Franz Liszt und seine Lieder

  • Wir haben (noch) ein Liszt-Jahr. Am zweiundzwanzigsten Oktober jährte sich sein Geburtstag zum zweihundertsten Mal. Liszt war eine bedeutende Gestalt des kulturellen Lebens seiner Zeit. Ein Buch, das gerade über ihn erschienen ist, trägt den Untertitel „Biographie eines Superstars“. Alfred Brendel hat mehrfach auf die Bedeutung seines Klavierwerkes aufmerksam gemacht.


    Von dem – nicht unwesentlich von dem Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick geprägten – Bild des narzisstischen, dandyhaften Klaviervirtuosen, der nichts weiter als „Lisztomanie“ (Heine) hervorzubringen vermochte, ist man heute weit weg. Dass Liszt einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der klassischen Musik geleistet hat, ist unbestreitbar.


    Aber war er auch ein großer Liedkomponist?


    Liszt hat über achtzig Lieder hinterlassen. Größtenteils liegen ihnen Texte deutschsprachiger Autoren zugrunde: Schiller, Goethe, Rückert, Heine, Hebbel u.a. Aber er hat auch zu fremdsprachiger Lyrik gegriffen: Victor Hugo, Alfred de Musset, Petrarca, Tennyson, Petöfi u.a.


    Und hier nun wird eine Eigenart dieses Komponisten sichtbar. Liszt war ein Bewunderer Schuberts und ein intimer Kenner des Schumannschen Liedwerkes. Aber er selbst steht als Liedkomponist nicht in der historischen Entwicklungslinie, die sich von Schubert über Schumann bis weit ins 19. Jahrhundert hinein spannt.


    Ganz sicher hat das damit zu tun, dass er sich selbst als Komponist in einen europäischen Rahmen gestellt und eingeordnet sah. Es ist aber auch darauf zurückzuführen, dass er seine Lieder kompositorisch gleichsam vom Klavier her entwarf. Die melodische Linie der Singstimme ist bei ihm a priori Teil des Klaviersatzes und entfaltet sich aus diesem.


    Das heißt nun aber nicht, dass sie nicht eigenständig sei und nicht zu genuinem Ausdruck fähig. Das ist sie durchaus. Aber sie ist in der Regel auf die große stimmliche Entfaltung hin konzipiert. Das im Grunde hausmusikalisch Intime der Melodik eines Schubert- oder Schumannliedes ist ihr nicht eigen.


    Dieser Thread wird die Frage nach der Bedeutung Liszts als Liedkomponist nicht klären können. Das soll auch gar nicht seine Bestimmung sein. Es geht vielmehr darum, durch einfache Wiedergabe des Höreindrucks ein Bild davon zu vermitteln, wie diese Lieder klingen. Vielleicht geht damit ja auch ein Urteil einher. Es muss freilich in gar keiner Wiese liedanalytisch gestützt sein, sondern kann ganz und gar im subjektiven Eindruck wurzeln.

  • Lieber Helmut,
    dieser Thread könnte daran scheitern, daß nur einige das Liedschaffen Liszts kennen, oder im Idealfal sogar im heimischen Archiv stehen haben. Zumindest ich gestehe schamvoll, daß ich bis vor wenigen Minuten kein einziges Liszt-Lied kannte. Das hat viel mit Erwartungshaltung zu tun - und mit Vorurteilen.
    Ein kurzer Blick zu unserem Werbepartner belehrte mich, daß doch eine relativ umfangreiche Auswahl von Liszts Liedern zur Verfügung steht. Ein kurzes Hineinhören zeigte mit teilweise einen völlig anderen Liszt, als den den ich bisher kannte. Er vermag sehr filigrane, intime Lieder zu komponieren, durchaus dem Text angemessen, ebenso, wie sehr eigenständige bis eigenwillige Lieder. Die Vorspiele sind in der Regel so lang, daß man oft mit den Soundschnippseln von jpc gar nicht zu den ersten gesungenen Tönen vordringen kann. Dort, wo es mir aber möglich war, fand ich durchaus Hörenswertes und Interessantes. Um mich an diesem Thread zumindest ein wenig beteiligen zu können, werde ich bei meinem nächsten CD-Einkauf Liszt-Lieder mit einbinden. Das wird aber vermutlich frühestens in 2 Wochen der Fall sein....


    Zitat

    Das im Grunde hausmusikalisch Intime der Melodik eines Schubert- oder Schumannliedes ist ihr nicht eigen.


    Da hab ich vermutlich in ein paar "Aussenseiter-CDs" hineingehört - denn gerade das Gegenteil war mein subjektiver Eindruck



    Zitat

    Dieser Thread wird die Frage nach der Bedeutung Liszts als Liedkomponist nicht klären können.


    Vermutlich nicht - Aber er wird vielleicht ein wenig Interesse wecken können . (Ich bin hier ein gutes Beispiel)
    Und somit wird seine Bedeutung auf diesem Gebiet zumindest steigen......


    mit viel Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • dieser Thread könnte daran scheitern, daß nur Enige das Liedachffen Liszts kennen, oder im Idealfal sogar im heinischen Archiv stehen haben. Zumindest ich geschtehe schamvoll, daß ich bis vor wenigen Minuten kein einziges Liszt-Lied kannte. Das hat viel mit Erwartungshaltung zu tun - und mit Vorurteilen.


    Kann man wirklich sagen, dass Liszts Lieder nur bei wenigen Musikfreunden bekannt sind? Ich denke, dass allein die hinreissenden Aufnahmen, die Margret Price und Brigitte Fassbaender eingespielt haben, unter Freunden des Liedes und des Liedgesanges zu den Aufnahmen gehören, die im Allerheiligsten stehen!
    Und wenn jetzt die CD von Diana Damrau mit Liedern von Liszt rauskommt, dürfte sich das Interesse schnell weiter steigern.


    ABER: Bei allem gebotenen Respekt, lieber Alfred Schmidt, Beiträge in denen schon in den ersten beiden Zeilen so viele Tippfehler sind, wie in Deiner Antwort auf Helmut Hofmann, vertreiben auch die Interessierten aus einem Thread. Das Lesen ist einfach zu mühsam! Manchmal wäre es besser, weniger aber langsam und gut lesbar zu schreiben. Oder?


    Nichts für ungut!


    Dem Thread wünsche ich ein guten Start. Ich werde mich sicher einschalten, habe aber im Augenblick wenig Zeit.
    Wenn ich zumindest einen Teil meine verschiedenen Aufnahmen noch mal durchgehört habe, fallen mir vielleicht ein paar Punkte ein, mit denen ich zur Beantwortung Deiner anregenden Frage, lieber Helmut, beitragen könnte...


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Wenn Du sagst, lieber Alfred: "Dieser Thread könnte daran scheitern, daß nur Enige das Liedschaffen Liszts kennen, ..."


    ...dann weist Du mich auf einen Sachverhalt hin, der mir bewusst war, als ich diesen Thread hier startete. Ich meinte einfach, dass man auf die Tatsache, dass allüberall im Konzertleben, im Rundfunk und in der Presse auf Liszt eingegangen wird, auch hier im Forum reagieren sollte, - wenigstens in tastenden Versuchen der Annäherung an diesen Komponisten. Hier am Beispiel seiner Lieder.


    Ich selbst bin keineswegs ein Kenner des Liedwerks von Liszt. Mein Verhältnis zu diesem ist im übrigen durchaus ambivalent. Das möchte ich aber nicht im Vorgriff näher ausführen, sondern ganz einfach ein paar Lieder vorstellen, - in der Hoffnung, dass man vielleicht hier im Forum Gefallen daran findet.


    Das Problem dabei ist für mich: Ich möchte auf keinen Fall eine liedanalytische Betrachtung vorlegen, sondern einfach nur den Klangeindruck beschreiben. Das aber ist bei Liszt eine ziemlich schwierige Angelegenheit. Man möge mir bitte nachsehen, wenn ich daran scheitere.


    Wenn Du sagst, dass Du beim ersten "Hineinhören" in die Lieder Liszts einen anderen Eindruck gewannst, als ich ihn in einer gleichsam pauschalen Charakterisierung hier artikulierte, dann wundert mich das gar nicht. Solche Lieder, wie Du sie andeutungsweise beschreibst, gibt es von Liszt auch. Es sind aber nicht seine wirklich "großen" und für seine Kompositionsweise typischen.


    Mir wäre übrigens schon sehr geholfen, wenn freundliche und hilfreiche Taminoaner/innen die Aufnahmen von Liszt-Liedern, die sie in ihren Sammlungen haben, hier abbilden würden, damit man sieht, was es zur Zeit "auf dem Markt" gibt. Ich kann so etwas nämlich leider nicht. (Bitte nicht lachen!)


  • Leider sind da nicht alle ihre Aufnahmen von Liszt-Liedern drauf.



    Und: entschieden das Beste, was ich bisher an Aufnahmen von LisztLiedern gehört habe sind die Aufnahmen von Margret Price und Cyprien Katsaris.
    Die damalige Edition von Telefunken wird in USA auf dem Markt zu horrenden Preisen gehandelt. Vielleicht kommt sie ja mal wieder raus. Wäre toll!



    Nur mässig empfehlendswert finde ich:



    Auch keine wirkliche Freude sind die Aufnahmen von




    Leider wohl gegenwärtig nicht im Handel die Aufnahmen von Brigitte Fassbaender!
    Schade, die bringen geradezu exemplarisch, was Helmut angedeutet hat!




    Auch nicht mehr im Handel ist die Sammlung, die Fischer-Dieskau mit Barenboim 1981 gemacht hat.
    Es war eine Box mit 3CDs.
    Wer sie heute besorgen will, muss schon ganz schön in die Tasche greifen. Aber es gibt eigentlich keine Alternative!





    Ein paar Liszt-Lieder sind auch auf:




    Sehr lohnend ist die HUNGAROTON-Sammlung mit Liedern in der Orchetserfassung:




    Noch nicht gehört habe ich




    Und gerade erscheint:

    Man darf gespannt sein!


    Caruso 41

    ;) - ;) - ;)


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  • Vielen Dank, lieber Caruso41, für diesen informativen Überblick!


    Ich möchte, in Ergänzung dazu, nicht versäumen, auf die Lp-Kassette mit Liszt-Liedern hinzuweisen, die von der DG 1981 vorgelegt wurde. Die Interpreten sind D. Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim. Alle wichtigen Lieder Liszts (über vierzig) kann man hier hören, - großartig interpretiert. Nicht nur durch Fischer-Dieskau, sondern auch durch Barenboim! Bei Liszt ist - ich weiß: dummer Hinweis! - der Pianist bei der Qualität der Liedinterpretation ein ganz besonders wichtiger Faktor.


    Ferner gibt es noch eine CD mit Liszt-Liedern von Ruth Ziesak und Gerod Huber, erschienen 2008 bei Berlin Classics , - und, ebenfalls empfehlenswert:


    "Franz Liszt, Voll Freud und Leid". Ausgewählte Lieder, interpretiert von Hans Jörg Mammel und Hilko Dumno. Erschienen 2011 bei Carus.

  • Jetzt habe ich doch tatsächlich eine ganz wichtige Edition vergessen:


    Franz Liszt
    Intégrale des Mélodies pour Ténor
    Bruce Brewer, Tènor
    Francois-Joel Thiollier, Piano
    3 CDc - THESIS THC 82007
    Leider kann ich nicht das Cover im Internet finden.
    Ich kann natürlich meines einscannen, aber ich wüsste nicht, wie ich es dann hier in den Beitrag integrieren kann. Geht das?




    Auf jeden Fall: Hier sind 46 Lieder eingesungen - von einem Tenor, der sehr geschmackvoll und mit Diskretion singt.
    Die Stimme ist im Piano sehr angenehm wird aber im Forte leicht unangenehm dünn. Und die Höhe, die Liszt schon öfter mal fordert, klingt auch arg eng und fast gekräht.
    Wenn man so will: ein tenor in der John-Aler-Klasse.
    Das Hauptproblem ist allerdings, dass der Mann so hartnäckig diskret bleibt. Da fehlt einfach die Exuberanz, ohne die die Lieder nicht rüber kommen!


    Trotzdem: viele der Lieder gibt es sonst gar nicht oder nur vom Bariton gesungen, was leider Transpositionen erfordert, die das für Liszt ja oft so wichtige Gefüge der Tonartendramaturgie ruinieren!




    Weiss jemand, ob es die Sammlung noch wo gibt? Vielleicht in Frankreich?




    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Dieser Thread hat mich erst einmal dazu gebracht, zu überprüfen, welche Liszt-Lieder-Einspielungen ich überhaupt besitze. Das zeigt schon, dass ich in dieser Thematik kaum firm bin. Ich hatte keinen Liszt-Lied-Klang im Ohr, anders als bei Schubert, Schumann oder Brahms, wo mir sofort entsprechende Beispiele durch den Kopf gehen (auch wenn ich insgesamt kein großer Kunstliedkenner bin).


    Die Durchforstung meiner Sammlung ergab nicht viel, und auch das waren eher Zufallserwerbungen:



    Die Polenzani/Drake-Aufnahme von HYPERION fiel mir bei einem Reste-Abverkauf extrem verbilligt bei '2**1' in die Hände, die Liszt-Collection der DGG, die insgesamt 34 CD's enthält, habe ich natürlich nicht der Lieder wegen gekauft (warum eigentlich überhaupt? Kaufrausch????), diese Box enthält aber fünf CD's mit Liedern in Aufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim, mit Hildegard Behrens und Cord Garben und mit Brigitte Fassbaender und den Begleitern Jean-Yves Thibaubet und Irwin Gage. Naja, und die Quasthoff-CD habe ich ehrlich gesagt mal geschenkt bekommen.


    Bei mir läuft nun die Einspielung von Matthew Polenzani (Tenor) und Julius Drake (Klavier) vom Februar 2010. Sie ist mit Volume 1 und der Bemerkung 'The complete songs' gekennzeichnet; da ist von HYPERION im Liszt-Lied-Bereich wohl noch etwas zu erwarten. Ich bin gerade bei den drei 'Liedern aus Schillers Wilhelm Tell' S292 (LW N32) angelangt, also dem mittleren von den dreien um genau zu sein ('Der Hirt').


    Grüße,


    Garaguly

  • Bei mir läuft nun die Einspielung von Matthew Polenzani (Tenor) und Julius Drake (Klavier) vom Februar 2010. Sie ist mit Volume 1 gekennzeichnet; da ist von HYPERION im Liszt-Lied-Bereich wohl noch etwas zu erwarten. Ich bin gerade bei den drei 'Liedern aus Schillers Wilhelm Tell' S292 (LW N32) angelangt, also dem mittleren von den dreien um genau zu sein ('Der Hirt').


    Grüße,


    Und?


    Wie gefällt Dir die Aufnahme? Würde mich ja auch interessieren - zumal wenn es sie günstig gäbe!
    Welchen Liszt-Lied-Klang hat Dir Mr. Polenzani ins Ohr geblasen?
    Ich habe Polenzani zweimal an der Met gehört: als Don Ottavio und als Alfredo Germont. Beide Partien hat er sehr kultiviert und schön gesungen - aber auch ein bisschen unpersönlich. Hat er denn Gestaltungsqualitäten als Liedersänger?



    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Lieber Caruso41,


    ich höre, genieße, habe aber noch kein Urteil parat. Ich habe mir für die nächsten Tage vorgenommen einzelne Lieder, die ich doppelt, aber in verschiedenen Interpretationen habe, im Vergleich zu hören. Dann mehr dazu. Doch Polenzanis Stimme gefällt mir gut. Nur habe ich eben noch keinen Liszt-Vergleich.



    Dieser Abverkauf bei '2**1', von dem ich sprach, hat im vergangenen Jahr stattgefunden und das waren Reste der Frankfurter Niederlassung. Aber Du kannst es ja mal in einem '2**1' in Deiner Nähe versuchen. Da finden sich gelegentlich die kuriosesten Reste.


    Grüße,


    Garaguly

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  • Ein wenig "fehl am Platze" komme ich mir vor, wenn ich den Gedankenaustausch über die verschiedenen Aufnahmen von Liedern Liszts und deren Interpreten hier verfolge. Die Frage "Welchen Liszt-Lied-Klang hat Dir Mr. Polenzani ins Ohr geblasen?" kommt mir in diesem Zusammenhang stilistisch irgendwie fremdartig vor. Ich habe dabei die Befürchtung, dass meine Liedbesprechungen hier ein wenig trocken wirken dürften. Zumal es außerordentlich schwierig ist, Musik - insbesondere die klangliche Wirkung eines Liedes - in Worten wiederzugeben.


    Sei´drum! Ich möchte es einfach mal wagen. Und das deshalb, weil ich mir - je länger ich mich mit Liszt-Liedern beschäftige, um so unsicherer werde, wie ich sie in ihrer Bedeutung einschätzen und beurteilen soll. Zwar liest man da und ort einiges zu dieser Frage, aber recht klare - und vor allem sachlich begründete! - Aussagen findet man nicht.


    Selbst aus der Perpektive des Komponisten selbst stellt sich ein unklares Bild ein. Einerseits meint man, dass das Schreiben von Liedern nur eine untergeordnete Bedeutung in seinem kompositorischen Schaffen hatte. Immerhin meint ein Liszt-Kenner ((Peter Raabe): Das Komponieren von Liedern sei "eine seltsam stille Tätigkeit Liszts" gewesen. und er ergänzt: "Liszt suchte eben leider nicht nach Liedtexten, sondern vertonte, was ihm zufällig in die Hand kam oder in die Hand gesteckt wurde." Und tatsächlich: Das bekannte Lied "Es muß ein Wunderbares sein" komponierte er zwischen zwei Mahlzeiten auf Wunsch einer Dame!


    Auf der anderen Seite aber muss er die Liedkomposition doch sehr ernst genommen haben. Erstens ist das daraus zu schließen, dass sie ihn während seines ganzen Komponistenlebens begleitete. Und zweitens macht stutzig, dass er viele Lieder immer wieder umgeschrieben und verbessert hat. Von einigen gibt es bis zu vier Fassungen!


    Worauf ich hinauswill: Man möge bitte das, was ich hier schreibe, als Versuch der Annäherung an den Liedkomponisten Liszt lesen. Ich betone: Versuch! Das schließt also jede Menge an Fehlgriffen, Fehlurteilen und Aussagen ein, die von subjektiven Voreinstellungen in Sachen Liedkomposition beeinflusst sind. Ich habe zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass ich in allen Fällen, bei denen Liszt Lieder auf Texte geschrieben hat, auf die sich Schubert oder Schumann bereits kompositorisch eingalssen haben, deren Lieder einfach nicht aus dem Kopf kriege und ganz unwillentlich als Maßstab heranziehe.


    Die Sache dürfte also schwierig werden!

  • Auf der anderen Seite aber muss er die Liedkomposition doch sehr ernst genommen haben.


    Aber Liszts Zeitgenossen haben sein Liedschaffen wohl nicht recht ernst genommen. Denn Liszt selber habe, so die Autorin des Begleittextes zur oben gezeigten Polenzani-CD, mit Bezug auf die Schwierigkeiten, die er damit hatte, Interpreten für seine Lieder zu finden, von "Meine[n] verwaisten Liedern" gesprochen.


    Grüße,


    Garaguly

  • Zu der Anmerkung von Garaguly:


    Das mit dem Ernst-Nehmen ist bei Liszt eine schwer zu beurteilende Sache. Es ist wohl so gewesen, dass die Liedkpomposition für ihn tatsächlich eine kompositorische "Nebensache" war, - allerdings eine, die er - auch als Nebensache - mit der gleichen Ernsthaftigkeit betrieb, wie er das bei all seinen anderen Werken hielt. Wenn er von seinen "verwaisten Liedern" sprach, so dürfte das nicht Ausdruck einer tiefen Bekümmernis gewesen sein.


    Liszt hat sich mit dem Problem des Zusammenhangs und des Ineinandergreifens von lyrischem Wort und Musik weniger am Beispiel des Liedes, als vielmehr mit Blick auf die symphonischen Werke beschäftigt. Hier - und nicht beim Lied! - entwickelte er das kompositorische Konzept einer "musikalischen Poesie". Wenn Wagner - in der Auseinandersetzung mit dem gleichen Problem - das "Musikdrama" als eine Art kompositorisches Leitprinzip entwarf, so war es bei Liszt die "Symphonische Dichtung" oder eine gleichsam die poetischen Gehalt umsetzende Kammermusik.


    Aber es war eben nicht das Lied!


    Und hier liegt ein wesentlicher Unterschied bei ihm etwa zu Schubert und Schumann. Und deshalb sprach ich in meiner Thread-Eröffnung davon, dass Liszt - aus meiner Sicht - als Liedkomponist nicht in deren unmittelbarer Nachfolge steht. Ich denke, dass ich das im Verlauf meiner Liedbesprechungen deutlich machen kann.

  • Vor mir liegt ein Notenblatt zu diesem Lied Liszts auf das Gedicht "Wanderers Nachtlied" von Goethe, dem sich so viele Liedkomponisten gewidmet haben. In den ersten sechs Takten der Einleitung stehen einfache Des-Dur-Akkorde im Wert von halben Noten. Was ich aber in meiner Aufnahme des Liedes höre, ist etwas völlig anderes: Über Klavierbässen erklingt im Diskant ein melodiöses Motiv, das sich in chromatischer Variation in einer nach oben gerichteten Bewegung entfaltet.


    Hier tritt schon eine Eigenart des Liedkomponisten Liszt zutage: An vielen seiner Lieder hat er lange gearbeitet und immer wieder Veränderungen vorgenommen. Dieses Lied hier entstand zum Beispiel 1843 während seines Aufenthalts auf der Insel Nonnenwerth (zusammen mit der Gräfin d´Agoult), erhielt aber seine letzte – dritte – Fassung erst 1860.


    Die melodische Linie der Singstimme setzt zunächst mit einer einfachen Bewegung ein, bei der jede Silbe einen Ton trägt. Bogenförmig ist sie, und sie erreicht jeweils auf den Silben „Him“ („-mel“) und „Schmer“ („-zen“) ihren Höhepunkt. Bei dem Vers „Den, der doppelt elend ist“ steigt sie in größere Höhen auf, tastet sich dann in Sekundschritten zu ihrem Gipfel auf dem Wort „Erquickung“ vor und verharrt dann, eine große Sekunde tiefer, auf dem Wort „füllest“.


    Danach folgt ein Klavierzwischenspiel – ein kompositorisches Element, das zum Grundrepertoire von Liszts Liedern gehört. In diesem Fall wiederholt es die melodische Linie der Singstimme. Danach kommt dramatische Bewegung in diese, einsetzend mit dem Vers „Ach, ich bin des Treibens müde“. In rasch aufeinanderfolgenden Tonschritten geht es hinauf zu dem Wort „müde“, und die Tonart wechselt dabei von As-Dur und h-Moll hinüber zu a-Moll“.


    Auch das „Was soll all der Schmerz und Lust“ wird rasch, in fast flüchtigem Gestus deklamiert. Aber dabei bleibt es nicht. Diese beiden Verse werden wiederholt, - dieses Mal aber in aufsteigender melodischer Linie und in noch gesteigerter Akzentuierung im Sinne eines drängenden Fragens. Die Worte „all der Schmerz und Lust“ klingen sogar dreimal auf, wie in einer Art melodischem Taumel, wobei das Klavier das Ganze mit einem aufsteigenden Wirbel aus Sechzehntel-Figuren im Diskant untermalt. Erst beim dritten „Lust“ kommt die melodische Bewegung in einem abwärts gerichteten Lauf in tiefer Lage zur Ruhe.


    Mit einem kurzen Vorspiel, bei dem das Motiv der Einleitung aufklingt, werden die Worte „Süßer Friede“ mit ruhigen melodischen Schritten gesungen, wieder zwei Mal, wobei beim zweiten Mal das Wort „Friede“ in hoher Lage erklingt und mit einem Abwärtsbogen in langer Dehnung versehen ist.


    Nach einem neuerlichen Zwischenspiel mit dem Motiv der Einleitung setzt die Vokallinie mit der Wiederholung des Verses „Süßer Friede…“ ein. Und erneut erklingt in flehendem Ton und in Wiederholung das „Komm, ach komm“. In emphatischer Aufwärtsbewegung hinauf zum höchsten Ton des ganzen Liedes wir dann das „in meine Brust“ gesungen.


    Und noch einmal, nach einem Klavierzwischenspiel, setzt die Singstimme mit den Worten „Süßer Friede…“ ein. Und auch das „Komm, ach komm“ wird erneut zwei Mal wiederholt, in eindrucksvoll beschwörendem Ton. Bei „in meine Brust“ fällt danach die melodische Linie tief ab. Zwei Mal wird das wiederholt, jeweils in der gleichen langsamen melodischen Abwärtsbewegung. Erst dann findet das alles seine Ruhe. In tiefer Lage und in Form einer ganzen, den Takt ausfüllenden Note. Es ist aber nicht die Tonika, sondern die Quinte.


    MEIN EINDRUCK
    Ist das große Liedkomposition? Ich bin unschlüssig. Schuberts geniale Schlichtheit der musikalischen Faktur drängt sich mir wie ein letztendlicher Maßstab auf. So einfach dieses Lied von Liszt mit der melodischen Linie und dem zugehörigen Klaviersatz beginnt, - in seinem weiteren Verlauf entwickelt es sich zu einem hochkomplexen Gebilde, bei dem vor allem die vielfachen Wiederholungen von Teilen des lyrischen Textes maßgeblichen Beitrag zur Komplexität leisten.


    Ob das der so großartigen sprachlichen Einfachheit des lyrischen Wortes von Goethe gerecht wird? Ich habe Zweifel. Ich gestehe es.


    Aber darf der sprachlich-lyrische Ton der Textvorlage Maßstab für die kompositorische Qualität des Liedes sein, das aus ihm entstand?

  • Es ist mir wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass meine Beiträge hier als eine Art Dokumentation einer schrittweisen Annäherung an das Liedwerk von Franz Liszt zu lesen sind. Dieser Thread ist nicht aus der Situation einer wahren Kennerschaft desselben hier gestartet worden.


    Eben bemerke ich zum Beispiel, dass die Fassung des Liedes "Der du von dem Himmel bist", die ich hier besprochen habe, keineswegs die von 1860 ist. Es ist die von 1856. Da die Verlage, die Liedaufnahmen in Form von CDs herausgeben, es nicht für nötig erachten, editorische Grundprinzipien zu beachten, bekommt unereiner oft nicht mit, was er da gerade hört.


    Alles, was ich zu diesem Lied hier sagte, ist also mit Vorbehalt zu nehmen. Das betrifft besonders meinen kritischen Kommentar unter dem Titel "Mein Eindruck". Ich deute jetzt schon einmal an, dass er Liszt in keiner Weise gerecht wird. Die letzte Fassung dieses Liedes, auf die ich eben gerade gestoßen bin, klingt völlig anders. Dazu werde ich noch Stellung nehmen.


    Wie gesagt: Ich taste mich hörend und nachdenkend an Liszt heran. Und ich werde vieles von mir geben, das falsch ist und später korrigiert werden muss.

  • Als ich das Lied „Der du von dem Himmel bist“ in der hier besprochenen Fassung zum ersten Mal hörte, stellte ich mir wie zwangsläufig die Frage, ob die Komplexität der musikalischen Faktur der fast schon lapidaren Schlichtheit von Goethes lyrischer Sprache gerecht wird. Und das wurde für mich mehr und mehr zu einem Grundproblem von Liszts Liedschaffen, je länger ich mich mit diesem beschäftigte.


    Das gilt aber, und das muss unbedingt hinzugefügt werden, nur für die frühe und mittlere Phase seiner Liedkomposition. Es gibt hier, wie ich das auch von Liszts Klavier-Komposition kenne, ebenfalls einen „Altersstil“, der sich durch eine ausgesprochene klanglich-strukturelle Askese, ja Sperrigkeit auszeichnet, - bis hin zum Beinahe-Verstummen. Liszt ist eine überaus fesselnde kompositorische Persönlichkeit!


    Insbesondere macht mir das von Liszt häufig eingesetzte kompositorische Mittel der Wiederholung zu schaffen, - wobei angemerkt werden muss, dass es sich in vielen Liedern dabei häufig um Mehrfachwiederholungen handelt. Die melodische Linie, die in dem gerade hier besprochenen Lied auf der ersten Strophe liegt, ist zweifellos von bestechender Schönheit. Und auch dem Geist der zweiten Strophe wird Liszt mit einer deutlichen Steigerung der inneren Bewegtheit der melodischen Linie sehr wohl gerecht. Warum dann aber diese wie nicht enden wollenden Wiederholungen?


    Ich versuche sie mal hier darzustellen, wissend, dass dieses in der Ablösung vom musikalischen Körper natürlich problematisch ist. Zweimal werden die beiden ersten Verse der zweiten Strophe wiederholt, wobei „aller der Schmerz und Lust“ bei der Wiederholung des Verses insgesamt drei Mal erklingt. Die beiden letzten Verse des Gedichts tauchen in Liszts Lied in folgender sprachlichen Gestalt auf:


    Süßer Friede / Süßer Friede / komm, ach komm in meine Brust / süßer Friede / komm, ach komm / komm, ach komm in meine Brust / süßer Friede / ach komm in meine Brust / ach komm in meine Brust / komm in meine Brust / in meine Brust.“


    Es kann eigentlich keine Frage sein: Liszt hat mit dieser Komposition Goethes Gedicht gründlich missverstanden. Eine derartig hochgesteigerte, fast schon ins Dramatische reichende Emphase, wie sie bei den beiden letzten Versen sich ereignet, geht am Geist dieses lyrischen Textes völlig vorbei.


    Das lyrische Ich ist „des Treibens müde“, und es fragt sich, aus dieser tiefen existenziellen Müdigkeit heraus: „Was soll all der Schmerz und Lust?“ Ein solcher Mensch bittet still und in sich gekehrt um den „süßen Frieden“, - so wie sich das zum Beispiel bei Schubert musikalisch ereignet. Das weit ausholende, sich in diese vielfältigen Wiederholungen steigernde Pathos ist – vom lyrischen Text her gehört – ganz einfach deplaziert.


    Keine einzige von den Vertonungen dieses Gedichts, die ich kenne, geht kompositorisch in dieser Weise mit der lyrischen Sprache um, wie Liszt das in diesem Lied tat. Schubert mit seinem kompositorischen Ansatz der Umwandlung von lyrischem Text in musikalischen schon gleich gar nicht. Aber auch Hugo Wolf oder Hans Pfitzner tun das nicht (Reichardt und Zelter lasse ich mal außen vor). Die Vertonungen des Gedichts von Ernst Pepping und Winfried Zillig kenne ich nicht. Auf das Lied von Alexander Zemlinsky werde ich demnächst eingehen.


    Und nun ist ein für diesen Thread wichtiger Sachverhalt anzumerken:


    Liszt hat selbst gewusst, dass seine frühen Liedkompositionen „problematisch“ waren. Anfang der fünfziger Jahre schrieb er in einem Brief an den Komponisten Josef Dessauer: „Meine frühen Lieder sind meistens zu aufgebläht sentimental, und häufig zu vollgepfropft in der Begleitung.“ Daher also seine vielfältigen späteren Bearbeitungen früher Kompositionen.


    Die Fassung des Liedes „Der du von dem Himmel bist“, die ich hier besprochen habe, stammt, wie schon gesagt, aus dem Jahre 1856. Es ist also nicht die letzte. Die letzte Fassung, aus dem Jahr 1860, klingt auf eine fast verblüffende Weise anders. Obgleich die melodische Linie der Singstimme in ihrer Grundstruktur erhalten geblieben ist, meint man, ein gänzlich neues, von der zweiten Fassung fundamental verschiedenes Lied zu hören.


    In der Klavierbegleitung finden sich ausschließlich Akkorde im Diskant, die eine harmonische Modifizierung durch die melodischen Bewegungen im Bass-Bereich erfahren. Sie bestehen – auch das ein Element der musikstrukturellen Schlichtheit, ja Askese dieses Liedes – bis auf zwei Takte am Ende des Liedes durchgängig aus Einzelnoten.


    Die melodische Linie bewegt sich über diesen schweren, in ihrer harmonischen Modifikation sich nur ganz langsam entfaltenden Akkorden überaus müde, mit nur geringen Tonintervallen und in einer durchweg bogenförmigen Gestalt, bei der die Abwärtslinie dominiert.


    Die vielen Wiederholungen der zweiten Fassung sind wie weggeblasen. Nur der Vers „Was soll all der Schmerz und Lust“ wird wiederholt, und das mit einer überaus eindringlichen, in kleinen Sekunden sich nach oben bewegenden melodischen Linie, die auf dem Wort „Schmerz“ mit einer punktierten halben Note innehält, um danach trotzdem noch mit einer kleinen Sekunde – wie in einer Geste der Klage – noch oben zu tendieren.


    Faszinierend – und zwar wegen seiner für Liszt geradezu unglaublichen kompositorischen Schlichtheit – ist der Schluss des Liedes. Im Klavier sind ausschließlich Akkorde in Form eines den Takt ausfüllenden ganzen Notenwertes zu hören. Sie pendeln durchgängig nur innerhalb einer harmonischen Modifikation hin und her. Die Singstimme bewegt sich bei den Worten „Komm, ach komm in meine Brust“ in langsamen Schritten über eine ganze Oktave hinunter zu ihrem tiefsten Punkt. Danach hört man sechs Mal hintereinander nichts anderes als diese akkordische Pendelbewegung im Klavier. Zuerst im dreifachen, in den beiden letzten Takten dann im vierfachen Pianissimo.

  • Es ist, gerade wenn man gesehen und gehört hat, wie Franz Liszt das Gedicht „Wanderers Nachtlied“ in der ersten Begegnung mit ihm kompositorisch auffasste, hochinteressant, einmal zu vergleichen, wie ein Komponist des 20. Jahrhunderts dieses Lied musikalisch gelesen hat. Aus diesem Grund habe ich ganz bewusst eine Besprechung der Vertonung dieses Liedes durch Alexander Zemlinsky in den zugehörigen Thread gestellt.


    Es ist unüberhörbar: Zemlinsky ist dem Geist dieses Gedichts kompositorisch ungleich näher als Franz Liszt, - in der Fassung des Liedes von 1856 jedenfalls. Keine einzige Wiederholung bei Zemlinsky. Die lyrische Sprache artikuliert sich in einer schlichten, allerdings atonal geführten melodischen Linie. Einzig beim letzten Vers leistet er sich eine Dehnung auf einem melodischen Bogen. Ansonsten tritt Goethes Sprache mit wunderbarer Klarheit und lyrischen Expressivität aus dem musikalischen Körper des Liedes hervor.


    Mich beschäftigt die Frage, warum Franz Liszt bei seinen ersten Vertonungen von „Wanderers Nachtlied“ einen derartig exzessiv-emotionalen Zugriff auf den lyrischen Text unternahm. Spielen hier biographische Faktoren eine Rolle? Oder ist es der Zeitgeist, der sich hier musikalisch artikuliert?


    Ich vermute, dass beides der Fall ist. Die große pathetische Geste lag damals im Musikleben gleichsam in der Luft. Fischer-Dieskau meint hierzu, - in einer noch weiterführenden Überlegung:


    „Der Zug der zeitgenössischen Kunst in die große Geste äußert sich darin, dass der Komponist (hier also Liszt) sich allmählich vom rein Klavieristischen, zum Teil Virtuosen der Begleitung löst, zu orchesterfarbenen Ersatz-Auszügen hin.“

    In der Tat sind ja über zwanzig Klavierlieder von Liszt später zu Orchesterliedern kompositorisch umgearbeitet worden. Was die ganz persönlichen Motive anbelangt, die Liszt zu einem solch hochemotionalen kompositorischen Umgang mit dem lyrischen Text bewogen haben mögen, so wage ich noch keine Aussage. Ich werde dieser Frage aber weiter nachgehen.

  • Dieses Lied auf das berühmte Gedicht von Goethe entstand 1848 und lag 1859 in seiner endgültigen Fassung vor. „Lento e molto tranquillo“ ist es überschrieben. Es steht in G-Dur und weist einen Viervierteltakt auf.


    Ein feierlicher, fast choralartiger Ton wird schon in der Klaviereinleitung angeschlagen. Im Pianissimo „una corda“ baut sich ein Akkord auf. Die melodische Linie der Singstimme setzt mit einer überaus einfachen Bewegung ein. Die Silben „Über allen“ werden auf einem Ton, einem „a“, deklamiert. Bei „Gipfeln“ steigt die melodische Linie, wieder syllabisch exakt, zu einem „d“ auf, fällt dann danach aber wieder auf das „a“ zurück, von dem sie ausging. Einfacher geht es kaum, und man fühlt sich hier ein wenig an das Lied Schuberts erinnert (das Liszt natürlich kannte!).


    Vor dem zweiten Vers erklingt ein Zwischenspiel, wieder mit choralartigen Akkorden. Die melodische Linie, die auf diesem Vers liegt, ist in ihrer Struktur der ersten ähnlich, sie wird allerdings anders harmonisiert.


    Ein wenig Bewegung kommt bei dem Vers „Kaum einen Hauch“ in das Lied. Aber es ist wirklich nur wenig, und das Zwischenspiel fängt sie auch gleich wieder auf. Auf „Die Vöglein“ liegt eine fallende kleine Sekunde, und nach einer kleinen Pause werden die Worte „schweigen im Walde“ auf einer rasch fallenden melodischen Linie gesungen. Wieder ein Zwischenspiel, - wie eine Art Ruhepunkt.


    Das „Warte nur“ erklingt in einem Quartsprung nach oben. Die Worte werden wiederholt, dieses Mal in einem melodischen Bogen. Und ein drittes Mal sind sie zu hören, wobei die melodische Linie jetzt bei dem Wort „nur“ deutlich in die Höhe steigt.


    Das Wort „balde“ danach erklingt musikalisch in markanter Weise isoliert. Auch dieses wird wiederholt, nach einem neuerlichen Klavierzwischenspiel. An die dritte Wiederholung schließt sich allerdings dann an die zunächst aufsteigende, danach aber wieder fallende melodische Linie auf den Worten „Ruhest du auch“ an.


    Auch dieser Vers wird wiederholt, jetzt aber in von Anfang an aufsteigender melodischer Linie. Den Worten „du auch“ wird dadurch ein besonderer Akzent verliehen, dass sie wieder klanglich isoliert wiederholt werden. Man denkt, nun sei das Lied zu Ende, weil auf dem Wort „auch“ ja die Tonika liegt. Dem ist aber nicht so.


    Wieder erklingen die Akkorde der Klaviereinleitung. Danach setzt die Singstimme erneut mit den Worten „Warte nur“ ein. Und sie wiederholt sie noch einmal. Man hört die Eindringlichkeit, die Liszt diesen Worten musikalisch verliehen hat.


    Und genauso eindringlich ist das letzte „ruhest du auch“ kompositorisch gestaltet. Auch hier wieder eine syllabisch exakte Deklamation auf einem nach oben gerichteten melodischen Tonschritt. In tiefer Lage wird dann, auf einem einzigen Ton, das „du auch“ noch einmal wiederholt.


    MEIN EINDRUCK
    Es ist bei diesem Lied ähnlich wie bei der zweiten Fassung von „Der du von dem Himmel bist“ (1856). Auf einen schlichten Beginn folgt eine langsame Steigerung der Expressivität hin zur großen Geste. Das geschieht in Form einer sich steigernden Komplexität der musikalischen Faktur, wobei das Element der Wiederholung eine große, ja herausragende Rolle spielt.


    Liszt will mit Hilfe dieses kompositorischen Mittels dem „warte nur“ musikalisch die Eindringlichkeit verleihen, die er aus dem Gedicht Goethes subjektiv herausgelesen hat. Und mittels der gleichen kompositorischen „Technik“ beschwört er die Ruhe, die er wohl als durchaus positive Verheißung den letzten Versen entnommen hat.


    Dass diese Verse durchaus ambivalent sind, scheint er nicht so empfunden zu haben. Es klingt kein Unterton von Bedrohlichkeit in all den Takten auf, die kompositorisch diesen Worten „Warte nur, balde / ruhest du auch! “ gewidmet sind.


    Und das sind immerhin achtundzwanzig, - von insgesamt vierundvierzig Takten des ganzen Liedes. Warum betätige ich mich hier kleinkariert als Takt-Zähler? Man kann auch aus diesem Faktum der musikalischen Faktur ablesen, worauf Liszts Liedkomposition in diesem Fall sich ausrichtet.


    Er will nicht die lyrische Sprache Goethes musikalisch aufgreifen und kompositorisch umsetzen, sondern die „poetische Botschaft“, die er dieser lesend entnimmt, mit den kompositorischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, so umfassend und so intensiv wie möglich musikalisch zum Erklingen bringen. Gefühle will er mit kompositorischen Mitteln evozieren. Das ist sein zentrales Anliegen.

  • Liszts Liedern wurde immer wieder einmal vorgeworfen, sie seien „formlos“. Man kann an diesem Lied „Über allen Gipfeln“ aus der musikalischen Faktur regelrecht „ablesen“, dass dieser Vorwurf nicht zutrifft. Und das gilt nicht nur für dieses Lied, sondern generell. Mir ist immer wieder aufgefallen, dass Liszt etwa ganz bewusst musikalische Motive in einem Lied von der Singstimme ins Klavier wandern lässt, - und umgekehrt. Wobei dies keine kompositorische Spielerei ist, sondern wesentlicher Bestandteil der musikalischen Aussage.


    Bei diesem Lied ist zum Beispiel bemerkenswert, wie Liszt kompositorisch mit den ersten Takten – der Klavierleitung und der melodischen Linie auf den Versen „Über allen Gipfeln / Ist Ruh“ umgeht. Sowohl die Vokallinie als auch die akkordische Bewegung im Klavier tauchen am Ende des Liedes wieder auf. Und zwar bei den Worten: „Balde / ruhest du auch“.


    Die melodische Linie der Singstimme ist bis auf die letzten beiden Takte identisch mit der des Liedanfangs. Auch die absteigende Terzenbewegung im Klavier taucht davor wieder auf. Dieses Mal aber wird das alles harmonisch zu Ende geführt. Die Klavierbegleitung mündet nun in die Grundtonart des Liedes, und die Singstimme tut dies auch: Mit einem Intervallsprung über eine ganze Oktave nach unten.


    Liszt will damit also mit musikalischen Mitteln suggerieren: Das anfänglich dichterisch skizzierte lyrische Bild („Ruh“ / „über allen Gipfeln“) wird am Ende beim „Du“ eingelöst. Genau diese Botschaft war ja die grundlegende Motivation für die Komposition dieses Liedes.


    Übrigens, das nur nebenbei: In den ersten Takten hört man das Gralsmotiv aus Wagners „Parsifal“. Es ist nicht das einzige Mal, dass Liszts Freund, „Kollege“ und späterer Schwiegersohn sich bei diesem musikalisch „bedient“ hat.

  • Natürlich fühlt man sich, wenn man sich mit dieser Liedkomposition von Liszt beschäftigt, zu einem Vergleich mit dem berühmten Lied Schuberts regelrecht gedrängt. So ging es auch mir, wobei mich weniger die Frage beschäftigte, welches Lied nun eigentlich das „bessere“ von den beiden sei. Solche Fragen der „musikalischen Qualität“ sind höchst heikel, weil sehr viele subjektive Faktoren der Rezeption von Musik mit ins Spiel kommen. Obwohl sie natürlich Quelle eines höchst interessanten diskursiven Prozesses hier im Forum sein könnten.


    Mich interessierte der Unterschied im kompositorischen Umgang mit dem Gedicht Goethes. Und hier kann man, ohne dass nun ein detaillierter liedanalytischer Vergleich angestellt werden soll, einiges über die jeweiligen kompositorischen Intentionen erkennen.


    Man kann es auf einen Nenner bringen: Während Schubert kompositorisch eng dem lyrischen Text folgt, ihn gleichsam unmittelbar in musikalischen Text verwandelt, geht es Liszt um die musikalische Suggestion von Ruhe.


    Schubert will den lyrischen Text in die Bewegung einer melodischen Linie einbetten und ihn in der Aussage der lyrischen Sprache musikstrukturell abbilden. Liszt geht es nicht um die Entfaltung einer zusammenhängenden melodischen Linie, sondern um die kompositorische Gestaltung melodiöser Inseln, die musikalisch Ruhe suggerieren.


    Bei Schubert bewegt sich die melodische Linie der Singstimme, durchweg getragen von Achteln und nachschlagenden Synkopen im Klavier, langsam nach oben hin zu dem Punkt, der auch im lyrischen Text eine Art innehaltendes Ruhen bildet: Zu dem Wort „kaum“. Dieses Wort wird durch den dreifachen „Anlauf“ auf der gleichen Note bei „spürest du“, die nachfolgende kleine Sekunde und die punktierte Viertelnote, die auf ihm liegt, musikalisch deutlich hervorgehoben. Das ist es, was ich mit der Formulierung „Umwandlung von lyrischen in sprachlichen Text“ (die nicht von mir, sondern von Thr. Georgiades stammt) meine.


    Liszt verfährt völlig anders. Man kann es hören, und ein Blick in die Noten lässt es einem unmittelbar ins Auge springen. Die einzelnen lyrischen Wortgruppen sind gleichsam in Klavierklänge „eingepackt“ , die zusätzlich den klanglichen Ausdruck verstärken und akzentuieren sollen, der ihnen an sich schon innewohnt.


    Nach dem Vorspiel mit den aufsteigenden und im letzten Schritt wieder fallenden Akkorden im Klavier erklingt die melodische Linie auf den Worten „Über allen Gipfeln / Ist Ruh“. Und danach setzt das Klavier seine akkordische Bewegung aus dem Vorspiel fort. Auch auf die nächste Wortgruppe „In allen Wipfeln spürest du / Kaum einen Hauch“ folgt wieder ein Klavierzwischenspiel, bei dem im Diskant die melodische Bewegung der Singstimme in den beiden davorliegenden Takten wiederholt und damit in ihrem Ausdruck verstärkt wird.


    In dieser Weise, in der Bildung von gleichsam insulären Klangstrukturen, die mit musikalischen Mitteln Ruhe evozieren – zumal ja die Singstimme sich ja äußerst langsam und in geringen Tonintervallen bewegt – ist das ganz Lied kompositorisch angelegt. Und alles ist in dieser Form auf das „Warte nur“ ausgerichtet, das das eigentliche Ziel darstellt.


    Die Wandlung in der Grundhaltung des Komponisten und in der daraus sich ergebenden kompositorischen Intention ist diejenige, die letzten Endes für das Phänomen verantwortlich zu machen ist, das ich im Thread „Sprache und Musik im Lied“ als „Musikalisierung des Kunstliedes“ bezeichnet und an Beispielen konkretisiert habe. Liszt ist ebenfalls ein Repräsentant dieser Musikalisierung.

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  • Am 30. Oktober 2011 gab Jonas Kaufmann am Klavier begleitet von Helmut Deutsch einen Liederabend in der Metropolitan Opera in New York.
    Ich muß gestehen ich war ein wenig überrascht, denn das Haus war komplett ausverkauft.
    Er sang neben Mahlers 5 Rückert Liedern, 4 Lieder von Duparc , 5 Lieder von Richard Strauss und zu beginn von Franz Lizst die Lieder: Vergiftet sind meine Lieder / Im Rhein, im schönen Strome / Freudvoll und liedvoll / Der König von Thule / Ihr Glocken von Marling und Die drei Zigeuner.
    Der Kritiker der New York Times sprach Jonas Kaufmann einen Mangel an Autorität für Liederabende zu.
    Das konnten weder ich noch die Gäste dieses Abends so empfinden, zumal er noch 5 Zugaben gab ( 4 von Richard Strauss und Dein ist mein ganzes Herz.
    Übrigens pünkliches Erscheinen scheint in Amerika keine beliebte Tugend zu sein ( kein Wunder das das Land finanziell am Ende ist ), denn die Gäste kamen noch nach dem ersten Liederblock.

  • Jonas Kaufmann mag ein bedeutender Sänger sein, - ich kann mir kein Urteil über diese seine Fähigkeiten erlauben. Aber nun denke ich:


    Wenn einer ein einen Liederabend mit einem solchen Programm veranstaltet - ich meine die Titel der Lieder und ihre Inhalte - dann ist das Urteil des Kritikers der New York Times wohl durchaus berechtigt.


    Das ist ganz offensichtlich ein "bunter Abend" in Sachen Kunstlied gewesen.


    Wenn Du dabei warst, lieber Sven Godenrath, dann würde mich, da dies ja ein Liszt-Thread ist, zum Beispiel Dein Urteil über das Liszt-Lied "Die drei Zigeuner" interessieren. Oder über eines der anderen Liszt-Lieder, die von Jonas Kaufmann gesungen wurden, - in welcher interpretatorischen Qualität auch immer.

  • Lieber Helmut Hofmann!


    Den Gefallen hätte ich dir gern getan und wäre gern näher auf die interpretatorischen Fähigkeiten Jonas Kaufmanns in der Ausformung und Interpretation von Lizst Lieder eingegangen.
    Bedauerlicherweise fehlen zumindest mir in meiner Sammlung die Vegleichsaufnahmen mit Karl Erb, Julius Patzak und Josef Traxel in dessen Nähe ich ihn sehe um mir hier ein Urteil erlauben zu können.
    Da er sich den Liedern eher mit baritonalen Timbre genähert hatte, hatte ich dann gehofft bei Fischer-Dieskau, Thomas Hampson, Gerard Souzay und Marko Rothmüller fündig zu werden.
    Leider auch hier Fehlanzeige, die von Jonas Kaufmann gesungenen Lieder konnte ich bei mir nicht finden.
    Statt dessen fand ich zur genüge " Es muß ein wunderbares sein ", nur dieses Lied wurde an diesem Abend leider nicht gesungen.
    Aus diesem Grunde ist es mir leider nicht möglich hier ein qualifiziertes Urteil über den Lizst Block abzugeben.


    Jonas Kaufmann besitzt im Liedgesang eine Stärke, die ihn von anderen Sängern abhebt und das sein ganz spezielles Timbre,wenn er ins Piano oder Pianissiomo geht, dann bekommt seine Stimme dieses individuelle Stimmtimbre, das ihn von anderen Sängern unterscheidet und jede Liedausformung zu etwas ganz besonderem, ich möchte sagen speziellem macht ( im positiven Sinne ).

  • Ob er Lieder singen kann, so höre man sich diese beiden Aufnahmen an. Leider nicht von Liszt.




    Wem das gefällt, dem gefällt sicherlich auch der Liederabend an der MET. Ich habe vom Liedgesang leider andere Vorstellungen (Schreier, Wunderlich, Blochwitz). Die haben Aufnahmen der Schönen Müllerin vorgelegt, die in einer anderen Liga spielen. Aber das ist nur eine Einzelmeinung.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • "Aus diesem Grunde ist es mir leider nicht möglich hier ein qualifiziertes Urteil über den Lizst Block abzugeben."

    Das ist mein Problem, lieber Sven Godenrath. Ich ahnte ja, dass es auf mich zukommen würde, dennoch habe ich natürlich insgeheim gehofft, dass da und dort sich eine CD im Schrank finden würde und man hier etwas über die Hörerfahrungen lesen könnte. Aber ich danke Dir dennoch für Deine Antwort auf meine Bitte.


    Ich hätte halt so gerne mal ein - ganz spontanes und gar nicht sonderlich reflektiertes! - Urteil über Lieder von Franz Liszt gehört. Ich beschäftige mich zwar mit diesen und mit ihrem Schöpfer zur Zeit recht intensiv, komme aber dabei noch nicht zu einem klaren Urteil. Einerseits finde ich viele Lieder von Liszt kompositorisch höchst gelungen, auf der anderen Seite - und das ist seltsam - bleibt keines von ihnen bei mir wirklich so hängen, dass ich es noch höre, wenn ich weitab von meinen Platten, CDs und Noten bin.


    Fischer-Dieskau hat übrigens "Die drei Zigeuner" durchaus in seine Aufnahme von Liszt-Liedern, die ich weiter oben erwähnte, aufgenommen. Aber auch sein Verhältnis zu den Liedern Liszts ist auffällig ambivalent. Auf der einen Seite hält er sie für bedeutsame Leistungen in der Geschichte der Liedkomposition, auf der anderen aber hat er - soweit ich weiß - nie einen Liederabend mit ihnen bestritten.


    Einerseits sagt er: "Sie (die Lieder Listzs) sind ausgezeichnet für die Stimme geschrieben. Ich glaube überhaupt, daß Liszt in jeder Beziehung klangbewusst gewesen ist, daß er nicht nur beim Klavier die äußersten Möglichkeiten ausgeschöpft hat, den Klang durch vielfältige Farben zu bereichern.


    Andererseits findet man bei ihm aber auch das Bekenntnis, er habe keine Liszt-Lieder in ein anderes Programm aufnehmen wollen, denn "weder Liszt soll verlieren noch Schubert oder Schumann durch ihn gestört werden."


    Hierbei wundere ich mich besonders über das Wort "gestört". Was meinte er damit? Hat das mit der Tatsache zu tun, dass, wie ich in meiner Einleitung zu diesem Thread sagte, die Lieder Liszts aus meiner Sicht nicht in der direkten Nachfolge jener liedkompositorischen Linie stehen, die von Schubert und Schumann aufgebaut worden ist?

  • Das ist doch mal ein wirklich sehr schöner Thread! Vor allem Helmuts Beiträge lese ich in ihrem Anliegen der Vertiefung mit viel Interesse! Liszts Lieder haben glaube ich, was die Rezeption angeht, zwei Hemmschwellen zu überwinden: Sie passen eiinmal in keine Gattungstradition, vereinigen die Tradition des lyrischen Kunstliedes und des Musikdramas, der Oper. Das fordert dem Interpreten viel ab. Deswegen bedauere ich auch, daß die Aufnahme von Margerete Price nicht mehr zu bekommen ist, die ich zum Glück noch besitze. (Auch Brigitte Faßbaender ist ganz ausgezeichnet) Der andere Grund liegt in der immer noch vorhandenen Geringschätzung des italienischen Belcanto, dem Einfluß von Bellini. Bartok, der ansonsten ein großer Liszt-Bewunderer war, empfand alles, was bei Liszt nach italienischer Oper klingt, als banal. (Unter diesem Vorurteil haben auch Chopins Lieder zu leiden, die eben deshalb immer noch als minderwertig eingestuft werden. ) Liszts Liedvertonungen folgen einem ästhetischen Prinzip, das man erkennen kann, wenn man sich mit dem Musikschriftsteller und Ästhetiker Liszt beschäftigt. "Ausdruck" versteht er als den eines "Inhalts", als die Erweiterung und Sprengung des engen Formkorsetts. Entsprechend vertont er viele Gedichte gleichsam gegen den Strich, bricht die Formen dynamisierend auf, anstatt die Gedichtform durch die musikalische Phrasierung zu spiegeln. Dieses Verfahren hat er zu einer in den gelungensten Beispielen unglaublichen Kunstfertigkeit entwickelt, wie etwa in den Petrarca-Sonnetten. Ich finde, Liszts Lieder bieten eine schier unerschöpfliche Entdeckungsreise und wie immer vieles Ungewöhnliche, wie etwa das Melodram "Der traurige Mönch". Die verschiedenen Versionen zeugen zudem davon, daß Liszt ein sehr moderner, experimenteller Komponist war. Spannend ist natürlich auch Liszts Verwandlung mancher Lieder in Lieder ohne Worte wie bei den Liebesträumen oder Petrarca-Sonnetten.


    Beste Grüße
    Holger

  • Bedauerlicherweise fehlen zumindest mir in meiner Sammlung die Vegleichsaufnahmen mit Karl Erb, Julius Patzak und Josef Traxel in dessen Nähe ich ihn sehe um mir hier ein Urteil erlauben zu können.


    Lieber Sven, in dieser Nachbarschaft würde ich Jonas Kaufmann nicht verorten. Dafür ist er doch zu schwer, zu dunkel. Alles Leichte, Durchsichtige, Feine, das sich mir mit den Genannten verbindet, finde ich bei Kaufmann nicht. Und sollte es mit Traxel wirklich Liszt-Lieder geben? Trotzdem schätze ich Dein Urteil sehr und werde weiter darüber nachdenken. Ich habe eben die Aufzeichnung eines Berliner Liszt-Konzerte unter Barenboim mit der Faustsymphonie und dem seltenen 13. Psalm gehört. Solist ist Kaufmann, und ich finde meinen Eindruck auch bei dieser Gelegenheit bestätigt, wenngleich es sich hier nicht um Lieder handelt. Das ist mir völlig klar. Deshalb gilt der Vergleich auch nur eingeschränkt. Den New Yorker Liederabend hätte ich schon gern gehört - wegen Liszt. Allerding kann ich mir die Met als Kulisse für Liederabenden mit Klavier am allerwenigsten vorstellen. Trotz der ordentlichen Akustik.


    Eine interessante Quelle für historischen Liszt die so gegannte Raucheisenedition. Auf CD 17/18 sind folgende Titel versammelt:


    Die tote Nachtigall - Berger, Erna
    Wie entgeh'n der Gefahr - Berger, Erna
    Der König in Thule - Bockelmann, Rudolf
    Fried' ist versagt mir - Erb, Karl
    Sei gesegnet immerdar - Erb, Karl
    So sah ich denn auf Erden - Erb, Karl
    Wanderers Nachtlied I - Hotter, Hans
    Wer nie sein Brot mit Tränen as - Hotter, Hans
    Klärchens Lied I - Leisner, Emmi
    Und sprich - Leisner, Emmi
    Wo weilt er - Lemnitz, Tiana
    Der Glückliche - Nissen, Hanns-Heinz
    Die drei Zigeuner - Nissen, Hanns-Heinz
    Jugendglück - Nissen, Hans-Heinz
    Der Fischerknabe - Piltti, Lea
    Der Hirt - Pitzinger, Gertrude
    Die Fischerstochter - Pitzinger, Gertrude
    Die Fischertochter - Pitzinger, Gertrude


    Selbst komme ich erst jetzt ausführlich und mit wachsender Erbauung auf Franz Liszt. Jubiläen haben also auch mal ihr Gutes. Sie geben Anstöße. Im Falle Liszt ist das auch nötig. Er führt völlig zu Unrecht dieses Schattendasein.


    Dir, lieber Helmut, möchte ich meinen Respekt zollen für Deine exzellenten Analysen und Beschreibungen. Ich gewinne sehr viel daraus. Da Du auch gängige Vorurteile aufgreifst und Dich mit ihnen auseinandersetzt, kann ich auch meine eigenen falschen Auffassungen korrigieren. Mir tut es immer ganz besonders gut, vorgefasste Meinungen durch bessere Argumente und Einsichten zu überwinden. Ganz herzlichen Dank und bitte weitgermachen.


    Lieben Gruß von Rüdiger

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Über Deinen Beitrag, lieber Holger, habe ich mich sehr gefreut. Und das gleich aus mehreren Gründen. Zunächst einem ganz simplen: Ich komme mir hier nicht mehr so allein vor. Dann aber aus dem viel wichtigeren: Dein Beitrag bestätigt nicht nur einiges von dem, was ich zum Thema Liszt-Lieder schon ausführte in seiner Richtigkeit, er bringt wichtige neue Aspekte in diesen Thread und trägt damit aus meiner Sicht ganz wesentlich zum Verständnis der Lieder Liszts bei.


    Nicht zu allen diesen Aspekten kann und möchte ich Stellung nehmen (was ja auch gar nicht nötig ist), wohl aber zu diesem, den ich als Zitat bringe, weil er mein zentrales Anliegen hier betrifft:


    "Ausdruck" versteht er als den eines "Inhalts", als die Erweiterung und Sprengung des engen Formkorsetts. Entsprechend vertont er viele Gedichte gleichsam gegen den Strich, bricht die Formen dynamisierend auf, anstatt die Gedichtform durch die musikalische Phrasierung zu spiegeln."


    Das trifft, sehr präzise formuliert, in der Tat den Kern der kompositorischen Grundhaltung Liszts in Sachen "Kunstlied". Man kann diese besonders gut fassen, wenn man die verschiedenen Fassungen einzelner Lieder miteinander vergleicht. Da sieht (und hört) man nämlich, wie er mit dem Problem gerungen hat, Wort und Musik miteinander zu "versöhnen". Ich würde aus der Perspektive Schuberts und Schumanns eigentlich eher sagen: Miteinander in Einklang und in eine Interdependenz zu bringen.


    Damit hatte Liszt nämlich sein ganzes Komponistenleben lang Probleme, - was ihm Richard Wagner übrigens vorgehalten hat! Beide vertraten ja die Idee der "Erneuerung der Musik durch den Geist der Poesie". Aber Liszt ist das eher im Bereich der sinfonischen Musik gelungen als in dem des Liedes. Da lässt sich nämlich ein eigentümliches Ringen beobachten. Man kann es zum Beispiel an den von mir hier vorgestellten Fassungen des Liedes "Der du von dem Himmel bist" erkennen.


    Im ersten Anlauf komponiert er nicht nur gegen den Geist des Gedichtes von Goethe, er setzt sich sogar regelrecht kühn über dessen Wortlaut hinweg und zitiert falsch. Von der ersten Fassung her betrachtet, erringt in der zweiten die Musik sozusagen den Sieg. Allerdings wieder ganz und gar nicht im Einklang mit der Aussage des lyrischen Textes. Erst in der dritten Fassung bringt er Musik und lyrisches Wort in Einklang. Aber dieser "Einklang" ist nicht jene Synthese, die Schubert oder Schumann gelungen ist.


    Mit Synthese meine ich jene wechselseitige Befruchtung und Potenzierung von Wort uns Musik, wie sie bei diesen zu hören und zu bestaunen ist. Ich würde, nach dem jetzigen Stand meiner Kenntnisse des Liedwerks von Liszt sagen: In seinen wirklich gelungenen Liedern - und das ist eine beachtliche Zahl - ereignet sich eine Inspiration der Musik durch Lyrik. Und dies in dem Sinne, dass beide miteinander in Einklang stehen und keine die jeweils andere verbiegt oder gar verfälscht.


    Wenn man nicht mit den an Schubert und Schumann geschulten und geprägten Ohren an diese Lieder hörend herangeht, dann entfalten sie einen ganz eigenen Zauber. Sie stellen eben tatsächlich und in ihrer besten Form "musikalisierte Kunstlieder" dar.

  • Deinen Beitrag, lieber Rüdiger, habe ich eben erst gesehen. Deshalb so spät meine Reaktion darauf.


    Über diese so große und fette Anrede bin ich erst einmal ein wenig erschrocken, weil ich meinen Namen nicht gern so groß gedruckt sehe. Aber dann habe ich den Satz gelesen:


    "Selbst komme ich erst jetzt ausführlich und mit wachsender Erbauung auf Franz Liszt."


    Und er hat mich nun wirklich erfreut. Denn ich lese darin und erkenne daraus, dass dieser Thread einen Sinn hat.

  • Lieber Helmut Hofmann


    Statt mich hier zu beteiligen, möchte auch ich Dir für diesen "Jahrhundertthread" danken, der mich (und vermutlich hundertte andere nur- Mitleser) auf Liszts Liederkompositionen aufmerksam gemacht hat.
    Nach dem hineinhören in ein paar jpc- Tonschnippsel hatte ich die Illusion mir schon ein Bild machen zu können - Weit gefehlt. Liszts Liedschaffen ist weit breiter gestreut als man je vermuten möchte. Das musste ich schnell erkennen, nachdem ich mir die erste Liszt Lieder-CD für meine Sammlung gekauft und abgehört hatte.

    "Oh wie lyrisch - das hätte ich nie vermutet" war mein Eindruck als ich die ersten Töne des ersten Liedes "Kling leise mein Lied" in der Aufnahme mit Matthew Polenzani (Siehe Bild) gehört hatte.
    Ich wurde aber im Laufe der Hörsitzung immer wieder überrascht, überrascht durch Lieder die italienische Opernarien hätten sein können, durch Lieder voll Expressivität, bis hin zum Unangenehmen, und durch Lieder die mich (entfernt) an Tosti und Zeitgenossen erinnerten. Ich bin aber sicher, daß es hier noch mehr zu entdecken gibt, Mehr, als auf dieser einen CD enthalten ist - und natürlich auch anders interpretiert - wenngleich ich sofort Gefallen an Polanzanis Timbre gefunden habe. Man muß sich aber hier stets die Frage stellen, was es denn ist, daß mich beeindruckt: Polanzanis Timbre - oder die Lieder von Liszt ?
    Irgendwo wurde auch die Frage nach der "Bedeutung" Lisztscher Lieder gestellt.
    Diese Frage kann und will ich natürlich nicht beantworten - aber immerhin glaube ich sagen zu können, daß es sich hier um hörenswerte Kompositionen handelt.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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