Ich habe da ein Problem
In mehreren Beiträgen zu diesem Thread wird die Bedeutung der Mahler-Interpretationen Bernsteins hervorgehoben. Zuletzt schreibt madize hier:
Dann natürlich die Mahler-Sinfonien in einer wunderbar packenden und klangschönen Art mit Sinn für die dem Komponisten eigene Klangwelt:
Ich selbst habe mich in meinen beiden Threads zu den ersten beiden Sinfonien und zum "Lied von der Erde" (Gustav Mahler. Zur Rolle und Funktion von Liedmusik in seiner Sinfonik und Gustav Mahler: „Das Lied von der Erde“ ) auf die Interpretationen dieser Werke durch Leonard Bernstein gestützt, weil ich darin die Partitur auf treffende Weise wiedergegeben fand und mir darin der Geist von Mahlers Musik auf eine zutiefst anrührende Weise begegnete.
Und nun höre ich dieses und gebe es nachfolgend noch einmal als Text wieder:
Michael Gielen über Leonard Bernsteins Mahler-Interpretation:
"Er ist total unsachlich. Er überträgt seine privaten Emotionen in die Interpretation der Musik. Es ist ihm also, fürchte ich, eine eigene Emotionalität wichtiger als die Partitur.
Ich glaube, es ist ein gigantisches Missverständnis, dass diese große Mahler-Renaissance gerade mit Bernstein anfängt, weil Bernstein eben sentimentalisiert hat und übertrieben hat, er hat alles übertrieben. Und eben deshalb hört man Bernsteins Mahler, aber nicht den Inhalt der Partitur, zum großen Teil.
Einiges gelingt ihm in mirakulöser Weise, zum Beispiel das Finale der Siebenten, einer der problematischsten Sätze, wegen dieser Affinität zu den Meistersingern.
Der Klang in der Siebenten Mahler weist ja viel mehr auf moderne Musik, auf die spätere Moderne, auf die gleichzeitigen Kompositionen von Schönberg und Berg hin, als man bei Bernstein annehmen würde, der ja gerade die regressiven Elemente bei Mahler unterstreicht. Deshalb der große Erfolg.
Dass bei Mahler die Inhalte des zwanzigsten Jahrhunderts, also die Zerrissenheit des Menschen und die Zerrissenheit der Gesellschaft Hauptinhalte sind, die komponiert werden, die auskomponiert werden, daran dirigiert der auch von mir bewunderte (wegen anderer Sachen) glatt vorbei. Und nicht nur er."
Studiert man Bernsteins Äußerungen über Gustav Mahler, so stößt man auf solche:
"Ich verstehe seine Partituren auf eine sehr persönliche Weise, vermutlich weil viele seiner Probleme auch meine sind. Ich habe von Zeit zu Zeit das Gefühl, dass ich Mahler Symphonien selbst komponiert habe. Er hatte Visionen, ich habe auch welche, Und ich kenne auch seine Zerrissenheit. Wie er bin ich hin- und hergerissen zwischen Jude und Christ, zwischen Provinzler und Bohemien, zwischen Dirigent und Komponist ... und ein wenig depressiv bin ich auch."
Und:
"Man kann keine drei Takte von Mahlers Musik dirigieren, ohne etwas von sich selbst zu geben. Jede Wendung, jeder Ausbruch, jede Temposteigerung ist so intensiv, dass die Musik mit der größten Anteilnahme ausgeführt werden muss."
Rainer Küchl, Violinist der Wiener Philharmoniker, berichtet von einer Probe der Neunten Symphonie:
"Lenny hat uns alle mitgerissen. Am Ende der Neunten Mahler kniete er plötzlich nieder, die Tränen schossen ihm über die Wangen. (...) Dennoch war die Probenarbeit schwierig gewesen, >Ja, Sie können die Noten lesen, das weiß ich<, meinte der Maestro, >aber das ist nicht Mahler, das Mahler-Feeling fehlt. Jedes Tempo muss das Maximum sein."
All das macht mich nachdenklich, - auf dem Hintergrund der Äußerungen von Michael Gielen.
Und das tut auch meine vergleichende, auf der Grundlage der Partitur gleichsam exemplarisch erfolgende Betrachtung des ersten Satzes der Neunten Symphonie anhand dieser beiden Aufnahmen:
Und was jetzt?
Was ist dran an Michael Gielens Kritik?
Kann man sie einfach abtun mit dem Wissen, dass sie aus einem wesentlich von Theodor W. Adorno geprägten Verständnis von Mahlers sinfonischer Musik kommt und einer Ausrichtung auf den Aspekt "Moderne bei Mahler", aus der sich der Vorwurf der "regressiven" Interpretation bei Bernstein ergibt?