Konzertsaal während der Aufführung ereignet haben soll: Ein Lüster stürzte von der Decke, doch niemand wurde verletzt – it’s a miracle. Allerdings – und das ist dann doch ein miracle – ereignete sich dieser Vorfall keineswegs bei einer Aufführung der 96. Sinfonie, sondern während einer Aufführung der 102. (jedenfalls, wenn meine Quellen nicht lügen). So ist wohl das wunderbarste an dem Beinamen der Sinfonie Nr. 96 der Umstand, wie sie zu diesem Namen gekommen ist.
Nichtsdestotrotz ist diese Sinfonie – die heute nicht die Popularität ihrer Geschwisterwerke Nr. 94 und 95 oder der Nummern 100, 101, 103 oder 104 besitzt – schon ein Wunder hinsichtlich der thematisch-motivischen Konzentration und Geschlossenheit, die alle vier Sätze miteinander verbindet: Das in den 17 Takten der langsamen Einleitung des Kopfsatzes bereitgestellte musikalische Material wird bestimmend für alle vier Sätze.
Die Adagio-Einleitung des Kopfsatzes (17 Takte) hebt mit einem markanten, absteigenden D-Dur-Dreiklang (D-A-Fis) des vollen Orchesters im forte an, der von einem spielerischen Melodiebogen der Violinen im piano beantwortet wird, wobei dieser Melodiebogen wiederum mit einem aufsteigenden D-Dur-Dreiklang beginnt (D-Fis-A-D). Es ist diese Dreiklangfigur, die nicht allein das musikalische Material des Kopfsatzes sondern das Material aller vier Sätze bestimmen oder dort zumindest prägnant hervortreten wird. Der Melodiebogen der Violinen führt dann zu einem neuerlichen absteigenden Dreiklang im Tutti – diesmal allerdings ein d-moll Dreiklang (D-A-F) – der nun von der ebenfalls nach d-moll gewendeten Melodielinie der Violinen beantwortet wird. D-moll bleibt dann auch die Tonart der letzten Takte des Adagios, das nach einem fallenden Sechzehntellauf in den unbegleiteten Oboen mit einer Fermate auf Cis schließt.
Die Exposition (T. 18-83) des Allegro-Hauptsatzes stellt unmittelbar das von den Violinen vorgetragene, knappe Hauptthema vor. Das Thema ist hübsch symmetrisch gebaut: es beginnt Auftaktik mit drei repetierten Achteln (auf A) die in einen gehaltenen Ton münden (ebenfalls A), dann nach einem Zweisechzehntel-Auftakt in eine eintaktige Achtelfigur führt, um schließlich abtaktig zu enden – wiederum mit drei repetierten Achteln (E-E-E; wir sind bei A-Dur angekommen). Dieser viertaktige Abschnitt wird dann wiederholt, wobei nun die Melodielinie zum Grundton D geführt wird. Eigentlich ein kleines Nichts – aus dem Haydn jedoch allerhand zu zaubern weiß. Insbesondere die Achtelrepetitionen werden von Haydn im Verlauf des Satzes überaus prägnant – teils gar dramatisch – verarbeitet und zu bedrohlichen Schlägen gesteigert und zwar schon in der Exposition (vgl. T. 43ff. oder 53ff.). Die Durchführung beginnt dann sogleich mit einem zunächst im piano gehaltenen Spiel mit diesem Achtelmotiv, das sich zum zentralen Material des Hauptsatzes mausert. Interessant ist, daß auf dem Höhepunkt der Durchführung das fallende Dreiklangmotiv des Einleitungs-Adagios auftaucht – nun allerdings in G-Dur (T. 118 und 120). Ja, und dann hat sich der gute Haydn einen wirklich hübschen Schabernack ausgedacht: Nach diesem recht markanten Höhepunkt, dem in den Takten 123 bis 129 nun variierte Schläge der repetierten Achtel folgen (die mittlere der drei Achtel ist nun in zwei Sechzehntel aufgeteilt), steht eine zwei Takte lange Generalpause - wonach in Takt 132 wieder das Hauptthema einsetzt. »Ah, Reprise!«, denkt der Michel - und wird enttäuscht. Denn was da zu hören ist, ist zwar das Hauptthema – aber in der Subdominant-Tonart G-Dur. Die eigentliche Reprise setzt erst in Takt 154 mit dem Thema in der Grundtonart D-Dur ein. Beschlossen wird der Satz durch eine Coda (ab Takt 187), die nochmals mit einer dramatischen Wendung nach d-moll überrascht (T. 194-195), bevor sich das optimistische D-Dur endgültig durchsetzt. Eine Wiederholung ist nur für die Exposition vorgeschrieben.
Das in G-Dur stehende Andante ist ein Variationssatz. Das Thema hebt an mit einer Umkehrung des fallenden Dreiklangs der Adagio-Einleitung zum Kopfsatz: eine Sechszehnteltriole (D-G-H), die im Verlaufe des Satzes als rhythmisches Motiv ein gewisses Eigengewicht erlangt (sehr schön zu hören in den immer wieder auftretenden Passagen mit langen, immer nur leicht variierenden Tonrepetitionen – hübsch die Hornpassage in T. 66-68 ). Der Charakter des Satzes ist zunächst eher freundlich und entspannt, das Thema wird eher locker verarbeitet. Insgesamt lassen sich nach der Vorstellung des Themas (T. 1-9) drei oder vier Variationen feststellen. Ich schreibe drei oder vier, weil ich nicht recht sicher bin, ob die vierte eine eigenständige Variation darstellt oder eher noch zur dritten gehört. Naja, das können ja Berufenere in diesem Thread klären.
Die erste Variation (T. 9-25) steht in der Grundtonart des Satzes, wobei hier insbesondere imitierende Passagen festzustellen sind und sich das rhythmische Motiv der Sechzehnteltriole zu verselbständigen beginnt (ab Takt 12). Bemerkenswert ist, daß bereits in dieser ersten, in Dur gehaltenen Variation, der eher freundlich-entspannte Charakter der Musik durch Mollwendungen mit beinahe schon aggressiv wirkenden Oktavsprüngen (T. 18-19) eingetrübt wird.
Die zweite Variation (T. 26-45) steht dann zur Gänze in g-moll. Sie wird bestimmt von unruhigen Läufen in Sechzehnteltriolen, während die in der ersten Variation bestimmenden Ton-Repetitionen zurücktreten. Hier kippt der Charakter dann völlig vom Freundlich-Heiteren ins Dramatische, die fortissimo-Passage ab Takt 30 hat beinahe bedrohlichen Charakter. Gegen Ende der zweiten Variation hellt sich der Charakter durch eine Hinführung in die Dominanttonart D-Dur wieder auf.
Die dritte Variation (T. 46-68 ) steht wieder in G-Dur und wird bestimmt von fallenden Sechzehntelfiguren (bisweilen punktiert) und einem weiteren Bedeutungszugewinn der repetierenden Sechzehnteltriolen, die schließlich in die bereits erwähnte Passage münden, in der die Hörner zweieinhalb Takte lang in Oktaven ein G in Sechzehnteltriolen repetieren. Die Passage – und damit wohl auch die dritte Variation – endet auf einem G-Dur-Akkord des gesamten Orchesters (Fermate, Takt 68 ). Ja, und dann beginnt wohl die vierte Variation, von der ich nicht recht sicher bin, ob sie nicht zur dritten gehört. Diese vierte Variation (T. 68-81) zeigt ein ganz anderes Klangbild als die drei vorausgehenden: geprägt wird dieser Teil durch das kadenzenzartig-imitatorische Spiel zweier solistisch geführter Violinen, das in den Takten 79-81 von Flöten und Oboen übernommen wird. Hier schließt eine achttaktige Schlußpassage an: ein Lauf in den bekannten Sechzehnteltriolen (Oboen) mündet in einen sich aufbauenden Stauakkord – es folgt ein Sechzehnteltriolenlauf der 1. Violinen. Der Satz endet auf zwei kurzen Achtelschlägen des gesamten Orchesters im piano.
An dritter Stelle der Sinfonie steht ordnungsgemäß ein Menuett – ein überaus apartes übrigens – in G-Dur, in dem der schon bekannte, gebrochene Dreiklang (hier in aufsteigender Form) bestimmend ist. Das eher ländlich anmutende Trio wird von Oboe und Fagott dominiert, die solistisch geführt werden.
Das Finale - ein »Sonaten-Rondo« in G-Dur - ist vergleichsweise knapp gehalten und hat durchaus Kehrauscharakter. Das Thema hebt an mit dem absteigenden G-Dur Dreiklang, den wir nun schon hinlänglich kennen. Insgesamt ist der Charakter des Satzes eher ausgelassen – allerdings steht im Zentrum des Satzes erneut eine gewichtige Moll-Passage (T. 48-102), in der die dunkle Dramatik, die in den ersten beiden Sätzen aufschien, nochmals zurückkehrt. Im letzten Teil des Satzes tauchen auch die aus Satz 1 und 2 bekannten repetierenden Figuren wieder (T. 134-141; 196ff., 208ff.).
Insgesamt ein in Faktur und Gehalt überaus dichtes Werk, das seinen Beinamen – authentisch hin, authentisch her – eigentlich ganz zurecht trägt.
Viele Grüße,
Medard