Beiträge von Gombert

    Ist diese Fermate in dieser Arie ebenfalls für eine kleine "Kadenz", für eine kleine Improvisation gedacht, soll sie der Sängerin eine kleine Freiheit einräumen?


    Ja.


    Ich stelle ja meinen Geschmack nie über das Werk, sondern das Werk über meinen Geschmack. Über solche Verzierungen zur Zeit Mozarts weiß ich theoretisch zu wenig, um bestimmen oder begründen zu können, welche Koloraturen "erlaubt" oder "gut" sind, und welche nicht. Solange ich darüber nichts Genaues weiß, bleibt mir allerdings nur mein Geschmacksurteil, und da finde ich, dass zu viele Koloraturen nicht mehr schön sind, besonders, wenn sie die Melodie zu sehr verfälschen. Ich finde, man sollte damit genauso sparsam umgehen wie etwa mit einem Vibrato.


    Sowohl Quellen- als auch Literaturlage sind hinsichtlich der „erlaubten Koloraturen“ relativ günstig, was den Sänger allerdings nicht der geschmacksbedingten Wahl enthebt. Die Spannbreite des Vokabulars ist gross – weder war die Tradition der virtuosen Neapolitanischen Schule, von der auch Mozarts Vorbild Christian Bach beeinflusst war, ganz obsolet, noch die spätbarocke Hofoper eines Fux völlig vergessen. Dank Kaunitz konnten sogar die französischen synkretistischen Opern wirken, etwa in Gestalt einiger Werke von Salieri, von dem ebenso ausgeschriebene Ornamente vorliegen wie von Martín y Soler und Mozart selbst.


    Auf dieser Basis müssen wir mit lebhaften Koloraturen rechnen, zumal in den beiden „Arien“ Cherubinos, die sich mit „Martern aller Arten“ befassen – Affekt „läuft“ auch in dieser Zeit noch wesentlich über Verzierungen. Heute sollte man den Kontext von Inszenierung und Personenzeichnung berücksichtigen. Als ich diese Rolle als Dreizehnjähriger auf die Bühne brachte, was ja quasi die ultimative „realistische“ Besetzungsoption darstellt, schien uns beispielsweise ein zurückhaltener Umgang mit Koloratur angemessen, um besagte Besetzungsvariante nicht durch übermässige Artifizialität zu konterkarieren. Doch selbst bei einer canzonenhaften Form wie „Voi che sapete“ (Caruso41 plädierte für eine möglichst schlichte Ausführung) wäre es mir inadäquat erschienen, nicht wenigstens in der „Reprise“ eine Form von varietas einzubringen.


    Nun habe ich nur einen Teil der Beispiele aus dem Paralellthread über „Voi“ hören können, doch scheinen mir nicht immer die Möglichkeiten genutzt, die eine differenzierte Nutzung des Vibratos böte. Geht der Darsteller hingegen von einem vibratolosen Fundament aus, bieten sich eine Vielzahl von Schattierungen, die im passenden Augenblick als Verzierung wirken können, also auch bei einem straighten Vortrag jene Momente unterstreichen, in denen Cherubino doch einmal aus der Bahn zu fliegen droht.



    Ja, das wäre für mich auch so ein Beispiel, auch Crebassa singt in der Reprise eine kleine Variation und sorgt für ein wenig Abwechslung. Bei Kirchschlager wirken mir die vielen Koloraturen so, als ob sie nur um der Koloraturen wiillen gesungen werden, und nicht, um den Ausdruck zu unterstützen.


    So gerne ich auch mit René Jacobs musizierte und so sehr ich seine Figaro-Aufnahmen schätze (seit Currentzis letzten Mozart-Ausflügen um so mehr), bin ich doch ganz froh, den Cherubino nicht unter seiner Leitung gesungen zu haben. Er diktiert den Sängern die Ornamentik oftmals sehr vor und bezieht sich dabei nicht zuletzt auf eher barocke Quellen. Das ist, wie angedeutet, nicht illegitim, passt aber m.E. nicht zu Cherubino. Zwar bezieht sich Beaumarchais mit seinem ironischen Figurennamen auf die barocke Ikonographie, die Engel und Amor fusioniert, doch bleibt Cherubino eine dezidiert jugendliche Figur, die sich kaum abgestandener Moden bedienen würde (ausserdem erscheint mir die identische Repetition von Kadenzen aus dieser Zeit widersinnig, sei es im Gesang, bei Soloinstrumentalmusik oder im Orchester). Schon daher ziehe ich ebenfalls Mdm Crebassas Lesart derjenigen von Frau Kirchschlager vor.



    Die Mezzosopranistin Solenn Lavnanat Linke singt den jugendlichen Cherubino mit Dreispitz und in Kniebundhosen. "Das ist eine der schwierigsten Arien für Mezzo, weil die liegt ganz hoch", erklärt die Sängerin über die Arie "Voi che sapete". "Und jetzt bin ich wie ein Chamäleon und wandele an dieser Grenze." Neben der stimmlichen Herausforderung ist die Rolle des Cherubino auch schauspielerisch kein Kinderspiel: Seit Wochen spaziert Solenn Lavanant-Linke durch die Straßen und beobachtet junge Männer. Wie könnte sich ihr Cherubino die Haare aus dem Gesicht streichen, wie ist sein Gang, wie seine Mimik? Und dann ist da auch noch das komplizierte Seelenleben der Teenager


    Ach ja, wie oft hört oder liest man doch von angehenden Mezzo-Cherubin-innen, die sich im Rahmen der Rollenvorbereitung selbst vor Feldstudien nicht scheuen. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht… :D ?

    Zehetmair ist zumindest eine spektakuläre Wahl. Es ist immer schwierig, wenn ein renommierter Solist eine Dirgentenposition übernehmen will. Ich kann nur aus dem Gefühl heraus urteilen: Es dürfte häufiger schief- als gut gegangen sein, oder in gehobener Mittelmäßigkeit versandet sein. Vielleicht trifft das Sprichwort zu: "Schuster bleib bei Deinem Leisten."


    Ein langjähriger Chefdirigent zweier Kammerorchester, (der zudem das älteste Sinfonieorchester der Schweiz leitet), wechselt zu einem anderen Kammerorchester. Was ist daran spektakulär? Da müsste ja der damalige Wechsel von Neville Marriner (ebenfalls Geiger und langjähriger Leiter eines britischen Kammerorchesters) zum RSO Stuttgart als noch wesentlich „spektakulärer“ bewertet worden sein? Woher rühren die Vorbehalte gegenüber Zehetmair? Seine Dirigate hochromantischen Repertoires neigen zwar zu lebhafter Agogik, dies ist aber doch erkennbar kein Zeichen besonderer handwerklicher Mängel? Besteht die Befürchtung, er könnte die Stuttgarter HIP-Fraktion erweitern, nachdem sich zu Bernius nun auch Rademann und andere gesellen? Eine Umwandlung in ein PI-Ensemble scheint Zehetmair jedenfalls weder in Newcastle noch sonstwo angestrebt zu haben.

    Und das gilt auch für Bach-Motetten, wie z. B. "Singet dem Herrn...", welche durch völlig überflüssiges b.c in ihrer überragenden Wirkung als A-Cappella-Chorwerke behindert werden.


    Zwar vermute ich, dass es keine vollkommene Einigkeit der Gelehrten geben wird, aber dass barocke "A cappella"-Werke ohne Instrumente aufgeführt wurden, ist wohl kaum mehr haltbar. Sie wurden anscheinend nachweislich *manchmal* mit colla parte Instrumenten aufgeführt und wohl IMMER mit Basso continuo


    So eindeutig ist die Quellenlage nicht. Zunächst waren viele der Bachmotetten offenbar als Begräbnismusik gedacht, und Trauermusik oblag in Leipzig einem Instrumentalverbot.


    Ausserdem bestätigt J.A.Scheibe, der Leipzig und Bach kannte, 1744 in seinem „Critischen Musicus“ die a capella-Aufführung von Motetten – ohne b.c. - als übliche Praxis:
    http://www.archive.org/details/bub_gb_P95oNO55jfYC


    Dies scheint auch Doles als Quasi-Amtsnachfolger Bachs im Thomaskantorat (Harrer einmal ausgeklammert) so praktiziert zu heben, obgleich hier die Frage nach einer ungestörten Kontinuität natürlich offen bleiben muss.

    Oder werden von Dirigenten etwa Saxophone statt Trompeten, Hörnern oder anderer Blasinstrumente eingesetzt?


    Ja. Saxophone etwa an Stelle von barocken Bläsern.


    Und ein Dirigent der Neuzeit wird die Instrumente wohl so einsetzen, wie sie der Komponist in der Partitur vorgesehen hat.


    Wenn ein Dirigent statt eines Zinks oder Serpents moderne Blechbläser einsetzt, dann setzt er diese nicht nur nicht so ein, wie sie der Komponist vorgesehen hat, sondern er setzt die in der Partur vorgesehenen Instrumente überhaupt nicht ein. Trotz der rudimentären Notierung darf man eine Karajan-Poppea schon als nicht so recht partiturgetreu betrachten?



    Violinen sind Violinen geblieben


    Na und? Eine mit nichtumsponnenen Darmsaiten versehene Vionline mit barocken Steg und ebensolchem Bogen klingt von einer modern ausgestatteten Violine wesentlich verschiedener als eine moderne Bratsche, vom hier irrelevanten Ambitus abgesehen. Nun ist die Bratsche per definitionem ein anderes Instrument, die Barockvioline nicht. Freilich ist hier nicht die Taxonomie eintscheidend, sondern "was hinten raus-" b.z.w ins Ohr des Hörers hineinkommt, nämlich der - fundamental verschiedene - Klang, noch begleitet jenen Aspekten der Artikulation und Phrasierung, die vom Instrumentarium forciert werden.


    Feine Nuancen bestehen für das empfindsame Gehör z.B. schon zwischen zwei Violinen verschiedener Bauart (z.B. Amati und Stradivari)


    Noch einmal: eine halbwegs dem Originalzustand angenäherte Stradivari würde von einer "rezenten" Stradivari verschiedener klingen als diese von einer Amati (freilich klingen auch die Strads höchst verschieden, je nach Erhaltungszustand und Art der Umbauten). Wie beim Naturhorn oder der claringeblasenen Trompete geht es nicht um "Nuancen", schon gar nicht um feine.


    Einen Vergleich mit dem modernen Orchester als Argument heran zu ziehen, hinkt nicht nur, sondern ist für mich völlig daneben gegriffen.


    In der Regel lassen sowohl Regietheater als auch Aufführungen mit modenem Orchester die "lineare Dramaturgie" weitgehend intakt: den gesungenen Text b.z.w. die gespielten Noten - evt. Kürzungen beträfen beide Aspekte. Was sich ggf. gravierend ändert ist in einem Fall der visuelle Aspekt wie Bühnenbild oder Kostüme (ein wesentlicher Aspekt des Theaters) im anderen Fall der Klang (ein mindestens ebenso wesentlicher Aspekt der Musik). Wie lautet die übliche Begründung für Aufführungen mit modernem Instrumentarium? Wir leben in der heutigen Zeit und nicht in der Vergangenheit, also spielen wir auf dem entsprechenden - wenn nicht gar "uns entsprechenden" - Instrumentarium. Wie lauten die Argumente des Regietheaters? War da nicht irgendwas mit "Vergegenwärtigung"?


    Nein, die Gadamer-Debatte zwischen Helmut und Holger werde ich hier nicht aufgreifen, auch nicht die "illusionäre Werkästhetik" vs. "bornierte Rezeptionsästhetik" im Sinne eines Dahlhaus. Eigentlich sind die hiesigen Theaterdebatten in ihrer ungemeinen Hyperredundanz ermüdend. Holger Kalethas ästhetischer Standpunkt ist immerhin konsequent und sowohl auf dramaturgische wie musikalische Umsetzung bezogen. Hosenrolle1 legt allerdings den Finger in eine latente Wunde: vielen RT-Gegner scheint das Libretto sankrosankt, die musikalische Anteil der Partitur hingegen eher schnurz zu sein.


    Zumindest wird die küntlerische Autonomie des Librettisten bis ins Detail verteidigt. Wenn der Komponist hingegen einer durchdachten und werkbildenen musikalischen Dramaturgie folgt, der barocken Rhetorik oder gar einer durch modernes Instrumentarium negierten Tonartencharakteristik, sind dies offenbar zu vernachlässigbare Nuancen (zudem darf uminstrumentiert werden oder der depperte Komponist offenbart seine Unfähigkeit, fürs Ventilhorn in mehr als ca. zwei Tonarten zu schreiben).


    Selbst wenn es sich Marginalien handelte, so stellte Hosenrolle1, der den Anlass für das Thema bot, jenseits der Aufführungspraxis-Debatte letztlich vor allem die Frage, warum für viele Hauptprotagonisten der RT-Threads die Musik eine derart marginale Rolle zu spielen scheint - und selbst in einem Musikforum (threadübergreifend) kaum als diskurswürdig.

    In seinem beliebten Buch "The Maestro Myth" schreibt Norman Lebrecht, die deutschen "Originalklang"-Orchester wären wesentlich im Fahrwasser ihrer britischen Äquivalente entstanden. Während sich freilich in Österreich ebenso wie in West- und Ostdeutschland bereits in den 50er Jahren langlebige Ensembles etablierten (Concentus musicus, Capella Coloniensis, Capella Fidicinia) entstanden die britischen PI-Ensembles im erst in den 70ern, wobei allein für 1972/73 die Gründungen des English Concerts, des Tavener Consorts und der einflussreichen Zeitschrift "Early Music" zu verzeichnen ist. Zu diesen gesellt sich die Academy of Ancient Music, deren Namensgebung dann allerdings doch an eine traditionelle englische Affinität zu dezidiert "Alter Musik" erinnert.


    Die ursprüngliche Academy wurde 1726 gegründet und widmete sich - ähnlich der Madrigal Society - Werken, die ein bestimmtes Mindestalter überschritten haben mussten. Durch die Chor- und Clavierbautradition, später durch die "3D" Dolmetsch, Dart und Deller blieb eine gewisse Kontinuität in der britischen Pflege Alter Musik gewahrt, freilich nicht in Form von PI-Orchestern. Die "Wieder"begründung der Academy of Ancient Music im Jahr 1973 durch Christopher Hogwood stellt insofern eine gewisse Pionierleistung dar. Eine Geschichte derartiger Ensembles ist oft die Geschichte ihrer Gründungsväter. Hogwood ist Schüler der beiden wichtigsten Cembalisten der 60er Jahre. Während jedoch Rafael Puyana dem Landowska-Umkreis, also letztlich dem zugleich romantisch und neusachlich geprägten Historismus entsprang, war Gustav Leonhardt der Doyen der modernen HIP-Instrumentalisten. Seit 1965 spielte Hogwood das Continuo-Cembalo in Marriners höchst gediegenem Kammerorchester von St Martin in the Fields das Continuo-Cembalo, zwei Jahre später wirkte er zugleich in Munrows geradezu antagonistischem "Early Music Consort", welches sich auf eher abenteuerlustige Weise die mittelalterliche Musik zu erschliessen suchte.


    Diese janusköpfige musikalische Sozialisation spiegelt sich auch in Stil und Repertoire des Academy of Ancient Music. Der Verzicht auf inégale Phrasierung korresponiert mit dem Abschleifen der eigentlich durch das historische Instrumentarium bedingten ungleichförmigen Artikulation und Dynamik. Dies ermöglicht eine grossrhythmisch geprägte Motorik, welche die Kluft zu den polierten traditionellen Kammerorchestern der 60er-Jahre gering erscheinen lässt. Eine ähnliche Ästhetik pflegt auch das nahezu zeitgleich entstandene "English Concert", zumal auch hier ein Cembalist Ensemblegründer ist. Allerdings begann Trevor Pinnock seine Laufbahn bereits als Kind im ältesten Musikensemble Britanniens, dem Canterbury Cathedral Choir, während Hogwoods Ausbildung in Cambridge mehr akademisch grundiert war. So mag sich der noch etwas kantablere und legatoseligere Klang von "The English Concert" erklären, trotz der sich oft überschneidenden Besetzung.




    Geprägt von dieser Ästhetik waren die britischen Ensembles marktkompatibel. "English Concert" wurden von der Deutschen Grammophon unter Vertrag genommen, die "London Classical Players später von EMI. Hogwoods "Academy of Ancient Music" entstand gar auf Anregung der Decca, ein seltener, aber nicht singulärer Fall im Originalklangbereich - "La Petite Bande" geht etwa auf die Deutsche Harmonia Mundi zurück. Keine Überraschung war das erste umfassendere Aufnahmeprojekt, Purcells gesammelte "Theatre Music". 1978 begann man allerdings mit einer Gesamtaufnahme der Mozart-Sinfonien, der erste umfassende originalklänglerische Vorstoss in den Bereich der klassischen Sinfonik, der auch weiterhin von englischen Ensembles getragen wurde. Damals vielleicht aufsehenerregend, erscheint die klassizistische Lesart der "Academy" aus heutiger Sicht weniger idiosynkratisch als viele "traditionelle" Gesamtaufnahmen - und blieb darin Vorbild für die GAs von Pinnock oder ter Linden. Es handelt sich noch immer die umfassendste Einspielung, die auch Fragmente, apokryphe oder hinsichtlich der Zuschreibung umstrittene Werke enthält. Die Komplettisten unter den Sammlern konnten sich endlich an der ominösen Sinfonie Nr. 37 erfreuen und selbst Nr. 40 liegt in beiden Versionen vor. Vor allem wurden unterschiedliche Besetzungsgrössen der Uraufführungen berücksichtigt, daher klingt die "Pariser" Sinfonie viel üppiger als die "Prager".



    Als Cembalist war Hogwood stets bereit, seinen Konzertmeistern ein erhebliches Mitgestaltungsrecht zu gewähren, hier etwa Jaap Schröder, später auch Simon Standage. Robert Levine versucht sich bei Mozarts Klavierkonzerten passagenweise an "asynchronen" Rubati (was bei Bilson/Gardiner offenbar an den Archiv-Ingenieuren scheiterte...). Auch die Einspielungen der Beethovensinfonien erscheinen im Direktvergleich mit Goodman und Norrington zunächst als klassizistisch, sind aber hinsichtlich der Umsetzung des Textes eigenwilliger als Gardiners. Haydns Sinfonien präsentieren ihren Witz auf trockene Weise, was etlichen Werken durchaus entgegenkommt. Allerdings fehlte mittlerweile die Orientierung an den ursprünglichen Aufführungsbedingungen. So wird etwa pauschal auf das Continuo verzichtet, wodurch sich ein scharfer Kontrast zu Roy Godmans "clavierkonzertierender" Lesart ergibt. Nicht fehlende Frische, sondern die allgemeine Marktkrise waren freilich der Grund für den Abbruch der weit gediehenden Gesamtaufnahme.



    Für die sich finanziell selbst tragenden britischen Ensembles stellte sich das Ende der Majorlabel-Verträge problematisch dar. Abfedernd wirkte die mehr oder weniger informelle Rolle der Academy of Ancient Music oder des Orchestras of the Age of Enlightenment als Hausorchester der wohlhabenden Colleges in Oxbridge. Bei der Aufführung älterer Musik durch die dortigen Traditionschöre ist eine Zusammenarbeit mit PI-Orchestern bereits seit den 80er Jahren Standard. Die folgenden Einspielungen präsentieren die möglichen Konstellationen: die beiden ältesten Chöre Oxfords, einmal vom Orchesterdirektor geleitet und von "externen" Solisten gesungen, einmal vom Chorleiter dirigiert und mit choreigenen Solisten besetzt. Mittlerweile ist die Academy sogar offizielles Orchestra-in-Residence an der Universität von Cambridge.




    Für einige Jahre war Andrew Manze stellvertretender Dirigent, gefolgt von Richard Egarr, der 2005 Hogwood als Musikdirektor ablöste. Ebenfalls Cembalist, wirkt Egarrs Musikaufassung manieristischer als die seines zurückhaltenden Vorgängers. Da Manze und Egarr auch dem "English Concert" verbunden waren, wundert eine gewisse Angleichung des Timbres der beiden ohnehin ähnlich besetzten Orchester nicht. Seit der Jahrtausendwende werden auch Kompositionsaufträge vergeben, so dass der "Protagonist der Alten Musik" sowohl Musik des 17. als auch des 21. Jahrhunderts spielt - seit 2013, wie mittlerweile allgemein üblich, auch auf eigenem CD-Label.


    Übertreiben


    Wieso denn?
    Die Grundthese verstehe ich so: wenn dr.pingel sich lieber mit Vokalpolyphonie als mit Caruso beschäftigt, ist das Mahagonnismus.
    Also ist das Hören von "O sole mio" eine asketisch grundierte intellektuelle Leistung, das Auseinanderpuzzeln der kanonischen Formen in Josquins "Missa ad fugam" hingegen reinster Hedonismus.
    Eben dieser Meinung war ich schon immer und freue mich, sie nunmehr auch aus phänomenologischer Sicht bestätigt zu finden!


    Auf dem Gebiet bin ich alles andere als ein Experte. [...] Welche Werke würdest Du denn von Adams oder allgemein aus dem Bereich Minimal Music in den Kanon aufnehmen?


    Lieber Bertarido,


    zunächst die prompte - und gewisslich reanimierend wirkende - Antwort auf die Minimalfrage: von derartiger Music habe ich keine Ahnung und ein Blick auf meine Nominierungsliste zeigt Dir, dass ich ob dieser mangelnden Übersicht sämtliche nichteuropäischen Opern ausgeklammert hatte. Substanziellere Werke dieser Richtung kommen eher von Andriessen und anderen Altweltlern. Adams bietet immerhin in "El Nino" (nominell eine "Multimediaoper") oder in seinem "Doctor" mehr Textur als in der Staatsbesuchsoper zu finden ist. Die scheint sich eher auf einem Level mit den gehobeneren Glass-Werken zu befinden, vorausgesetzt "Akhnaten" fiele, wie allgemein deklariert, in diese Kategorie. Zwar gehört a-moll zu meinen Lieblingstonarten, aber bei derartiger Penetranz...bietet sich den Ausführenden wenigstens die Gelegenheit, mittels unintentionierter Modulation bereichernd zu wirken. Wer die übrigen zwei Dutzend Werke gehört hat, ohne ins Koma gefallen zu sein, möge sich hier zu Wort melden. Was wollte ich eigentlich vorschlagen? Man wähle ein repräsentativ scheinendes Werk aus dieser Richtung und lasse es dabei bewenden. Vielleicht erweist sich Dein angekündigter Opernbesuch als instruktiv.

    Eigentlich wollte ich im Brumel-Thema einen Beitrag über Ricens neue Einspielung schreiben, sehe nun aber diesen wesentlich profunderen und instruktiveren Thread. Zwar kapiere ich den Zusammenhang zwischen Schellacktenören und Vokalpolyphonie nicht so ganz, erfülle damit aber ideale Voraussetzungen zur Internet-Foren-Beteiligung.


    Zitat

    von musikwanderer (Beitrag 4):
    Die in den Kinderschuhen steckende Aufnahmetechnik lässt uns (dr. pingel und mich, vielleicht auch noch andere) die sängerischen Leistungen oft genug, meistens, nicht erkennen, nicht "erhören"!


    Nun gehören zu Kestings Auswahl auch elektrische Aufnahmen aus den 30ern und 40ern, die längst den Kinderschuhen entwachsen sind. Da sind übrigens einige potentiell vokalpolyphonie-taugliche Sänger zu hören. Björling, um nur einen der prominentesten Namen zu nennen, verfügt über eine formidable Projektion, eine rasch ansprechende Stimme und eine entsprechende Kontrolle des Vibratos. Der Obertonreichtum würde darüber hinaus gut mit "alten" Instrumenten harmonieren. Iwan Koslowsky gäbe, abhängig von der Schlüsselung, sogar einen brauchbaren Kontratenor [nicht: Counter-] ab. Zahlreiche technische Parameter lassen sich allerdings auch den ältesten der vertretenen akustischen Aufnahmen entnehmen. John McCormack bildet seine voix mixte auch 190x auf unverkennbar englische Weise, würde also auch stimmbildnerisch in die entsprechenden insularen Ensembles passen (die Iren mögen verzeihen). Manche Aspekte freilich können durch sehr alte Tonaufzeichnungen nicht mehr transportiert werden, und hier nutzt Kesting - wie jeder Hörer - erfahrungsgesättigte, doch nicht mehr objektivierbare Projektionen.


    Zitat

    von dr. pingel (Beitrag 21):
    Eine professionelle Gesangstechnik ist für ein Vokalensemble nicht nur nicht nötig, sondern sogar äußerst schädlich.


    Im Lichte dieser Erkenntnis werden die Tallis Scholars, Sixteen, Cardinall's Music etc. etc. ihre sämtlichen Sänger entlassen. Glücklicherweise werden diese sicherlich anderswo Anstellung finden:



    Zitat

    von m.joho (Beitrag 18):
    Für das Mitwirken in derartigen Gemeinschaften ist eine seriöse Gesangstechnik, über die Caruso, Schmidt, Tauber, Koslowsky etc., etc. zweifelsfrei eher als die Sänger der späteren Epochen verfügten, nicht nötig.


    Da nahezu jeder Sänger dieser Ensembles über eine "seriösere Gesangstechnik" verfügt als etwa der ja nun diesbezüglich keineswegs makellose Caruso, kommen sie sicherlich in der Oper unter. Profunde technische Fähigkeiten dürften heute jedenfalls häufiger anzutreffen sein als im Zeitraum zwischen 1910 und 1940, der eher einen Niedergang zu markieren scheint - etwa im Vergleich mit dem späten 19. Jahrhundert.



    Zitat

    von m.joho (Beitrag 22):
    Es erklärt mir auch, warum ich mit dem "Gesang" von Vokalensembles nichts anfangen kann und warum der Kreis von Liebhabern dieser Kunstgattung so überschaubar ist!


    Damit findet endlich auch diese schreckliche Kunstgattung namens "Vokalensembles" ein Ende, die sich dreisterweise neben "Tafelmalerei", "Kammermusik", "Lyrik" oder "Oper" etabliert hatte.



    Zitat

    von dr.pingel (Beitrag 11):
    Vokalphilharmonie


    Jetzt geht die Satire eindeutig zu weit!
    ;(

    Gewiss strebten die genannten Herren nach einer "neuen Legitimation der Herrschaft" - freilich umsonst. Zum Zenit der Französischen Revolution war der grösste Teil der Reformen Josephs II. bereits aufgehoben - vorzugsweise wegen des Widerstandes von Volk und Ständen. Sie vermochten folglich auch nichts zu verhindern. Eine besondere Revolutionsgefahr war für Österreich ohnehin nie erkennbar gegeben, da die Beziehungen zwischen Hof und Untertanen auf verschiedenen Ebenen anders gestaltet war als in Frankreich. Irreversibel war - wie ich ausdrücklich schrieb - die Aushöhlung der Stellung eines Römischen Kaisers, nicht zuletzt mittels der Säkularisation. Dies war im Herrschaftsgebiet Colloredos noch problematischer: ein Erzbischof, der sich an der Religionsausübung störte. Die Bevölkerung, der Wallfahrten und die Ausübung religiösen Brauchtums untersagt ward, wurde beinahe in Aufstände getrieben - das Gegenteil von Revolutionsvermeidung. Ähnlich war etwas später die Situation des höchst aufgeklärten bayerischen Staatsministers Montgelas, der die Tiroler Bauern mit den Segnungen von Aufklärung und Revolution beglücken wollte. Die Resultate sind bekannt... Grundsätzlich sehe ich auch keinen Gegensatz zwischen Aufklärung und Rokoko - nur befanden sich Colloredo oder Joseph II. in einer anderen (kultur-)historischen Situation als der junge Friedrich II. Aber nun wird's tatsächlich off topic...

    Ein Mozart-Exkurs passt doch recht gut in diesen Thread:


    Ich weiß nicht, wer Mozart mit Zuckerguß überhaupt interpretiert haben sollte und sehe dies als eine bewusst manipilative Phrase an, initiiert von Leuten, die eigentlich nicht davor zurückschrecken ALLE Werte auf ihr Weltbild hinzubiegen. Sie wollen Mozart (und nicht nur ihn) als radikalen Neuerer sehen . bzw uns Glauben machen, daß er einer war. Allein das Wort "Rokoko" macht sie erschauern und sie haben es aus ihrem Sprachschatz gestrichen - und würden das mit unserem ebenfalls gerne tun.Mozart war nun aber ein Mensch des Rokoko - und auch jene in dessen Diensten er stand.


    Diesem tradierten Cantus firmus kann ich nicht ganz folgen. Als Mozart nach Wien kam, um seine sämtlichen Hauptwerke zu schaffen, war das Rokoko gemäss allen gängigen Definitionen bereits Geschichte.


    Zudem wurde Österreich auch zuvor vom Rokoko nur gestreift. In der Architektur gibt es, trotz des reichen zeitgenössischen Baubetriebs, kaum eine Handvoll entsprechender Werke, anders als etwa in Frankreich oder den Ländern der Hohenzollern oder Wittelsbacher. Bezeichnender ist eher der Übergang von einem klassizistischen Spätbarock zu einem spätbarocken Klassizismus, wie er sich beim Generationswechsel zwischen Johann Bernhard und Joseph Emanuel Fischer von Erlach manifestiert. Auch in der Malerei wäre mir kein österreichisches Äquivalent zu Watteau oder Boucher bekannt. Etwas präsenter sind die entspechenden Stilelemente im Bereich Kunsthandwerk und Bildhauerei - in erster Linie bei importierten Künstlern. Insgesamt stand Österreich dem Rokoko aber doch ähnlich fern wie Spanien oder Grossbritannien?


    Ist der "gallante Stil" dem Rokoko gleichzusetzen? Einerseits gibt es keine halbwegs klare Unterscheidung zur "Empfindsamkeit" oder zum "Sturm und Drang". Andererseits mangelt es an an klaren Analogien zu Rokokoelementen anderer Disziplinen. Und selbst wenn dies fassbar wäre, beträfe es beispielsweise jene selten gespielten Werke Mozarts, die sich deutlich an Christian Bach anlehnen (der freilich ebenfalls in einem rokokofernen Land wirkte).


    Auch die erwähnten Dienstherren Mozarts sind kaum "Rokokofiguren". Sowohl Colloredo als direkter als auch Joseph II. als indirekter Dienstherr waren radikale Aufklärer, die ihre eigenen Herrschaftgrundlagen als Fürstbischof b.z.w. Römischer Kaiser fleissig unterminiert haben - ironischerweise gegen den Widerstand des "Pöbels".


    Der "Zuckerguss" stellt vielleicht eine polemisch wirkende, aber doch nicht unzutreffende Umschreibung dar. Die Konturen werden verwischt, die Oberfläche sieht überall ähnlich aus. Ob man es mag oder nicht, ist eine Frage des internen Zuckerspiegels. Jedenfalls bleiben Mozarts Modulationen und Dissonanzen bestehen, gleichgültig ob Böhm diese Elemente überdeckt oder Harnoncourt sie herausstellt - mir erscheinen übrigens beider Lesarten als zu radikal.


    Bezeichnenderweise betreibt allerdings der bürgerliche Karl Böhm mit seiner gross-sinfonischen Levée en masse eine der franzöischen Revolution gemässe Egalisierung, während die Differenzierungsversuche des Aristokraten Harnoncourt zu einer Hierarchisierung führen.

    Warum nicht? Gibt es da eine wissenschaftliche Erklärung dafür?


    Mozart moduliert viel zu weitläufig, um ein Clavier mit mitteltöniger Stimmung nutzen zu können. Die mitteltönige Temperatur wurde ja schliesslich verdrängt, um dem Komponisten einen grösseren Tonartenspielraum innerhalb eines Stücks zu gewährleisten, ohne allzu grosse Verstimmung zu evozieren. Mozart wird auch an anachronistisch temperierten Instrumenten gespielt haben, etwa alten italienischen Orgeln. Dort begnügte er sich sicherlich mit Improvisationen im passenden Tonrahmen , der enger war als bei seinen notierten Kompositionen. Schon sehr viel älteren Clavierwerken der "Übergangszeit" um 1700 lässt sich häufig entnehmen, ob sie für mitteltönige oder gleichschwebende Instrumente verfasst wurden.




    Ja, davon habe ich schon gehört, dass man alte Orgeln auch auf 440Hz stimmt. Fürchterlich.


    Das ist zum Glück nicht die Regel.




    Zitat von Hosenrolle1: Aber alte Opern werden auch auf Darmsaiten gespielt, und das oft über 3 Stunden; bis jetzt habe ich noch nicht mitbekommen, dass es plötzlich schief klingt.


    Wenn es "plötzlich" schief klingt, ist tatsächtlich etwas schiefgegangen. Allerdings verändert sich die Temperatur/Stimmung/Intonation selbst eines konventionellen Orchesters im Verlauf eines Konzerts. Obwohl die Intonation oft von der 1. Oboe ausgeht, fallen beispielsweise Rohrblattinstrumente und Streicher sukzessive auseinander, da sich die Rohrblätter durch Feuchtigkeit und Wärme der Atemluft verändern. Ausserdem sind alle der Umgebungstemperatur ausgeliefert. Da bei PI-Orchestern noch mehr organisches Material zum Einsatz kommt, sind die dementsprechenden Folgen ausgeprägter.


    So ein Orchestergraben in der Oper ist dann natürlich recht warm. Im sommerlichen Holzkasten in Bayreuth mit überdecktem Graben dürfte es besonders gemütlich werden...
    Dennoch scheinen die Zuhörer in der Regel nichts zu bemerken. Meine diesbezüglichen Thesen zu Bayreuth:
    a) ein Teil der Zuhörer wird durch die noch viel miserablere Intonation der Sänger abgelenkt.
    b) der andere Teil besteht aus eingefleischten Wagnerianern. Und die sind bekanntlich ohnehin taub.

    In der Kategorie "post 1930" dürfte Britten der anerkannteste Opernkomponist sein - weniger Raum als Prokofiew gebührt ihm sicherlich nicht. Zudem ist die übrige britische Oper des 20. Jahrhunderts nicht besonders glücklich vertreten: die originellen Stücke von Holst wurden ebensowenig zur Debatte gestellt wie die rezenten Werke etwa eines Ferneyhough; insofern steht Britten auch stellvertretend für seine Kollegen.


    Als das unbestrittene Meisterwerk in formaler Hinsicht gilt im UK "Turn" - durchaus zurecht, sind doch die spezifische Variante der Zwölftönigkeit, die harmonische Ambivalenz und die "drehende" Modulation perfekt auf den Text abgestimmt. Allerdings scheinen stringente Opern in Kammerbesetzung nicht besonders beliebt im Forum zu sein?


    "Turn" scheint mir eigentlich zwingend, mit 12 Nominierungen dürfte auch "Grimes" gesetzt sein. Vielleicht stellt der "Sommernachtstraum" eine sinnvolle Ergänzung dar - damit wären drei sehr englische Schauplätze vertreten: Meer, Spukschloss und Elfenwald...


    Hinsichtlich der Minimal-Music-Oper stehen ausgerechnet zwei Gläser sowie Adams' schwächstes Werk zur Auswahl. Will man diesem Untergenre einen Gefallen tun, sollte keines dieser Werke in die Endauswahl gelangen. Oder man präsentiert eben gerade die Problematik der reduzierteren MM-Variante. Wie wäre es - in diesem Sinne - mit einer Nachnominierung von PDQ Bachs "Einstein on the Fritz" - trotz des fragmentarischen Charakters... :sleeping: ?

    Hallo Hosenrolle1,


    mir ist noch nicht so ganz klar, ob Du nur offene Darmsaiten hören möchtest oder auch "hybride" (um Amirs Terminus aufzugreifen). Im PI-Orchester habe ich eigentlich immer auch umsponnene Saiten genutzt, auschliesslich offene wohl nur zu zwei Gelegenheiten, dabei handelte es sich freilich um Literatur des frühen 17. Jahrhunderts und eigentlich mehr um eine Kammerbesetzung.
    Zudem waren bereits im 18. Jahrhundert mindestens die g-Saiten umsponnen.


    Ausserdem erscheint es den meissten HIP-Orchestern zu risikobehaftet, auf reinem Naturmaterial zu spielen. Die Toleranz von Publikum und Kritik für schiefe und sich im Verlauf des Konzertes möglicherweise verändernde Klänge (Stimmungen/Temperaturen) ist auch nach mehr als sechzig Jahren HIP nur bedingt gewachsen, in einigen Feldern eher gegenläufig. Die zunehmend "zwölftönigere" (Harnoncourt) Stimmung des modernen Flügels und die Übertragung derselben auf Orchester (und Chöre) spricht für sich. Selbst in "normalen" Orchestern gibt es die Tendenz, die letzten verbleibenden, risikobehafteten Naturmaterialien durch artifizielle Produkte möglichst zurückzudrängen: Stichwort Rohrblätter. Und erst kürzlich ist wieder einmal eine "originalgetreu rekonstruierte" Orgel aus dem Huß-Umfeld des mittleren 17. Jahrhunderts gleichschwebend temperiert worden.


    Natürlich ist es nicht zuletzt eine Kostenfrage, auch für die - sich oft selbst tragenden - Ensembles. Nicht-umsponnene Darmsaiten haben nun einmal eine kurze Haltbarkeitsdauer. Man kann sie zwar beispielsweise auch lackieren, dabei wird der Sinn offener Darmsaiten aber eher konterkariert (bei der Geige vor allem hinsichtlich der schriller werdenden e-Saite).



    Der barocke Bogen, den du erwähnt hast, war ja doch anders gebaut. Die Spannung war geringer, und ich las, dass seine Form bestimmte Spieltechniken, die mit dem modernen Bogen nicht so gut oder gar nicht realisierbar sind, ermöglichte. Etwa 3 Saiten gleichzeitig zu spielen, oder so ähnlich.

    Als relevanter empfinde ich die mittels Bogenreaktion fast automatisch veränderte Artikulation. Man sucht auch nicht mehr so sehr nach den Bindebögen in den Noten... Dass sich Vibrato und Legato verändern, ist ja bereits die Erfahrung der HIP-Pioniere (hier im Thread sind übrigens Rundbogen und Barockbogen etwas durcheinandergewirbelt)


    Übrigens: von welcher Sommernachtstraum-Aufnahme sprachst Du (Herreweghe? Brüggen?) ? Und was ist mit diesen unzähligen darmsaitenlosen HuG-Aufzeichnungen?



    Welche Stimmung hat Mozart eigentlich benutzt? Werckmeister II?

    Mozart wird, je nach Lebensalter und Ort, verschiedeneTemperaturen genutzt haben, ausgerechnet eine mitteltönige aber doch wohl nicht !
    :pinch:

    Es sollten die Ensembles vorgestellt werden, die die Welle gemacht haben, und nicht die, die mehr oder weniger erfolgreich auf ihr mitschwimmen. Il Giardino Armonico haben, denke ich, z.B. zurecht Ihren Eintrag bekommen.


    Das Beispiel verstehe ich nicht. Die italienischen Gruppen schwimmen einerseits ohnehin auf einer Welle, die v.a aus Colonia kam (insb. Goebels Musica antiqua). Andererseits basiert Il Giardino Armonico wiederum auf älteren italienischen Gruppen wie Accademia Bizzantina, Modo Antiquo, Sonatori di gioiosa Marca etc.



    Das Orchestra of the Age of Enlightenment spielt auf "period instruments" und führt regelmäßig Werke von Händel, Cavalli, Rameau, Charpentier, Corelli und Purcell auf. Unter anderem in Glyndebourne. Selbstverständlich ist es damit auch ein Protagonist der Alten Musik.


    So ist es. Unter den prominenteren englischen PI-Ensembles ist nicht das OAE, sondern höchstens das ORR barockfrei (mehr Kürzel fallen mir kurzfristig nicht ein).




    "The Orchestra of the Age of Enlightenment" weist ja schon darauf hin, daß es sich dem Zeitalter der "Aufklärung" widmet.


    Mir hat ein Gründungsmitglied den Namen einmal mit verotteten Stromleitungen erklärt, die in einem alten Quartier - vor dem Umzug ins Southbank Centre - für Missstände sorgten...

    Zu Pendereckis "Teufel von Loudun" hat sich niemand geäußert. Ich habe immer noch so meine Zweifel, ob diese Oper von allerhöchster Qualität ist, aber wir können sie auch erst einmal stehen lassen.


    Sieben Nominierungen sind jedenfalls überraschend. Selbst von der Oper Ligetis bin ich mittlerweile nicht ganz überzeugt - anderwo ist er doch stärker.


    Schostakowitsch "Nos" wäre eigentlich ein passender Repräsentant der anarchisch-ironischen Oper der 20er Jahre, wie sie etwa auch bei Hindemith und Krenek, ebenso in Frankreich zu finden ist; zugleich steht sie für die Avantgarde-Jahre der Sowjetunion (beides trifft auf die "Drei Orangen" weniger zu). Dieses spezielle "Genre" ist hier ja sonst nicht vertreten. Aber bei 1 vs 6 Nominierungen ist die Entscheidung bereits gefallen.


    Eine bedeutsame russische Oper darf nicht unerwähnt bleiben. Wahrscheinlich wurde ihr im Rahmen dieses Rankings die ungünstige diskographische Situation zum Verhängnis. "Lenin lebt in uns" von Sergej Krasnuij (Сергей Красный) ist zweifellos ein zentrales Werk sowjetischen Musikschaffens und wurde bereits im Forum vorgestellt: http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=5162&


    So verdienstvoll der verlinkte Beitrag auch ist, offeriert er doch einige leicht hagiographische Passagen, wenn es um die politischen Aspekte der Komponistenbiographie geht. So ist etwa das Bild falsch beschriftet. Es zeigt den Künstler nicht etwa"im Kreis einer Gruppe der Komsomol, in der 1. Reihe, dritter von rechts". Tatsächlich ist Krasnuij der zweite von rechts und Teil einer Gruppe von Kadetten ! Welche politischen Implikationen damit verbunden sind, wird der Kenner protosowjetischer Geschichte sofort erahnen.

    Die "Vertonung des hebräischen Alphabets" bei Tallis


    Zitat

    von Johannes Roehl: Wenn ich es richtig verstanden habe, ist in dem hebräischen Text der Lamentationes die Dichtung so gestaltet, dass jeder Abschnitt mit dem jeweils folgenden Buchstaben des Alphabets beginnt, diese Gliederung ist gleichsam eingebaut [...]Es ist wohl einfach eine praktische musikalische Zäsur, wenn auch inhaltlich ohne Bedeutung und gerade deshalb kann man frei und virtuos komponieren, ohne etwa eine Textverständlichkeit einzuschränken. .


    Eine besondere Betonung des Akrostichons stellt nicht unbedingt ein typisches Merkmal der Lamentationen im fraglichen Zeitalter dar. Dr. pingel bezog sich hier zunächst ja konkret auf Tallis, der diesbezüglich in einer spezifisch englischen, bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts mit John Tudor einsetzenden Tradition steht und auch noch bei Tallis' jüngeren Zeitgenossen White und Byrd wirksam bleibt. Bei den zeitgenössischen kontinentalen Prominenz, wie etwa Lassus oder Palestrina, findet sich dieses Phänomen kaum. Vielleicht betrachtete man sich bereits damals als neues Auserwähltes Volk, eine Sicht, die später durch Händels Oratorien bedient würde… Mit Cavalieri setzt dann in Italien die Tradition ein, die Akrostichon durch polyphone Gestaltung mit dem homophonen Umfeld zu kontrastieren (die Incipits sind wirken dabei vermittelnd) - freilich gehören jene Werkgruppen nicht mehr in unseren Themenbereich.


    Da dr. pingel nicht zum ersten Mal auf die Vertonung der hebräischen Buchstaben hinweist, lohnt vielleicht ein kurzer Blick darauf, wie Tallis diese Aufgabe löst.


    ALEPH gleicht im imitatorischen Aufbau zunächst dem Incipit. Allerdings moduliert Tallis über eine Kadenz auf A von der phyrischen „Grundtonart“ sogleich ins Hyperphrygische. Der Abschluss des Aleph-Abschnitts verläuft beinahe spiegelbildlich, indem eine mehrfache Kadenz auf A ins A-phrygische führt, bevor der antiphonisch gestaltete Vers einsetzt.


    Bei BETH wendet sich die Tonart ins Lydische. Unterhalb eines Haltetons der höchsten Stimme entfaltet sich ein Falsburden, indem die Stimmpaare II & IV sowie III & V ein simples Motiv repetieren. Angesichts der Gestaltung des Aleph ist es zunächst nicht besonders überraschend, dass Beth auf B kadenziert. Freilich bleibt B auch im Vers erhalten, was eine scharfe Spannung zur phrygischen Grundtonart bewirkt.


    GIMEL, im Dorischen stehend, ist noch stärker durchimitiert als Aleph, es ergeben sich sogar Fughetta-ähnliche Passagen. Selbstverständlich erfolgt die finale Kadenz auf G.


    Ganz anders DALETH: die zentrale Mittelstimme gibt den Cantus vor, dessen Terzmotiv vom Alt beziehungsweise vom Bass imitiert wird. Zugleich füllen die äusseren Mittelstimmen die klangliche Textur mittels eines geringfügig, aber kontinuierlich variierten Sekundmotivs. Es folgt eine dissonante „Englische Kadenz“ auf D, bei der zugleich kleine und grosse Terz des Akkords zu hören ist.


    HETH ist sogar noch einfacher gehalten. 3 Stimmen singen eine einfache, aufsteigende Tonfolge, vier Stimmen kehren das Motiv um. Bei diesem hebräischen Buchstaben musste Tallis naturgemäss auf eine „gleichlautende“ Kadenz über H verzichten.



    Ansonsten hat dieses Stück jedes englische Vokalensemble eingespielt


    Das muss wohl zutreffen, andernfalls hätte ich die Stücke nicht auf mehreren CD-Produktionen und Rundfunkaufnahmen gesungen, obwohl mein Stimmfach erst nach etlichen Jahren gefragt war...( nun gut, es gibt auch einige frevelhafte Ensembles, die überhaupt noch keinen Tallis eingespielt haben). Die relative Popularität dieser Werke ist kaum verwunderlich, denn die erste Lamentation mit ihren gewagten , teilweise chromatischen Kadenzen antizipiert bereits die Tonartendramaturgie der modernen Dur-Moll-Funktionsharmonik, während die harmonisch wesentlich statischere zweite Lamentation passagenweise an Minimal Music o.ä. erinnert. Mein grösster Favorit sind sie aber nicht.


    Meine Lieblingsaufnahme ist verschollen, es war die mit den Clerkes of Oxenford unter David Wulstan, der nicht mehr existiert (der Chor, von Wulstan weiß ich es nicht).


    David Wulstan starb in diesem Jahr. Er publizierte ziemlich umfassend über die Schlüsselung der Lamentationen (z.B. „Tudor Music“). Dass man im Lauf einer „Gesangskarriere“ die Stücke in verschiedenen Positionen singen kann, ist ja auch dem mangelnden Konsens in dieser Frage geschuldet.



    P.S.:

    Musikergarde des tschechischen Kaiser Rudolf II


    Achtung: Regelmässiger, langjähriger Janacek-Konsum führt dazu, dass der Konsument schliesslich überall Tschechen zu erblicken meint.

    Vaughan Williams g-moll-Messe gehört ja seiner besonders nationalistischen Phase an, in welcher er bestrebt war, an die grosse englische Tradition des 16. Jahrhunderts anzuknüpfen. (zweiterbass hat RVW’s analoge „Tallis-Fantasie“ bereits in Beitrag 19 vorgestellt). Vorbild dürften hier unter anderem die etwas älteren Sakralwerke von Herbert Howells sein.


    Schon im ersten Satz der Messe sind die „mittelalterlichen“ Imitationen und die Falsburden-Passagen unüberhörbar. Im weiteren Verlauf erfolgen die Reminiszenzen auf teilweise impliziterer Art: Quintparallelen, Schwerpunktbildung, Oberstimmenbehandlung und so weiter.


    Die Messe ist Gustav Holst gewidmet (der verhältnismässig modernere Chorwerke verfasste),die liturgische Erstaufführung erfolgte aber durch den Westminster Cathedral Choir, welcher damals – bezeichnenderweise – der weltweit führende Chor in Sachen Palestrina, Tallis, Victoria & Co. gewesen sein dürfte.


    Übrigens immer wieder interessant zu beobachten, wie die Komponisten des 20. Jahrhundert ihren Blick immer wieder auf die sozusagen atonale Musik der Vor-Funktionsharmonik-Zeit lenkten. Das gilt z.B. für konservative britische Komponisten wie Howells, RVW oder Rubbra (der sich sich dann am dissonantesten zu schreiben traute, wenn er sich auf Tallis berufen konnte…). ebenso wie für Avantgardisten (Anton Weber, Ernst Krenek oder Egon Wellesz, um in einem österreichischen Forum nur einige Österreicher zu nennen, darf man durchaus als Mittelalterspezialisten bezeichnen).


    Zitat

    Zitat von Johannes Roehl: Gerade Messiah musste ja, wegen der relativ begrenzten Mittel in Dublin, die mit London kaum vergleichbar waren, mit möglichst einfachen Mitteln große Wirkungen (was bei dem erhabenst möglichen Thema auch notwendig warerreichen.


    Sind die Bedingungen für die Üraufführung tatsächlich so viel schlechter gewesen als bei Oratorien-Aufführungen in London? Immerhin standen Händel zwei Kathedralchöre zur Verfügung, und Dublin war die zweitgrösste Stadt Grossbritanniens. Aber wahrscheinlich ist einfach jeder Ort Provinz - im Vergleich mit London ^^ .

    Zitat

    von kurzstueckmeister: Wir haben die Größenordnung 25 Opern des 20. Jahrhunderts. Wieviele deutsche nach 1945 dürfen dann sein? Antwort: Maximal 5.


    Bei aller Liebe zur deutschen Musik sehe ich das auch so.
    Daher:


    Dessau - Das Verhör / Die Verurteilung des Lukullus


    Zimmermann B. A. - Die Soldaten


    Henze - Die Bassariden


    Lachenmann - Das Mädchen mit den Schwefelhölzern


    Reimann - Lear



    (Allerdings kenne ich Rihms Oedipus nicht und weiss auch nicht mehr, welche Simlicius-Fassung ich gehört haben mag.)



    Noch ein Nachtrag zu Krenek. Die Standpunkte zu den beiden Opern wurden nun ausgetauscht, was ich freilich nicht nachzuvollziehen vermag ist Carusos Anmerkung:


    Zitat

    "Karl V." ist meiner Meinung nach ein nicht überzeugend gelungener Versuch Kreneks, Anschluß an die Moderne durch eine Zwölftonoper zu finden.


    Wieso hätte es ein Komponist, der bereits 1923 ein Werk wie sein 3. Streichquartett verfasste, nötig gehabt, "Anschluss an die Moderne" suchen zu müssen?
    Zudem ist es ja nicht gerade so, dass man mit einer derartig frühen Zwölftonoper der Avantgarde hinterher gehinkt wäre.
    Vor drei Tagen übrigens schrieb Edwin Baumgartner, dessen Beteiligung Bertarido hier verständlicherweise vermisst, eine Art impliziten Kommentar:


    Zitat

    Überlegen wir, was dazu führt, dass ein Werk hervorsticht (nur solche dringen ins Bewusstsein ein).
    1) Es ist eine Pioniertat, die musikhistorisch relevant ist.
    2) Es ist ein Werk von hohem künstlerischen / geistigen Gewicht.
    3) Das Werk enthält einen Hit.
    [...]
    Selbstverständlich können die drei Punkte kombiniert sein, Kreneks "Karl V" ist etwa Pioniertat (erste abendfüllende Zwölftonoper) und ein Werk von hohem geistigen Gewicht.



    Zitat

    von Caruso41: Gestartet waren wir mit Listen von fünfzehn (15) Taminos , eigentlich sogar von sechzehn. Alle haben auch auf ihren Listen Werke der deutschen Oper nach 1945 gehabt! Die Mehrzahl aber hatte kein Interesse, sich an dem für die Erstellung eines Kanons notwendigen Auswahl- und Werttungsprozess zu beteiligen - eben auch noch, wenn es nicht mehr um Mozart, Verdi, Wagner und Puccini ging.


    Was mich insofern wundert, als dass der notwendige "Auswahl- und Wertungsprozess" ja eigentlich bereits im Rahmen der Erstellung der jeweiligen Nominierungsliste stattgefunden haben müsste. Da wäre es nur noch notwenig, die bereits abgeschlossenen Erwägungen niederzuschreiben. Zugleich kann ich die "Schreibhemmung"aber auch gut verstehen, denn die Mehzahl der Texte, die ich für das Forum schreibe, bleiben unveröffentlicht, sei es, weil der Diskurs längst über sie hinwegging (ich bin langsam...), sei es, weil ohnehin keine Resonanz zu erwarten wäre. So zog ich ja auch meine Nominierungsliste zurück, da sie sich mit der vordiktierten Schwerpunktbildung nicht vereinbaren liess. Trotzdem schätze ich diesen sorfältig geleiteten und durch sinnvolle Kriterien definierten Thread, zumal es einer der wenigen Orte im Forum ist, an welchem mit einer gewissen Regelmässigkeit von Musik die Rede ist.

    Zitat von Sixtus:
    "Als erste fallen mir da die Herren Idamante, Sesto und Tancredi ein - und, nicht zu vergessen: Glucks Orfeo (in der Wiener Fassung ein Kastrat, dann lange ein Monopol der Altistinnen, heute in Konkurrenz mit Falsettisten. Wobei sich ganz nebenbei die Frage aufwirft, welche Option der Intention des Komponisten am ehesten entspricht. "


    Da es im 18. Jahrhudert vielfach üblich war, Rollen in entsprechenden Stimmlagen - je nach Verfügbarkeit - mit Frauen, Männern oder Kindern zu besetzten, scheint der Begriff "Hosenrolle" für die Oper dieser Zeit anachronistisch. Die Besetzung konnte sich nicht nur zwischen den Aufführungsserien ändern, unterschiedliche Präferenzen gab es auch in den verschiedenen europäischen Ländern. Eine "jugendliche" Rolle in einer internationalen Erfolgsoper wäre in Spanien von einer Frau gesungen worden, in England von einem Knaben, in Italien von einem Kastraten (und in Frankreich, sofern man sich auf "Ausländisches" eingelassen hätte, wäre die Rolle transponiert und einem Tenor überlassen worden...). Glucks Orfeo wurde von einem Kastraten kreiert, Cherubino von einem Sopran, die 3 Zauberflöten-Knaben von Kindern (die später aber über einen langen Zeitraum hinweg stets durch Sängerinnen ersetzt wurden). Was davon sind Hosenrollen?



    Zitat von Hosenrolle1
    "Mozart hat diese Partie [Cherubino] für eine Sängerin geschrieben."


    Wissen wir dies so genau? Die Quellenlage ist problematisch, Teile des Autographen sind verschollen, Mozarts Briefe aus diesen Jahren ebenso. Die Uraufführung in Wien wurde zweifellos von einer Frau bestritten, doch war Mozart dies bereits klar, als er mit dem Verfassen der Partitur begann? Es wäre ja durchaus naheliegend, den pubertierenden Jüngling Cherubino, dessen Hauptcharakteristikum darin besteht, ein pubertierender Jüngling zu sein, mit einem ebensolchen zu besetzen. Nur waren Wiens bestausgebildete junge Sänger entweder in der Hofkapelle oder dem Domchor versammelt, und beide sakralen Institutionen untersagten ihren Mitgliedern die Beteiligung an Opernaufführungen (daher waren weder Haydn noch Schubert in der Lage, eine dauerhaft repertoirefähige Oper zu schreiben...). So mag Mozart, ganz im Geist seiner Epoche, eine pragmatische Entscheidung getroffen haben, die bei einer Uraufführung in London vielleicht anders ausgefallen wäre (welches gesangstechnische Niveau von den tatsächlich zur Verfügung stehenden Kindern zu erwarten war, zeigen die Partien der Zauberflöte).



    Da Ponte wie Mozart werden gerne als letzte Exponenten des "erotischen Zeitalters in der Musik" apostrophiert - damit auch jener Zeit, in der es noch keine Rollentypologien gab, welche die Etablierung von expliziten "Hosenrollen" erst ermöglichte. Beethoven empfand die "Cosí" bereits als obszön, und der hier zitierte Kierkegaard steht natürlich in der Tradition des romantischen Musikschriftstellertums eines E.TA. Hoffmann, mit dem die Mythologisierung nicht nur der Werke, sondern auch der diesen entspringenden Figuren einsetzt. Da ist Cherubino dann eigentlich kein vom ersten Testosteronschub überrollter Teenager, der jedem Rock hinterherzusteigen trachtet, sondern "selbstverständlich" nur die Inkarnation begierdefreier Sinnlichkeit - immerhin lässt sich selbst im puritanischen 19. Jahrhundert der Charakter der beiden Cherubino-Arien nicht ganz überhören.



    Zitat von Sixtus:
    "Beim Cherubino ist über den philosophischen Spekulationen Kierkegaards wohl die ganz nüchterne Überlegung von Da Ponte und Mozart aus dem Focus geraten, dass mit diesem chaotischen, aber zugleich charmanten Knaben und seiner wild wuchernden Erotik ein dramaturgischer Katalysator das Geschehen der Komödie immer wieder beflügelt. "


    Wundersamerweise stimme ich einmal mit Sixtus überein: Cherubino findet zwar keine Entsprechung in den klassischen Commedia-Figuren des 17. Jahrhunderts, doch durchaus im 18., wo das ursprüngliche Figurenensemble durch eine unorthodoxe, handlungsauslösende Rolle ergänzt wird. Freilich - wenn Hofmann und Kierkegaard schon aus den da-Ponte-Werken selbst tragische Opern machen, darf auch Cherubino keine komödiantische Figur sein. Dabei entspricht sie dem Typus, auch weil sie in ihrer Überforderung durchaus Mitgefühl evozieren kann und zugleich in ihrer Triebhaftigkeit problematische Seiten offenbart, die für die lebenszugewandten Autoren der Oper selbstverständlich sind, die Kirkegaard aber übergeht. Hingegen antizipiert Mozarts Musik gewissermassen, dass Cherubino Vater des unehelichen Kindes der Comtessa sein wird.



    Der von Caruso41 angeführte Massenet ist in der Tat exemplarisch für die Hosenrollen des 19. Jahrhundert, die zwingend mit einer Frau zu besetzten sind. Freilich gibt es auch hier Beispiele für Entscheidungen, die offenbar den Umständen geschuldet sind. In der russischen Literatur finden sich etwa Rollen des Typus "junger Sohn", wie Wanja in "Ruslan" oder Fjodor in "Boris". Angesichts von Mussorgskys Realismus-Anspruch erschiene im letzten Fall eine Besetzung durch einen Knaben sinnvoll, zumal hier weder aparte Klangmischungen noch erotische Verwirrspiele relevant sind. Aus naheliegenden Gründen mangelte es in Russland jedoch an ausgebildeten Sängern im fraglichen Alter, so dass anspruchsvollere Rollen an Frauen vergeben wurden.



    Während für das Publikum des 18. Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum die Besetzung einer Jünglingsrolle durch eine Frau nur knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze gelegen haben dürfte, lieferte Strauss im Octavian seinem puristisch geprägten Publikum jene obligatorischen, pikanten Sensatiönchen, die er - in Varianten - schon in Salome und Elekta probiert hatte. Da lagen nicht nur ein junger Mann und eine ältere Dame unverehelichterweise gemeinsam im Bett, sondern zugleich zwei Frauen. Zudem ist Cherubino noch weit vom heiratsfähigen Alter entfernt, denn am Ende der Oper finden die drei "richtigen" Paare zusammen, Susanna/Figaro und Marzellina/Bartolo gehen die Ehe ein, doch wird Cherubino nicht mit Barbarina zusammengeführt. Cherubino ist offenkundig gerade erst von der Geschlechtsreife überfallen worden und weiss zunächst gar nicht so recht, wie er mit dieser neuen Errungenschaft umgehen soll. Somit hat er auch den Stimmbruch noch vor sich. Octavian hingegen wird uns bereits als erfahrener Liebhaber dargestellt (der erreicht hat, wovon Cherubino nur träumen kann), und scheint schliesslich eine "feste Beziehung" mit Sophie aufzunehmen. Strauss arbeitet also dezidiert mit mehrfacher Verfremdung, zumal Octavians hypothetische "natürliche" (Sprech-)Stimme die eines jungen Mannes wäre, während Cherubino quasi naturgemäss ein Sopran ist.



    Zitat von Hosenrolle1
    "[Cherubino] unterscheidet sich von den anderen Figuren, und vielleicht soll u.a. auch dieser Aspekt dadurch ausgedrückt werden, dass er nicht "konventionell" von einem echten Mann besetzt wird. In dem Stück sind alle Männer echte Männer, und alle Frauen echte Frauen. Nur Cherubino nicht."


    Diese Bedingung erfüllt jedoch nicht nur eine Frau, sondern auch ein Knabe, wobei dann nicht nur die Rolle "weder Mann noch Frau" ist, sondern auch der Darsteller. Nach meiner Erfahrung neigen die Damen oft dazu, die - technisch nur mässig anspruchsvolle - Rolle des "männlichen Teenagers" entweder zu überzeichnen, was entsprechend karikierend wirkt, oder so feminin zu bleiben, dass der zumindest "anteilige" Jüngling gar nicht erst evoziert wird. Die Publikumsresonanz war jedenfalls sehr positiv, als ein alternierender Kollege und ich diese Rolle im "passenden" Alter verkörperten. Der „naive“, unmittelbare Zugriff auf die Rolle kam der Gestaltung wahrscheinlich entgegen. Auch da wurde wiederholt die Frage aufgeworfen, warum diese eigentlich naheliegende Alternativbesetzung derartig selten gewählt wird. Vielleicht können wir ja nachträglich zur Beantwortung der Frage beitragen?

    Juan de Anchieta: Missa Rex Virginium


    Trotz der bedeutenden mittelalterlichen Tradition der westgotisch-mozarabischen Liturgie, der Cantigas de S. Maria von Alfons des Weisen, des Santiagoschen Calixtus-Codex oder des Llibre Vermell (mit dem die Ars Nova nach Hispanien einsickert) würde ich von einer spanischen Musik im engeren Sinne erst ab dem frühen 16. Jahrhunderts sprechen. Der Tod von Königin Isabella im Jahr 1506 bedeutete zugleich die Umwandlung der Personalunion in einen Gesamtstaat. Fernando von Katalonien löste in diesem Zuge auch die kastillianische Hofkapelle auf. Ein Teil der Musiker gelangte ins katalonische Schwesterensemble, andere kamen in den Dienst von Isabellas Tochter "Juana la Loca". Zu diesen gehörte auch Juan de Anchieta, einer der namhaftesten baskischen Komponisten vor Ravel (und ein Verwandter des Ignacius von Loyola). Anchietas Musik kommt noch hörbar aus der gotischen Tradition Spaniens, doch konnte der Komponist die relative Isoliertheit der spanischen Musikszene mittels Reisen nach Flandern und England durchbrechen. Vielleicht gehört Anchieta, gemäss der pingelschen Terminologie, ebenfalls zur 2. Garnitur, doch ist er zweifellos ein Wegbereiter der spanischen Vokalpolyphoniker des späteren 16. Jahrhunderts. Seine unvollständig überlieferte Missa Rex Virginium legt in einer Einspielung von Josep Cabré vor, wobei zwei Sätze durch Musik vom - heute bekannteren - Pedro de Escobar ergänzt wurden.


    Apropos Unvollständigkeit: Albéniz "Iberia" ist durch den noch eher jungen Claudio Arrau ganz erstgarnitürlich eingespielt worden - leider nicht zur Gänze.

    Nun, die innovative Eigenschaft "Karls" ist als wohl erste fertiggestellte Zwölftonoper klar gegeben, fällt nebenbei auch in die Kategorie "der verschiedenen Ausprägungen, Schulen und nationalen Traditionen der Oper", da die klassische Dodekaphonie in den ersten Jahren eine klar österreichisch/deutsche Angelegenheit darstellt (von unsystematischen Analogien anderswo abgesehen). "Jonny spielt auf" stellt hingegen nicht das erste musikalische Potpurri der Operngeschichte dar... . Ausserdem ist der Typus der "Weimarer Erfolgsoper" schon durch Weill repräsentiert.
    Vielleicht erläutert Rheingold1876 das Plädoyer für "Jonny", beide Orffs und Egk?

    Es ist schon gesagt worden, wenn auch noch nicht von jedem: bis ins 18. Jahrhundert hinein repräsentiert eine hohe Stimme einen jungen Charakter - und es blieb dabei recht sekundär, ob der Darsteller weiblich, männlich oder sonstwas war. Octavian muss zwingend von einer Frau gesungen werden - da Librettist und Komponist mit einer "postbarocken" Publikumshaltung rechnen - Cherubino jedoch nicht. Anders als Hosenrolle1 meine ich nicht, dass da Pontes Text unbedingt auf einen weiblichen Darsteller rekurriert, Mozarts Musik schon gar nicht (damit sind nicht die technischen Anforderungen der Partie gemeint, sondern die musikalische Charakterisierung). In der Regel haben die Damen ja eher darstellerische Probleme als gesangstechnische. Natürlich kann man (d.i.Frau) glänzend mit den gesangsdarstellerischen Möglichkeiten spielen - etwa mittels "willkürlicher" Registerbrüche. Andere Bestzungsoptionen - denen eher logistische Gründe im Weg zu stehen scheinen - schliesst dies aber nicht aus.


    Zitat von Sixtus:
    "Wovor mir graut: dass ich es noch erlebe, dass die aparten Hosenrollen von Mozart und Strauss irgendwann von Counertenören gesungen werden".


    Da hattest Du ja unschätzbares Glück, mich - wenngleich kein "Couner" o.ä. - als Cherubino verpasst zu haben!!

    Krenek ist sicherlich kein weniger bedeutender Opernkomponist als Hindemith oder Weill. Wenn er nur mit einem Werk vertreten sein soll, dann ist der seinerzeit zwar erfolgreiche, musikalisch aber relativ schwache "Jonny" nicht die erste Wahl. "Karl V." dürfte nicht nur die erste dodekaphone Oper darstellen, sondern ist auch hinsichtlich der musikalischen Textur und der Dramaturgie wesentlich überzeugender.


    Die Örffe mag ich zwar, kann mir aber jenseits persönlicher Vorlieben nicht vorstellen, dass beide zu den 25 bedeutendsten Opern der letzten neunzig Jahre zählen. "Die Kluge" ist m.E. etwas stringenter, für den "Mond" spräche die zeitliche Priorität. Zum Egk vermag ich nichts sagen, bin schon mit Grieg überfordert...

    Zitat von dr. pingel

    Richter mit Bach und Leppard mit Cavalli sind wirklich überholt.

    Zitat von Joseph II.

    Man kann doch nicht leugnen, dass man damit quasi der Bach-Rezeption 50er bis 70er Jahre die Existenzberechtigung abspricht.

    Steht Richter derartig repräsentativ für die Bach-Interpretation des fraglichen Zeitraumes? Harnoncourts Passionseinspielungen erschienen bereits ab Mitte der 60er Jahre und HIP-Ansätze finden sich in Mitteleuropa ab den 50ern. Selbst transatlantisch war man bereits in den 50er-Jahren schon weiter: Robert Shaw hat nicht nur den besseren Chor als Richter. Und Dauer-Skandieren war auch damals nicht vorgeschrieben.



    Zitat von Joseph II.

    Dieser Mann hat wohl mehr für Bach getan als viele andere, die heute als Bach-Koryphäen gelten.

    Da bin ich mir nicht sicher. Der oben mit Richter gleichgesetzte Leppard hat immerhin viel neues Repertoire erschlossen und auch wertvolle philologische Editionsarbeit geleistet. Da hätte Richter wenigstens Bachs Kantoratsvorgänger Knüpfer, Schelle oder Kuhnau einspielen müssen o.ä. Der Verdienst Richters besteht wohl v.a. darin, dass in manchem Münchner Haushalt Bach stand, wo andernfalls vielleicht Beethoven gestanden hätte....



    Zitat von Glockenton

    Richters Verdienst ist es, dass er mir als Kind den Bach sehr nahegebracht hat.

    Es gibt wohl viele Hörer mit biographisch bedingter Bindung. Da ich sehr unmittelbar mit HIP, PI (und wie diese ganzen IT-Kürzel auch heissen...) aufgewachsen bin, war die Begegnung mit Richter von sehr exotischem Reiz. So betrachtet kann auch die bekannte Kantate "Ein fette Burg ist unser Bach" lohnend sein, ebenso Fischer-Dieskaus Lortzing-Kantaten.



    Zitat von Glockenton

    Es gibt einen Bereich, bei dem ich ihn wirklich zunehmend schätzen lerne, und das ist die Registrierung bei Bachs Orgelwerken. {...] Richter hingegen registrierte nach meinem Geschmack sehr farben-und einfallsreich.

    Daher gefällt mir Richters Spiel auch besser als das Walchas oder anderer Zeitgenossen.



    Zitat von Glockenton

    Ich finde, dass man heute, meistens zu schreiend und nervig/eintönig registriert. Das hat auch mit dem Studium von alten Quellen zu tun, in denen man fand, dass man z.B. eine Fuge oder eine Passacaglia im vollen Plenum durchzuspielen habe. [...]Wenn man also ( meint!) historisch herausgefunden zu haben, dass man die Passacaglia von Bach von vorne bis hinten im vollen Plenum durchzuorgeln habe, dann heißt das für mich noch lange nicht, dass man es auch so machen muss, wenn es doch einfach nicht überzeugend wirkt und anstrengend klingt.

    Einerseits lässt ja auch der Begriff "volles Plenum" Spielraum, andererseits klingt eine Thüringische Dorforgel des 18. Jahrhunderts (von Schröter oder Volckland etwa) auch dann nicht anstrengend, wenn man quasi "alle Register zieht". Ausserdem bieten sich artikulatorische Differenzierungsmöglichkeiten, die Richter natürlich weniger nützt. Jedenfalls ist Richter auf seine Weise überzeugend. Bezeichnend, dass es bei ihm nur wenig auffällige Unterschiede gibt zwischen romantischen oder modernen Orgeln und Instrumenten von Silbermann oder Riepp, obgleich diese recht französisch und zungenlastig disponiert sind (protoromantische Instrumente wie jene von Trost oder Gabler waren damals vielleicht nicht in einem brauchbaren Zustand?).

    Zwar fände ich eine Debatte über die Musik lohnender, aber wenn Herr Kammersänger Bernd Weikl sich schon die Ehre gibt (und ich in einem anderen Thread den Beckmesser):



    "Wagner schreibt in seiner Partitur: Ort: Nürnberg. Zeit: 15. Jahrhundert, da gab es keine Juden, denen man die Position eines Stadtschreibers überantwortet hätte. Beckmesser kann also auf keinen Fall Jude sein."


    Im Lohengrin kennzeichnet Wagner Heinrich als deutschen König. Nun konnte ein rex des 10. Jahrhunderts ebensowenig deutscher König sein wie ein reichsstädtischer Schreiber des 16. [!] Jahrhunderts Jude.




    "Auch war Hanslick kein Jude, für den er die Oper auch gar nicht konzipiert hatte."


    Für Wagner war Hanslick ebensosehr Jude wie Mendelssohn, da für ihn nicht die konfessionelle Zugehörigkeit zählte, sondern die Abstammung (auch bei Hanslick genealogisch "korrekt"...).




    "Dann liest man in Wagners Regieanweisung: „Beckmesser verliert sich in der Menge“. "


    Bernd Weikl liest das Libretto mehrfach anders als es da steht. Dies gäbe besten Anlass für eine obsessive RT - Debatte - innerhalb - der - RT - Debatte, bitte nicht versäumen !!!

    Zitat von Bertarido:


    Wir haben übrigens noch 80 Opern in der Liste, die wir nach unserem selbst gesteckten Ziel auf 50 reduzieren müssen.


    ***


    Ist mir etwas entgangen? Die ursprünglichen Proportionen waren mit 25 - 100 - 25 taxiert, jetzt sind wir plötzlich bei 25 - 124 - 50 ? Ein Kanon lebt doch ganz wesentlich von den Relationen. Nun ist der Anteil 19. Jahrhunderts i.w.S. um ein Viertel erweitert, jener der Moderne sogar verdoppelt. Damit sinkt der Anteil des Barocks, welcher ohnehin unter Wert gehandelt wurde und der chronologisch betrachtet mehr als ein Drittel der Operngeschichte einnimmt (und zwar das wichtigste Drittel), auf ein Achtel ! Vereinbar mit den Kriterien dieses Thread ist die Wertigkeit dann nicht mehr.


    Zudem sind eigentlich alle Nominierungslisten obsolet, da sie ja das vorgegebene Limit und die damit einhergehenden Proportionen berücksichtigen mussten - abgesehen davon, dass auch die Mitgliederbeteiligung eine andere gewesen wäre. Ein Erweiterung des Moderne-Anteils käme mir durchaus entgegen, nur kann ich kaum zu einem sinnvollen Plädoyer für ein neues Werk, dessen opernhistorische Bedeutung erst bedingt absehbar ist, gelangen, wenn mediokre Werke einer bestimmten Zeit aufgenommen werden, absolute Schlüsselwerke der Operngeschichte aus anderen Epochen aber fehlen. Was mache ich mit "Nationalopern" des 20. Jahrhunderts, wenn Borodins Igor (ein retrospektives, doch wohl wesentlich auf Glinka und Mussorgsky basierendes Werk, dass erhebliche Längen aufweist, selbst wenn vermutlich keiner der Thredautoren das Werk annähernd vollständig gemäß der Überlieferungssituation gehört haben dürfte) mit 10 Nominierungen als gesetzt gilt, während etwa Fomin fehlt? Wie bewerte ich formale Innovationen aus der Zeit um 1970, wenn bei jenem Zeitabschnitt, in der die Oper ihre eigentliche Gestalt erhielt (sagen wir: etwa 1610-1640), einfach ein kanonisches Loch klafft ?


    Ein anders gelagertes Beispiel: mit 13 Kanonisierungen gilt Verdi ebensoviel wie die gesamte italienische Barockoper (die fraglichen Komponisten nichtitalienischer Herkunft eingeschlossen). Letztere ist immerhin das absolute musikalische Leitgenre ihrer Zeit, welches nicht nur die Gattung an sich kreiert und das Opernschaffen aller europäischen Nationen prägt, sondern auch massive Einwirkungen auf Entwicklung der Instrumental- und Sakralmusik zeitigt, während Verdis Schaffenszeit mit einem erheblichen Bedeutungsverlust der italienischen Oper einhergeht. Auch darin würde ich unausgewogene Proportionen erblicken und bin nicht überzeugt, dass dem Thread, nach dem Abschied mehrerer Mitautoren ohnehin fragmentarisiert, durch mehrfache einseitige Expansion geholfen ist.

    Munch [...] hatte also einen sehr starken deutsch geprägten Bezug.


    Nobel formuliert. Die Deutschen verzichten ja ohnehin ganz gerne (siehe Copernicus etc... :D ). Im renommiertesten Musiklexion der Welt wird Munch auch unumwunden als Franzose kategorisiert (ebenso natürlich im französischen Wikipedia). Die Nationalitätszuordnungen des New Grove sind freilich ein eigenes - kurioses - Kapitel. Da Carl Münch allerdings als deutscher Staatsbürger geboren wurde, und dies in eine- sozialhistorisch gesehen - typisch deutsche Musikerfamilie hinein; da er zudem seine ersten beruflichen Schritte in Deutschland absolvierte, darf er durchaus auch als Deutscher gelten - als die fraglichen Brahms-Aufnahmen entstanden, war er dies freilich längst nicht mehr.


    Immerhin liegen neben der 1ten, 2ten und 4ten beide Klavierkonzerte vor. Allerdings soll es zumindest gerüchteweise so gewesen sein, dass Munch wohl gerne überhaupt mehr deutsches Repertoire aufgenommen hätte, sein Plattenlabel RCA Victor ihn jedoch lieber in der französischen "Ecke" gesehen hat.


    Etliches Repertoire dieser Art konnte er ja letzlich doch aufnehmen. Doch fanden diese Einspielungen gerade im deutschsprachigen Raum wohl nicht viele Käufer - selbst das berühmteste Beispiel, Beethovens 9., scheint erst verspätet die gebührende Aufmerksamkeit erhalten zu haben - nicht zuletzt wohl dank der Living-Stereo-Sammler?

    Für mich drängt sich hier der Eindruck auf, Brahms wollte gerade in seiner ersten Sinfonie sehr viel erreichen, an Beethoven anknüpfen, hatte wohl sehr hohe Ambitionen, welche auf mich dann leider auch stellenweise etwas angestrengt wirken, das Gefühl um einen großen Pathos bemüht zu sein, der aber teilweise wie aufgesetzt wirkt.


    Empfinde ich ähnlich, daher sind mir die 3. und 4. Sinfonie näher. JR's Beitrag 51 vermag ich weitgehend zu folgen, doch scheinen mir die dritten Sätze der beiden letzten Sinfonien nicht gar so problematisch. Beim F-Dur-Werk leidet der entsprechende Satz interpretationsbedingt : in der Regel wird er zu langsam genommen, zudem die Hauptsimme überbetont. Dem "giocoso" der e-moll-Sinfonie wohnt eine der Dramturgie des Werkes durchaus entsprechende "para-mahler'sche Wurschtigkeit" inne.



    Auch mir geht es so, dass ich Aufnahmen teilweise wegen der Orchester (und weniger aufgrund der Dirigenten) erwerbe, denn egal, was ein Dirigent damit anstellt: ein Spitzen-Instrument bleibt ein Spitzen-Instrument.


    Brahms erfordert viel Mikro-Management, daher erscheint mir der Dirigent hier besonders relevant. Müsste ich ein oder zwei Dutzend GA's auswählen, es musizierten überwiegend "Zweitligaorchester" und kaum Stardirigenten - die scheinen oft mehr mit sich selbst beschäftigt als mit Brahms. Auf die Berliner Philharmoniker mit Karajan, Abbado oder Rattle kann ich getrost verzichten (Abbados überzeugendere erste DG-Gesamtaufnahme erschien bezeichnenderweise, als er erst auf dem Weg zum "Top-Star" war). Ein musikalischer Sinn der neuen Nelsons-Einspielung erschliesst sich mir ebenfalls nicht.



    Kempe ist nicht der Mann mit den ganz grossen Emotionen, aber er liefert ein sehr hörenswerten Brahms mit feinen Dynamikabstufungen und mit Kraft, wo es angebracht ist. Fein ausgewogene und präzise langsame Sätze im angemessenen und nie zu lahmen Zeitmass. Das sind gut geprobte Studioaufnahmen von einem der grossen Alten, die auch von der orchstralen Spielkultur wirklich ausgezeichent gelungen sind.


    Schön, dass teleton hier angemessen warme Worte für eine Interpretation findet, die doch wenig Wumms hat. Aus meiner Sicht die idiomatischte aller Gesamtaufnahmen, sorgfältig balanciert und mit Hingabe musiziert. In der älteren GA furtwänglert der Dirigent noch ab und an, erst in den späteren Jahren scheint Kempe ganz zu sich selbst zu finden (wie Brahms in seinen Sinfonien...).



    Da ich in Sachen Brahms-Sinfonien mehr als ausreichend bestückt bin (und die Kempe-GA zudem noch auf LP besitze) kann ich guten Gewissens bis zu einer IMHO ansprechenderen Aufarbeitung warten.


    Die Scribendum- Veröffentlichung klingt jedenfalls besser als die älteren Membran. Übrigens klangen mir die Münchner Philharmoniker - die in den 70ern wohl nicht als Spitzenensemble galten - hinsichtlich des Zusammenspiels mitunter doch zu provinziell. Bis ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die BASF-Ingeniere für eine Kanal-Asynchronisation gesorgt hatten. Eine "ansprechende Aufarbeitung" müsste diesen Punkt korrigieren. Vielleicht gelang dies der japanischen (JVC) Ausgabe, die ich nicht kenne?


    Unter den kammermusikalischen Ansätzen bietet Marcus Bosch mit dem Aachener Sinfonieorchster die lebendigste Version, wenngleich sie ähnlich wie Berglund unter einer halligen Akustik leidet. Mackerras' Orientierung nach Meiningen wirkt manchmal zu gewollt. Da sowohl Norrington mit den LCP als auch Gardiner einige (mitunter entgegengesetzte) Probleme haben, warte ich noch auf eine gelungene opi-Variante.


    Straight und energisch ist die Auffassung von Francesco d'Avalos, der auf etliche eingefahrene interpretatorische Wendungen verzichtet, auch wenn er selbst nicht ganz frei von Idiosynkrasie ist. Sollte übrigens teleton-geeignet sein...


    Erfreulich aufmerksam gegenüber den Partituren sind Hans Swarowsky (wenn er es denn überhaupt ist...) mit einem ad-hoc-Billigorchester, Stanislaw Skrowaczewski in Manchester und Gustav Kuhn mit dem Ensemble aus Bozen/Trient. Der Preis allerdings eine gewisse Schwerfälligkeit, die so oft als brahmsisch gilt. Dass es mit Partiturtreue allein auch nicht getan ist, belegen übrigens Haitink und Suitner.


    Überzeugende Momente haben auch Steinberg und Janowski (beide in PA), ebenso wie Kondraschin. Aufschlussreich sind auch die brahmsnahen Vorkriegs- (oder Vor-Nachkriegs...)aufnahmen von Abendroth, Fiedler oder Walter - die einzige Gesamtaufanhme dieser Kategorie "Monoschrott" stammt aber wohl von Weingartner.